Dienstag, 10. Januar 2023

MTTR, Julia Friese

Dieses Buch ist schmerzhaft! Es ist authentisch, obwohl es ausgedacht ist, denn so kann Mutterschaft sein. So muss sie nicht sein, Göttin sei Dank! Aber in Aspekten dieser Geschichte werden sich viele Menschen wiedererkennen.

MTTR ist ein doppeldeutiger Titel. Er deutet natürlich das Wort MUTTER an, verweist aber auch auf die technische Abkürzung für „Mean Time To Recover“, also die mittlere Reparaturzeit nach einem Ausfall des Systems. Die Mutter als System?

Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt: Teresa und Erk, ein unverheiratetes Paar in den Dreißigern, bekommen ein gemeinsames Kind. Aus. Das soll eine Romanhandlung sein?! Ja! Dieser simpel erscheinende Vorgang, millionenfach auf der Welt passiert, hat es in sich, wenn frau genauer hinsieht.

Genau darum geht es. Kinder bekommen ist keineswegs simpel für den einzelnen Menschen. Der Roman behandelt aus Sicht von Teresa alle möglichen Konfliktlagen, über die öffentlich kaum gesprochen wird. Zu groß ist das Tabu, im Zusammenhang mit Mutterschaft von anderem zu sprechen, als von überschwänglicher Freude über das neue Leben.

Da ist zunächst einmal die grundsätzliche Frage, ob jemand überhaupt ein Kind haben möchte. Irgendwie schon, gehört ja dazu. Aber später. Wann genau ist später? Was ist, wenn frau dann doch Muffensausen bekommt und sich umentscheidet? Und wie fühlt sich ein Mann, der letztlich nicht entscheiden kann, dass er ein Kind behalten möchte, das die Partnerin nicht bekommen will?

Die Schwangerschaft, dieser ach, so natürlich Vorgang, ist mit vielen Unsicherheiten behaftet. Sicher sehr individuell, aber schwankend irgendwo zwischen naivem „Das geht schon von allein - oder?“ bis hin zum woken „Ich will eine Hausgeburt und Stoffwindeln!“. Wie viele Gedanken soll frau sich nun machen? Wie soll frau wissen, was richtig ist, wenn sie noch nie zuvor geboren hat?

„Ich liege unter einem Gurt. Festgeschnallt auf einer Liege. Die Schuhsohlen zum Fenster, während ich mit etwas in mich hineinhöre, das auf Rollen steht. Aussieht wie ein Faxgerät. Mein Körper gibt Daten aus. Über den Menschen, der in ihm lebt. Es ist ein unbekannter Mensch. Niemand auf der Welt kennt ihn. Hat ihn je gesehen. Er ist fremd. Wildfremd, hat meine Mutter immer gesagt. Wildfremden Leuten ist nicht zu trauen.“ (S. 183)

Unsere oft einzigen Rollenvorbilder für die Elternschaft sind unsere eigenen Eltern. Es verwundert nicht, dass einer Schwangeren bei jedem Ereignis und jeder Zukunftsfrage in den Kopf kommt, wie die eigenen Eltern diese Umstände gehandhabt haben. Die Protagonistin Teresa ist geschlagen mit einer toxischen, schwierigen Beziehung zu ihren Eltern. Auch die Eltern ihres Partners machen die Sache nicht leichter. Denn alle scheinen eigene Erwartungen an diese Schwangerschaft und Teresa als Mutter zu haben, ohne auf Teresas Vorstellungen einzugehen. Die Autorin deckt die nicht unbeträchtlichen faschistischen Überbleibsel in der Erziehung auf, die sich in unserer Gesellschaft gehalten haben. Da wird erwartet, dass Kinder „parieren“, den Teller leer essen, den Erwachsenen keine Schwierigkeiten machen und das Familienleben nicht nach außen tragen. Teresa möchte eine ganz andere Mutter sein, als ihre Mutter es war. Aber das ist gar nicht so leicht. Wie macht frau es denn konkret besser? Wie verträgt sich ein weniger autoritärer Stil mit den Notwendigkeiten einer berufstätigen Mutter? Wie vermeidet frau, in Stresssituationen automatisch so zu reagieren, wie sie es von der eigenen Mutter kannte?

Die eigenwillige Sprache dieses Romans trägt wesentlich zum Verständnis bei. Die unfertigen Sätze, die Teresa sich gar nicht zu Ende zu denken traut, die Verwirrung der vielen Gefühle, die gleichzeitig auf eine Schwangere einstürzen, sie machen die extreme Zerrissenheit und Atemlosigkeit einer modernen Mutter so greifbar, dass es wehtut. Sicher erlebt nicht jede werdende Mutter diese geballte Ladung an Schwierigkeiten, aber wahrscheinlich erlebt jede einen Teil davon. Es gibt Momente, in denen ich sehr froh bin, keine eigenen Kinder zu haben.

MTTR ist ein tabuloses Buch über Mutterschaft, das für die feministische Literatur und die gesellschaftliche Debatte über moderne Elternschaft absolut notwendig ist. Genau diese Themen mit all ihrer Körperlichkeit und den schambesetzten Gefühlen gehören nicht im Privaten versteckt, sondern öffentlich ausgesprochen. Viel zu lange haben alte weiße Männer behauptet, derartige „Frauenthemen“ könnten nicht Gegenstand ernstzunehmender Literatur sein. Der Roman macht deutlich, dass Schwangerschaft und Elternsein keine Frauenthemen, sondern Menschenthemen sind. Mehr davon!

MTTR, Julia Friese, Wallstein Verlag, Göttingen, 2022, 424 Seiten, 25,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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