Sonntag, 30. Juni 2019

Oskar und die Dame in Rosa, Eric-Emmanuel Schmitt


Oskar ist zehn Jahre alt, leidet an Leukämie und weiß, dass er bald sterben wird. Alle wissen es, aber niemand will es ihm sagen, auch seine Eltern nicht. Zum Glück gibt es Oma Rosa, eine nette Dame und ehemalige Catcherin im Krankenhaus. Oma Rosa nimmt kein Blatt vor den Mund. Mit ihr kann Oskar reden. Oma Rosa schlägt Oskar vor Briefe an Gott zu schreiben.  

„Du würdest dich nicht so einsam fühlen.“
„Nicht so einsam wegen jemandem, den es gar nicht gibt?“
„Dann sorg dafür, dass es ihn gibt.“
Sie beugte sich zu mir rüber.
„Jedesmal, wenn du an ihn glaubst, wird es ihn ein bisschen mehr geben. Und wenn du dranbleibst, wird er ganz und gar für dich da sein. Und er wird dir Gutes tun.“ (S. 20)

Oskar befolgt diesen Rat. Und Oma Rosa hat noch eine gute Idee. Sie schlägt Oskar vor, jeden Tag so zu behandeln, als wären es zehn Jahre seines Lebens. So kann Oskar in wenigen Tagen ein ganzes Leben mit vielen Phasen durchleben: die Pubertät, die Midlife-Crisis, das Alter. Oskar versteht mehr und mehr, was die wirklich wichtigen Begriffe im Leben sind, die man in keinem Lexikon nachschlagen kann: Leben, Tod, Glaube und Gott.

Dieses kurze Buch, das aus Oskars Briefen an Gott besteht, hat es in sich. In wenigen Tagen setzt sich Oskar mit dem Leben auseinander. Er spricht alles aus, spricht alles an. Und er macht Erfahrungen mit den Menschen um ihn herum. Er ist dabei durchaus heiter, meistens jedenfalls. Die Erwachsenen genieren sich weit mehr als Oskar, die wichtigen Dinge anzusprechen. Und so schafft Oskar es sogar anderen Mut zu machen.

Dieses Buch treibt einem zuerst die Tränen in die Augen, dann ein Lächeln aufs Gesicht. Wenn wir nur alle dem Leben so direkt begegnen könnten.

Oskar und die Dame in Rosa, Eric-Emmanuel Schmitt, aus dem Französischen von Annette und Paul Bäcker, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2005, 112 Seiten, 11,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Samstag, 29. Juni 2019

Liebe Kitty, Anne Frank


Jeder kennt das Tagebuch der Anne Frank. Aber wusstet Ihr, dass Anne Frank in ihrem Versteck einen Romanentwurf geschrieben hat? Sie hat im Jahr 1944 ihr spontan niedergeschriebenes Tagebuch zu einem Briefroman umgearbeitet, den sie nach dem Krieg unter dem Titel „Das Hinterhaus“ veröffentlichen wollte. Zum ersten Mal erscheint aus Anlass ihres 90. Geburtstags in diesem Jahr eine Ausgabe, die nur diesen (unfertigen) Romanentwurf enthält. Das wurde auch Zeit!

Das Nachwort des Romans - geschrieben von Laureen Nussbaum, einer Jugendfreundin von Anne - berichtet über die verschiedenen Versionen von Anne Franks Tagebuch, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte. Ich habe „das Tagebuch“ als Teenager in den 1980er Jahren gelesen und dachte, dass es nur ein einziges gäbe. Die von mir gelesene Ausgabe war die von Annes Vater Otto Frank im Jahr 1947 erstmals in niederländischer Sprache veröffentlichte und später ins Deutsche übersetzte Version des Textes. Otto Frank hat in dieser ersten Ausgabe eine Mischung aus dem Originaltext des Tagebuchs und dem später geschriebenen Romanfragment gebildet. Dieser Umstand ist wohl erst nach Otto Franks Tod 1980 entdeckt worden, nachdem die Originalhandschriften dem niederländischen Staatsinstitut für Kriegsdokumentation übergeben worden waren. Erstmals 1986 wurde eine textkritische Ausgabe auf Niederländisch veröffentlicht, die alle drei Versionen einander direkt gegenüberstellt, nämlich das spontan niedergeschriebene Tagebuch als Version A, das Romanfragment als Version B und den daraus von Otto Frank gemischten Text als Version C. Das hier besprochene Buch „Liebe Kitty“ enthält nur die Version B in einer neuen deutschen Übersetzung von Waltraud Hüsmert.

Inhaltlich unterscheidet sich der Roman deutlich vom spontan niedergeschriebenen Tagebuchtext (Version A). Das Tagebuch hat Anne Frank von 1942 bis 1944 jeweils spontan niedergeschrieben und zwar ausdrücklich nur für sich selbst. Niemand anders sollte es je lesen. Im März 1944 hörte Anne im Radio, dass ein niederländischer Minister aus dem Exil seine Landsleute zur Aufbewahrung von Briefen und Tagebüchern aus der Kriegszeit aufforderte, um Zeugnis über diese Zeit abzulegen. Es war schon vorher Annes sehnlicher Wunsch gewesen, nach dem Krieg Journalistin und eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Daher begann sie im März 1944 mit einer literarischen Umarbeitung ihres Tagebuchs. Bis zur Entdeckung der Familie Frank im August 1944 schrieb sie 215 Seiten und kam mit dem Romantext bis zum März 1944.

Wie im Orginialtagebuch bleibt Anne auch im Roman bei der Briefform und schreibt ihrer imaginären Freundin Kitty. Ganz deutlich schreibt sie nun aber für einen potenziellen Leser, der sie nicht kennt, und erhöht dadurch die Lesbarkeit des Textes erheblich. Sie erklärt ihre Lebensumstände, stellt ihre Familie vor und erläutert den Tagesablauf im Versteck. Sie fasst Ereignisse thematisch zusammen und lässt einiges weg, was nicht für die Ohren Dritter bestimmt ist, etwa die Veränderungen ihres Körpers in der Pubertät oder die Schwärmerei für Peter, den Sohn der zweiten Familie im Versteck. Anne hatte sich Decknamen für die versteckten Personen ausgedacht, welche in der zunächst veröffentlichten Mischversion C auch benutzt werden. Im Romanentwurf werden die echten Namen der Personen genannt (und sollten wohl bei Veröffentlichung geändert werden). Die zweite versteckte Familie erinnerte ich als Familie van Dahn. Tatsächlich hießen sie van Pels. Der zuletzt hinzu gekommene Zahnarzt heißt in der Mischversion Herr Dussel – ein von Anne bewusst genutzter sprechender Name des ihr unsympathischen Mannes. Tatsächlich hieß der Zahnarzt Herr Pfeffer.

Anne Frank hat in den mehr als zwei Jahren, die sie im Hinterhaus versteckt lebte, eine große persönliche Entwicklung durchgemacht. Im Vergleich zum Originaltext des Tagebuchs beschreibt sie den Einzug ins Versteck und die Anfangszeit dort in ihrem Roman sehr viel reflektierter. Sie baut humorvolle Elemente ein, etwa die „Hinterhaus-Versteckregeln“:

Freizeit: entfällt, sofern außer Haus, bis auf Weiteres.
Sprachgebrauch: geboten ist, jederzeit leise zu sprechen, erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch. (S. 61)

Sie nimmt ihren Anteil an den Reibereien mit den anderen Versteckten kritisch unter die Lupe, vergleicht ihre Lage mit der anderer Juden, die in Konzentrationslager verschleppt worden waren und überlegt, wie sie sich angesichts der prekären Lage im Versteck zu verhalten hat, um es für alle erträglicher zu machen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Anne bei Abfassung des Romans erst knapp 15 Jahre alt war. Auffallend sind auch Annes gewachsene literarische Fähigkeiten im Ausdruck.

Nun sind wir schon so dicht umschlossen von Gefahr und Finsternis, dass wir bei der verzweifelten Suche nach Errettung aneinanderstoßen. Wir schauen alle nach unten, wo die Menschen gegeneinander kämpfen, wir schauen alle nach oben, wo es ruhig und schön ist, und unterdessen sind wir abgeschnitten durch diese düstere Masse, die uns nicht nach unten und nicht nach oben lässt, sondern vor uns steht wie eine undurchdringliche Mauer, die uns zerschmettern will, aber noch nicht kann. Ich kann nichts anderes tun als rufen und flehen: „Oh Ring, Ring, weite und öffne dich für uns!“ (S. 131)

Ob Originaltext, Roman oder Mischform, eines bleibt in allen Versionen von Annes Tagebuch erhalten: Annes unglaublicher Lebenswille und Optimismus. Sie lebt jahrelang in permanenter Todesangst, Nahrungsmangel und ohne Sonnenlicht, wird ihrer unbeschwerten Kindheit beraubt. Trotz unvermeidlicher Depressionen bleiben ihr Fröhlichkeit und Lebensmut. Das rührt mich an ihrem Tagebuch stets am meisten! Zeitzeugen berichten, dass sie diesen Optimismus selbst im Konzentrationslager in Auschwitz und Bergen-Belsen bis zum Schluss nicht verloren habe. Was für eine beeindruckende Entwicklung hätte ihr noch bevorgestanden, wenn sie den Krieg überlegt hätte! Anne hat jedenfalls ihren Herzenswunsch erfüllt: Sie ist eine berühmte Schriftstellerin geworden. Nicht nur mit dem Tagebuch eines jungen Mädchens, sondern auch durch diesen literarisch sehr gelungenen Roman, den sie leider nicht mehr fertig stellen konnte.

Anne Franks Roman ist herzanrührend und authentisch. Ihre persönliche Entwicklung unter den schlimmen Lebensumständen ist beeindruckend und lässt mich beschämt auf meine Alltagsjammerei blicken. Anne, was bist du für eine tolle Frau!

Liebe Kitty, Anne Frank, aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019, 208 Seiten, 18,00 EUR

(Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 26. Juni 2019

Das Wochenende, Bernhard Schlink


Was geschieht, wenn dein Bruder nach 24 Jahren aus der Haft entlassen wird und seine alten Freunde wieder trifft? Ach ja, und welche Rolle spielt es dabei, dass er RAF-Terrorist war und vier Menschen umgebracht hat?

Christiane holt ihren Bruder Jörg aus dem Gefängnis ab und bringt ihn in ihr Wochenendhaus, in das sie eine Gruppe von Freunden eingeladen hat. Sie will Jörg nicht gleich mitten ins Leben stoßen, er soll sich erst einmal geborgen fühlen und Unterstützung bekommen. Ein guter Gedanke, der so leider nicht aufgeht. Das Leben ist weiter gegangen. Die Freunde von damals, die als Studenten die linke Revolution unterstützt hatten, leben jetzt ein bürgerliches Leben, haben Berufe und Familie. Alle haben sich lange nicht gesehen. Aber die alten Beziehungen und Rollen entfalten sich sofort wieder, neue Bande werden geknüpft, alte und neue Fragen tauchen auf. Wie steht Jörg heute zu seinen Taten von damals? Wer hat sein Versteck an die Polizei verraten? Was will Jörg in Zukunft machen, weiter kämpfen oder neu anfangen? Wie ist das eigene Leben zu bewerten, wenn man seine Träume nicht verwirklichen und seine Ziele nicht erreichen konnte?

Aus den ganz persönlichen Fragen entspinnen sich die großen gesellschaftlichen Fragen. Hat die RAF ihr Ziel erreicht, es anders zu machen als die Elterngeneration, die zu Mittätern des Naziregimes wurden? Oder ist Gewalt immer falsch? Ist es vertretbar Terroristen zu begnadigen?

Ein weiterer Handlungsstrang spielt sich fiktiv ab. Da gab es noch Jan, der sich vor 25 Jahren das Leben genommen hat. Oder hat er dies nur vorgetäuscht? Eine der Freundinnen, die davon träumt Schriftstellerin zu werden, spinnt Jans Leben aus, wie es hätte verlaufen können, wenn er im Untergrund weitergelebt hätte und verbindet es mit den Ereignissen des 11. September 2001. Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen linkem und islamistischem Terror? Oder ist es egal, wer die Gewalt ausübt und warum?

„Du hast mich den ganzen Abend angeschaut, als fragtest du dich, ob ich, was ich sage, eigentlich glaube. Oder ob ich bei Trost bin. Glaub mir, ich bin bei Trost und ich glaube, was ich sage. Ich frage mich umgekehrt, ob du und deinesgleichen begreift, was mit der Welt los ist. Du denkst wohl, der 11. September wäre eine verrückte Muslimkiste gewesen. (…) – die Welt braucht manchmal einen Schock, um zu Sinnen zu kommen. Wie die Menschen – mein Vater lebt nach seinem ersten Herzinfarkt endlich so vernünftig, wie er schon immer hätte leben sollen. Bei anderen braucht’s zwei oder drei.“
„Manche sterben am Herzinfarkt.“ (S. 61)

Bernhard Schlink hat ein komplexes Beziehungsgeflecht geschaffen und betrachtet den Terrorismus gekonnt von der ganz persönlichen Warte. Was macht es mit einem Menschen, wenn er gemordet hat? Und wie gehen andere damit um? In den drei Tagen des Wochenendes werden Lebenslügen entlarvt, existenzielle Fragen gestellt und Dinge ausgesprochen, die der Einzelne für die Wahrheit hält. So werden die Auswirkungen von Terrorismus für den Einzelnen beleuchtet, ohne dass die gesellschaftliche Tragweite ausgeblendet wird. Der Leser kommt nicht umhin sich selbst Fragen zu stellen. Wie würde ich mich verhalten, wenn ein mir nahestehender Mensch gemordet hätte? Wie weit wäre ich selbst gegangen, um gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu bekämpfen?

Die Zeit der RAF scheint lange zurück zu liegen. Jedoch ist das Buch aktueller denn je, seit sich in Deutschland der rechte Terror gegen Politiker richtet, gezielt Migranten ermordet werden und rechte Netzwerke sich bis hinein in die Bundeswehr und andere staatliche Institutionen erstrecken.

Ein gut erzählter, spannender Roman, der Terrorismus auf persönlicher Ebene erfahrbar und den Leser nachdenklich macht.

Das Wochenende, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag, Zürich 2010, 240 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Donnerstag, 20. Juni 2019

Ein ganzes Leben, Robert Seethaler

Dieses dünne (und groß gedruckte) Buch beschreibt ein ganzes Leben, das des Andreas Eggers. An einem nicht genau bekannten Tag etwa 1898 wird er geboren und verbringt sein Leben fast ununterbrochen in einem österreichischen Bergdorf. Nach dem Tod der Eltern wächst er als Ziehsohn eines gewalttätigen Bauern auf.

Das Erzähltempo dieses Romans ist langsam. Genauso langsam, wie Eggers Leben ereignisarm dahin geht. Sein Dasein ist zeitlebens von harter körperlicher Arbeit in der Natur geprägt. Doch Eggers ist anspruchslos und so stört es ihn nicht. Die diversen Schicksalsschläge, die ihn treffen, nimmt Eggers gleichmütig hin. Zwar legt sich irgendwann eine gewissen Traurigkeit über seine Seele. Aber im Großen und Ganzen ist er zufrieden mit der kargen Bergwelt und seinem Leben.
"Ins Wirtshaus ging er selten und mehr als eine Mahlzeit und ein Glas Bier gönnte er sich nie. Er verbrachte kaum eine Nacht im Bett, meistens schlief er im Heu, auf Dachböden, in Kammern und Ställen neben dem Vieh. Manchmal, in lauen Sommernächten, breitete er irgendwo auf einer frisch gemähten Wiese eine Decke aus, legte sich auf den Rücken und blickte zum Sternenhimmel hinauf. Dann dachte er an seine Zukunft, die sich so unendlich weit vor ihm ausbreitete, gerade weil er nichts von ihr erwartete. Und manchmal, wenn er lange genug so dalag, hatte er das Gefühl, die Erde unter seinem Rücken würde sich ganz sachte heben und senken, und in diesen Momenten wusste er, dass die Berge atmeten." (S. 34)
In seine Lebenszeit fallen diverse geschichtliche Ereignisse, etwa der zweite Weltkrieg, in dem er kämpft, oder die Mondlandung der Amerikaner. Aber diese Dinge scheinen Eggers nur am Rande zu streifen. Sie tangieren ihn kaum, solange er nur am Leben bleibt. Nicht alle um ihn herum haben dieses Glück. Zu sehr seltenen Gelegenheiten nimmt Eggers das Fernsehen zur Kenntnis, welches ihm die große Welt zeigen könnte. Aber mit Ausnahme der Mondlandung nimmt er diese Möglichkeit nicht wahr. Er braucht die große Welt nicht.

Der Roman lässt die Leserin eintauchen in den gleichförmigen Gemütszustand des wortkargen, naturverbundenen Mannes. Unspektakulär wie sein Leben plätschert auch der Roman dahin.

Das Buch lässt sich gut lesen, hinterlässt aber bei mir keinen großen Eindruck.

Ein ganzes Leben, Robert Seethaler, Wilhelm Goldmann Verlag, München 2016, 192 Seiten, 11,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Dienstag, 18. Juni 2019

Unterwerfung, Michel Houellebecq

Wen würdest du eher als Regierungschef haben wollen, einen Rechtsradikalen oder einen gemäßigten Muslim? Einfache Antwort, denkt man zunächst. Was ist schon schlimm an einem Muslim?

Michel Houellebecq entwirft dieses Szenario im Frankreich der sehr nahen Zukunft, in 2023. Die Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien verlieren deutlich an Zulauf, sind marginalisiert. In der Stichwahl steht Marine Le Pen mit dem Front National gegen die neu gegründete Bruderschaft der Muslime. Letztere sind durchaus keine Taliban, keine radikalen Terrorhelfer, sondern gemäßigte Muslime. Ganz neue politische Bündnisse bilden sich, weil kleine Parteien die Chance auf Regierungsverantwortung zusammen mit den Muslimen wittern. Die Muslime gewinnen.

Was dann kommt, erzeugt das ganze Buch hindurch ein stärker werdendes Unwohlsein bis hin zu Angst. Denn diese Geschichte ist so unglaublich realistisch. Erzählt wird die Geschichte von Franҫois, Mitte vierzig, einem mittelmäßigen Hochschullehrer für Literatur an der Sorbonne. Er ist auch nur mittelmäßig sympathisch mit seinem hohen Alkoholkonsum und den wechselnden Studentinnen als Freundinnen. Wirklich interessiert scheint er nur an Essen, Alkohol und Sex zu sein. Allerdings veranlassen ihn die Verhältnisse sich doch ein wenig mit Politik zu beschäftigen, als nämlich die Universität von den Saudis gekauft und als islamische Universität wiedereröffnet wird. Franҫois wird entlassen. Und auch sonst verändert sich das Land langsam, schleichend, aber deutlich.
„Dass Politik in meinem Leben eine Rolle spielen könnte, verwirrte und ekelte mich ein bisschen. Mir war aber bereits klar geworden, dass der sich seit Jahren verbreiternde, inzwischen bodenlose Graben zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprachen – also Politiker und Journalisten -, notwendigerweise zu etwas Chaotischem, Gewalttätigem und Unvorhersehbarem führen musste. Frankreich bewegte sich, wie die anderen Länder Westeuropas auch, auf einen Bürgerkrieg zu, das lag auf der Hand.“ (S. 101)
Der Roman ist ohne Zweifel provozierend und wirft diverse gesellschaftliche Fragen auf. Dabei geht es allerdings nur scheinbar darum, Muslime in Misskredit zu bringen. Die säkulare westliche Gesellschaft bekommt genauso ihr Fett weg. Viel zu schnell lassen Menschen ihre früheren Werte fahren, arrangieren sich mit den neuen Machthabern, lassen sich korrumpieren von Geld und der Aussicht auf Polygamie. Religion wird missbraucht zur Rechtfertigung reaktionärer Ziele, wie dem Patriarchat und der Aufhebung des Sozialstaats, und zur Zementierung von Macht.
„Es ist die Unterwerfung“, sagte Rediger leise. „Der nie zuvor mit dieser Kraft zum Ausdruck gebrachte grandiose und zugleich einfache Gedanke, dass der Gipfel des menschlichen Glücks in der absoluten Unterwerfung besteht. (…) Aber für mich besteht eine Verbindung zwischen der unbedingten Unterwerfung der Frau unter den Mann, (…) und der Unterwerfung des Menschen unter Gott, wie sie der Islam anstrebt.“ (S. 234)
Houellebecq hält allen Gruppen den Spiegel vor. Das neue muslimische Regime könnte ebenso gut eine andere politische Gruppierung oder ideologische Gruppe sein. Der Faschismus in Deutschland hat auch nicht viel anders angefangen, nämlich durch die demokratische Wahl eines Führers, der zunächst kontrollierbarer wirkte als er war, allgemein anerkannte Ziele verfolgte (z.B. Senkung der Arbeitslosigkeit) und erst nach Etablierung entsprechender Strukturen seinem Extremismus freien Lauf ließ.

Tatsächlich ist „Unterwerfung“ ein Roman über fehlende Zivilcourage, politisches Desinteresse, Wertevakuum und Opportunismus. Wohin diese Mängel sehr schnell führen können, zeigt diese Geschichte eindrucksvoll. Sie sollte uns dazu bringen, genauer darüber nachzudenken, was wir von aktuellen Veränderungen der politischen Landschaft zu halten haben, in unserem Land, bei den europäischen Nachbarn und weltweit, egal welches die vorherrschende Religion in einem Land ist.

Ein verstörender, eindrucksvoller und notwendiger politischer Roman. Sehr lesenswert!

Unterwerfung, Michel Houllebecq, aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek, DuMont Buchverlag, Köln 2015, 272 Seiten, 10,99 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Donnerstag, 13. Juni 2019

Literatur in den Häusern der Stadt, Hamburg, Juni 2019

Ein Literaturfestival der besonderen Art ist „Literatur in den Häusern der Stadt“. Es existiert seit 2001 und wird vom Kunstsalon e.V. (www.kunstsalon.de) organisiert. Die Idee ist, Literatur in einer Art Salon darzubieten, nämlich in Privat- oder Geschäftshäusern. Das Festival findet zeitgleich in Hamburg, Köln und Bonn statt. Dieses Jahr finden in Hamburg an 5 Tagen 15 Lesungen und 1 Poetry Slam an 16 verschiedenen Orten statt. (Die Lesung von Inger-Maria Mahlke aus „Archipel“ musste leider abgesagt werden.)

Lesung „Unterwerfung“ am 12. Juni 2019

Stefan Hunstein
Der Eröffnungsabend des diesjährigen Hamburger Festivals fand in den Räumen einer PR-Agentur statt. Ca. 70 Gäste saßen im extra bestuhlten Foyer des Unternehmens vor einer eigens gebauten kleinen Bühne. Der Schauspieler Stefan Hunstein gestaltete eine szenische Lesung aus Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ (auf Deutsch erschienen 2015 im DuMont Verlag).

Das Wort Lesung ist jedoch eine deutliche Untertreibung dessen, was dort geboten wurde. Stefan Hunstein hatte selbst den Text des Buches für eine Ein-Mann-Darstellung bearbeitet. Hunstein spielt derzeit am Schauspielhaus Bochum in einer Mehrpersonen-Inszenierung desselben Stoffes den Protagonisten Francois. Die Essenz des Romans trug Hunstein gekonnt frei vor. Er ließ den politisch brisanten Stoff – die Wahl eines muslimischen französischen Staatspräsidenten im Jahr 2023 – lebendig werden. Hochschullehrer Francois wird sein Job gekündigt, nachdem die Universität Sorbonne islamisiert wurde. Die bedrückende Atmosphäre der neuen Zustände war gestern Abend mit Händen zu greifen. Die Zweifel und Überlegungen von Francois, die Angst vor diesem Regime ließen die Zuhörer mitfiebern.

Ich gestehe, dass ich Houellebecqs Roman bislang nicht gelesen habe. Mein erster Weg führte heute jedoch in die Buchhandlung, da ich nicht nur von der Darstellung, sondern auch von dem provokanten Stoff gefesselt wurde. Ich werde mein Versäumnis umgehend nachholen und an dieser Stelle über den Leseeindruck berichten.

Abgerundet wurde der wunderbare Abend durch ein fabelhaftes Catering, das im Kartenpreis inbegriffen war, von Häppchen bis Dessert, von Wasser bis Wein war alles dabei und ließ das Publikum auch nach der Lesung gern zum Gespräch verweilen.

Lesung „Männerspagat“ am 13. Juni 2019

Hajo Schumacher
Heute Abend konnte ich gleich die nächste Lesung genießen, diesmal in den Räumen eines Markisenherstellers an der Elbe. Hier las der Journalist Hajo Schumacher aus seinem Buch „Männerspagat“ (erschienen 2018 im Eichborn Verlag). In seinem Buch geht es um Geschlechterrollen, alte überkommene und neue, die es zu entwickeln gilt. Schumacher ist seit über 25 Jahren verheiratet und hat mit seiner Frau zwei Söhne.

Schumacher berichtete (mehr als er las) sehr kurzweilig, offen und selbstironisch über seine Experimente des gegenseitigen Verstehens in seiner Ehe. Nachdem es zu der vielen bekannten Beziehungsunzufriedenheit gekommen war, bei dem er sich als Familienernährer nicht genügend wertgeschätzt und seine Frau ihre Rolle als Hausfrau und Mutter von ihm deutlich unterbewertet fand, kam es zum zeitweiligen Rollentausch. Das Paar besuchte Paar- und Tantra-Workshops, an deren Erfahrungen die Leser nun teilhaben dürfen, sehr vergnüglich, zugleich aber sehr ernsthaft. So sollte Schumacher sich nach seinen weiblichen Anteilen fragen: Wenn ich eine Frau wäre, wie sähe ich dann aus? Und mit welcher Art Mann würde diese Frau gern zusammen sein? Ferner tauschte das Paar die Kleidung. Schumacher gab sich überrascht von der vielen Frischluft unter einem Kleid und der sportlichen Anstrengung, die es bedeutet auf High Heels zu laufen. Ähnlich überrascht sei jedoch seine Frau gewesen, als bei der (bekleidet ausgeführten) Missionarsstellung die Rollen getauscht wurden.

Erneut habe ich einen sehr anregenden Abend mit viel Schmunzeln erlebt. Auch hier wurde gut für das leibliche Wohl gesorgt. Der Autor signierte auf Wunsch sein Buch und stand nach der Lesung gern zum Gespräch bereit.

Resumée

Dieses Festival, bei dem ich auch im vorigen Jahr schon zu Gast war, lebt von seiner intimen Atmosphäre und den ungewöhnlichen Orten, an denen es stattfindet. Abgesehen von der wunderbaren Literatur lohnen sich viele Veranstaltungen schon für die Lokation, die man vielfach sonst nie von innen sehen würde. Leider ist das Festival viel zu wenigen bekannt. Ihm wäre (trotz sehr gut besuchter Veranstaltungen) noch mehr und vor allem jüngeres Publikum zu wünschen, denn wer nicht hingeht, verpasst eindeutig etwas!

Das Festival dauert noch bis zum 16. Juni 2019, Restkarten gibt es unter www.kunstsalon.de. Ich danke den Veranstaltern für den kostenlosen Eintritt zur Lesung am 13. Juni 2019. Wer es dieses Jahr nicht schafft, hat im nächsten Jahr erneut die Chance.

Mittwoch, 12. Juni 2019

Himmel in Blau, Sommerliche Geschichten (div. Verfasser)

Dieser kleine Reclam-Band versammelt 27 kurze, sommerliche Geschichten verschiedener Autoren, von Goethe bis von Hofmannsthal, von Borchert bis Ringelnatz. Die meisten haben einen Bezug zum Reisen, der Sommerfrische oder der warmen Jahreszeit und sind sehr vergnüglich. Einige Geschichten kannte ich schon, etwa "Besserung" aus Ludwig Thomas "Lausbubengeschichten" oder René Goscinnys "Bei uns entscheidet Papa" aus dem Buch "Der kleine Nick". Ich habe aber erneut herzlich über diese gelacht!

Sprachlich besonders schön ist die Erzählung "Die Sängerin Antonelli" von Goethe:
"Bei ihren bisherigen Verbindungen war ihr Geist meistenteils unbeschäftigt geblieben; auch dieser verlangte Nahrung. Sie wollte endlich einen Freund haben, und kaum hatte sie dieses Bedürfnis gefühlt, so fand sich unter denen, die sich ihr zu nähern suchten, ein junger Mann, auf den sie ihr Zutrauen warf und der es in jedem Sinne zu verdienen schien."(S. 70)
Joachim Ringelnatz versteigt sich in "Die wilde Miß von Ohio" in die Katakomben der Innenschau:
"Die Einsamkeit ist die Treppe zum Gedankenkeller. Sie ist selbstverständlich wertlos für denjenigen, der unten nichts auf Lager hat."(S. 25)
Die meisten Texte dieses Bandes sind nur 5-10 Seiten lang. Es gibt aber sogar "Kürzestgeschichten" von Heimito von Doderer, die mit wenigen Zeilen auskommen, aber nicht weniger lustig sind. In "Hurrah! Die Alte kriegt kein Kind!" begeistert sich der Autor, der offenbar Ambitionen zu längeren Schriften hat, wie folgt:
"Eine Wolke möglichen Lärms, die verdunkelnd über den Manuskriptblätteren meines Romanes stand, ist vorübergezogen."(S. 96)
Wegen des kleinen Reclam-Formats ist dieses Buch ein idealer Begleiter für Urlaubsreisen mit leichtem Gepäck, geeignet zum Selberlesen zwischendurch oder zum vergnüglichen Vorlesen der Bonmots in der Runde. Schön! 

Himmel in Blau, Sommerliche Geschichten, Hanns Frisch (Hrsg.), Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2010, 187 Seiten, 5,00 EUR

Montag, 10. Juni 2019

Alice in Wonderland, Lewis Carroll


„Alice’s Adventures in Wonderland“ wurde erstmals 1865 veröffentlicht. Der Titel wurde später abgekürzt. Lewis Carroll – der eigentlich Charles Lutwidge Dodgson hieß - wurde zu der Geschichte inspiriert durch die kleine Alice Liddell. Er war ein Freund ihrer Familie.

Mir war die Geschichte in groben Zügen seit meiner Kindheit bekannt. Jedoch schwebten mir meist die Zeichentrickfiguren von Walt Disney vor. In dessen Version hat Alice lange blonde Haare. Dabei war die echte Alice dunkelhaarig und trug einen kurzen Bob. Ganz nahe an der echten Alice sind die Illustrationen der vorliegenden Ausgabe, modern, phantasievoll und ganz anders als die Bilder von Disney.

Nun habe ich endlich das Original der Geschichte in englischer Sprache gelesen und festgestellt, dass in der Übersetzung wie so oft einiges verloren geht, insbesondere die sprechenden Namen. Die Grinsekatze heißt im Original „Cheshire Cat“. Wer Lust hat, kann mal bei Wikipedia nachlesen, welche Verbindung es zwischen dieser Bezeichnung und dem englischen Chester-Käse gibt. Lustig ist auch die Begegnung, die Alice mit einer „Mock Turtle“ hat, dem Tier, aus dem angeblich die „mock turtle soup“ gemacht wird. Das ist so ähnlich, als würde man einem „falschen Hasen“ begegnen, der aber wirklich hoppelt.

„But I don‘t want to go among mad people,“ Alice remarked.
“Oh, you can’t help that,” said the Cat: “we’re all made here. I’m mad. You’re mad.”
“How do you know I’m mad?” said Alice.
“You must be,” said the Cat, “or you wouldn’t have come here.” (S. 68)

Im Originaltext begegnet man dem alten England des 19. Jahrhunderts. Alice ist ein wohlerzogenes Kind, das sich bemüht, mit den Geschöpfen des Wunderlands möglichst höflich umzugehen. Obwohl ihr nicht immer die gleiche Höflichkeit entgegen gebracht wird. Es lohnt sich, das Buch einmal abseits des Cartoons zu lesen. Es ist einfach ein Klassiker. Nur bei den Nonsense-Gedichten, die mehrfach in der Geschichte vorkommen, bin ich teilweise ausgestiegen. Ob dies an meiner mangelnden Sprachkenntnis lag oder daran, dass die Gedichte einfach wirklich keinen Sinn ergeben, lasse ich dahinstehen.

Dieser Klassiker lohnt die Lektüre auch nach 150 Jahren noch, vor allem in der Originalsprache mit so schönen Bildern.

Alice in Wonderland, Lewis Carroll, Illustrationen von Rébecca Dautremer, englischsprachige Ausgabe, Hodder & Stoughton Verlag, London 2015, 142 Seiten

Samstag, 8. Juni 2019

Die Herrenausstatterin, Mariana Leky


Von Mariana Leky haben sicher schon viele gehört. Ihr Roman „Was man von hier aus sehen kann“ (vgl. meine Rezension) ist seit Langem auf der Bestsellerliste und hat mir großartig gefallen. Also will ich unbedingt auch ihre anderen Bücher lesen. „Die Herrenausstatterin“ kann mit dem erstgenannten Buch nicht ganz mithalten – was bei dem großen Wurf aber auch nicht verwundert -, ist aber trotzdem ein sehr gutes, lesenswertes Buch.

Der Schreibstil ist unverkennbar Leky. Die Abwegigkeiten, die das Leben eben ausmachen, spricht sie mit großer Direktheit und Selbstverständlichkeit an, und das in sehr kreativer und lustiger Sprache. So gelingt es ihr, ein Buch über Trauer, Abschied und das Überleben danach zu schreiben, das anrührend und unterhaltsam zugleich ist.

Die Erzählerin Katja (Mitte 30) liebt Jakob, doch Jakob liebt eine andere. Und dann stirbt er auch noch. Katja schwindet der Boden unter den Füssen, sie weiß nicht mehr weiter. Es geht ihr so schlecht, dass ihre Freundin Evelyn sie ermahnen muss, „Nicht hinterhersterben.“ (S. 41). Aber wie soll sie das machen? Es ist so still – nur nicht in ihrem Kopf. Katja versucht sich abzulenken, aber manchmal gelingt es ihr kaum vom Fußboden aufzustehen.

„Als es eines Nachts an der Tür klingelte, hatte es, glaube ich, schon sehr lange nicht mehr geklingelt. Seit Jakobs Tod verging die Zeit nicht mehr so, wie man das von ihr gewohnt war, auch Ablaufdaten war nicht zu trauen. Die Zeit hatte jetzt starke Rhythmusstörungen, sie ruckte nach vorne, tippelte auf der Stelle, mal blieb sie stehen, mal raste sie, und nicht selten tat sie alles zugleich. (…) Jakobs vollkommene Abwesenheit, die am Anfang etwas Spitzes, Schneidendes, Ohrenbetäubendes gewesen war, war jetzt großflächig geworden, sie umgab mich wie eine Landschaft, in die ich versetzt worden war, in die ich meinen Hauptwohnsitz hatte verlegen müssen, in der ich mich insbesondere nachts verlief.“ (S. 61)

Plötzlich sitzt ein Mann auf dem Wannenrand, ein alter Mann, der sich als Dr. Blank vorstellt. Er sei Altphilologe. Und weil er merkt, dass es Katja gar nicht gut geht, bleibt er eine Weile. Dabei hat er seine eigenen Probleme, z.B. seine Frau, die bei einem Herrenausstatter arbeitet – und ihn mit dem selbigen betrügt. Und dann ist da noch Armin, der behauptet Feuerwehrmann zu sein. Dabei sieht seine Uniform eher aus wie vom Kostümverleih. Und er taucht auf, obwohl es gar nicht brennt. Auch er schleicht sich in Katjas Leben ein ohne zu fragen. Manchmal passieren eben nicht die naheliegenden, sondern die abwegigen Dinge im Leben.

In diesem kurzweiligen Roman erfahren wir, wie dieses seltsame Dreiergespann mit dem eigenen Päckchen umgeht, das jeder von ihnen zu tragen hat. Vor allem mit Katjas Trauer konnte ich mich sehr identifizieren, ihre Gefühle sehr nachvollziehen. Man schließt die Figuren der Geschichte gleich ins Herz. Manchmal muss man über Katjas Humor lachen und doch gleichzeitig weinen, weil die Situation wirklich so traurig ist.

Ein fabelhafter Roman über die Trauer, die jeden von uns jederzeit treffen kann. Im Ernstfall kann man nur hoffen mit ebenso viel Humor gesegnet zu sein.

Die Herrenausstatterin, Mariana Leky, DuMont Buchverlag, Köln 2010, 208 Seiten, 11,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Freitag, 7. Juni 2019

Geschichte der deutschen Literatur, Manfred Mai


Manfred Mai zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht einfach Sachbücher über Geschichte schreibt. Nein, er erzählt Geschichte. So kommt es, dass man seine „Geschichte der deutschen Literatur“ recht schnell von vorn bis hinten durch lesen kann. Es ist eben kein Nachschlagewerk, das Daten aneinander reiht, sondern eine Erzählung, die einen leichtfüßig mitnimmt durch die Jahre und Jahrhunderte, wie auch seine „Deutsche Geschichte“, die ich hier schon vorgestellt habe (vgl. meine Rezension).

Der Titel ist insofern etwas unscharf, als es sich nicht nur um deutsche Literatur, also deutsche Autoren handelt, sondern das Werk deutschsprachige Literatur insgesamt umfasst, also insbesondere österreichische und schweizer Autoren.

Die Anfänge der deutschen Literatur sieht Mai im 8. Jahrhundert nach Christus, da erst zu dieser Zeit eine ausreichende Schriftkultur (die über Runen und Zeichen hinausgeht) bestand, die uns überliefert ist. Erstaunlicherweise sind die ersten überlieferten Texte zwei Zaubersprüche! Wer hätte das gedacht! Mir war bewusst, dass es zu diesem Zeitpunkt kein einheitliches deutsches Reich gab und auch unser heutiges Hochdeutsch noch nicht existierte. Mir war allerdings nicht klar, dass die damaligen Dialekte, die die Menschen auf dem heutigen deutschen Territorium gesprochen haben, so weit von der heutigen deutschen Sprache entfernt waren. Die Zaubersprüche etwa soll ein Mönch in Fulda aufgeschrieben haben. Diese wären mir ohne die Übersetzung ins Hochdeutsche überhaupt nicht verständlich gewesen.

Der Autor bildet in den Kapiteln des Buches Epochen und stellt eine kleine Auswahl typischer Vertreter vor. Behandelt werden alle Gattungen, also neben Prosa auch Lyrik und Drama. Es tut dem Buch ausgesprochen gut, dass nicht zu viele Autoren behandelt werden. Wichtiger ist die Einordnung in den historischen Kontext, in dem die Literatur entstanden ist. Am allerbesten gefällt mir aber, dass Literatur nicht nur beschrieben wird, sondern dass man sie mitten im Text gleich selbst lesen kann. Der beschreibende Text ist in schwarzer Schrift gedruckt. Dazwischen finden sich in roter Schrift in jedem Kapitel lange Zitate aus wichtigen Werken (also nicht nur wenige Sätze, sondern aussagekräftige Passagen). So bekommt man gleich ein Gefühl für den jeweiligen Autor, ohne zuerst eine Bibliothek aufsuchen zu müssen.

„Zeigen“ wollte der junge Brecht mit seinen Stücken, nicht unterhalten. Dafür schien ihm das klassische „Illusionstheater“ ungeeignet. Deshalb suchte er Mittel und Wege, die Zuschauer aus ihrer Konsumhaltung zu reißen. Schon bei der Aufführung seiner ersten Stücke ließ er zum Beispiel Transparente aufhängen: „Glotzt nicht so romantisch!“ Die Schauspieler traten aus ihrer Rolle, wandten sich direkt an das Publikum und forderten es zum Mit- und Nachdenken auf; (…). (S. 147)

Schade ist, dass die als aus 2018 stammend gekennzeichnete Ausgabe keine Aktualisierung des Textes enthält, sondern weiterhin auf dem Stand von 2006 bleibt. Die Jahre bis heute fehlen in der Abhandlung also. Während ich mit der Auswahl der Autoren als typisch für bestimmte Zeitabschnitte überwiegend sehr einverstanden bin, verblüfft mich die Auswahl für die Zeit ab Mitte der 1990er Jahre bis 2006 doch sehr. Ich hatte keinen der Namen zuvor gehört und hätte mir andere vorstellen können. Aber das ist natürlich Geschmackssache, wie auch der Autor in seinem Vorwort gern zugibt.

Die Abhandlung ist eigentlich für Jugendliche als Einführung in die Literatur gedacht und soll Lust zum Lesen wecken. Als Einstieg ist sie aber auch für Erwachsene auf jeden Fall empfehlenswert. Wie auch im Werk „Deutsche Geschichte“ ermöglicht Manfred Mai in diesem Buch einen Überblick über die großen Strömungen und Entwicklungen über Jahrhunderte, ohne sich in zu vielen Details zu verstricken. Er beschreibt sehr nachvollziehbar ohne unverständliches Fachvokabular das Besondere oder Neue eines bestimmten Stils und unterfüttert dies mit Zitaten der Autoren aus Interviews o.ä., in denen sie ihr eigenes Werk beschreiben. Aufgelockert wird das Buch durch Portrait-Zeichnungen der Autoren.

Ein sehr gelungenes Werk, das Lust zum Entdecken von Klassikern von Goethe bis Dürrenmatt, von Kästner bis Schlink macht.

Geschichte der deutschen Literatur, Manfred Mai, Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel 2006, 240 Seiten, 8,95 EUR

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...