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Dienstag, 3. September 2024

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie begleitet. Deshalb wollte ich sofort sein neues Buch lesen, in dem er mit dem Journalisten Georg Mascolo einen Rückblick auf diese Zeit tut.

Das Buch ist wie ein Gespräch der beiden aufgebaut. Sie diskutieren über die Zeitabläufe und die Evaluierung des staatlichen Handelns, versuchen Lehren aus dieser Zeit zu ziehen. "Alles überstanden?" haben wir wohl noch nicht. Die Schulschließungen hängen den Kindern und Familien noch nach, Long Covid plagt viele und der Vertrauensverlust gegenüber dem Staat scheint immens.

Können wir etwas lernen aus der Pandemie? Haben wir schon etwas besser gemacht? Die Antworten fallen eher ernüchternd aus. Die mangelnde Transparenz und politische Legitimität der in Gremien getroffenen politischen Entscheidungen werden beleuchtet. Die medizinische Datenlage in Deutschland war unzureichend, weil ein Meldesystem wie in Großbritannien fehlte und bis heute fehlt. Aber dennoch bewerten die beiden Autoren es so, dass Deutschland vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen ist. Viele der Schutzmaßnahmen haben sich im Nachhinein als wirksam erwiesen. Aber eine weitere Aufarbeitung - Herr Drosten empfiehlt dies durch ausländische Experten tun zu lassen - wäre wünschenswert.

Das Buch ist sehr verständlich und doch präzise geschrieben. Alle Zitate sind mit Quellenangaben belegt. Ich brauchte dieses Buch! Danke.

Alles überstanden? Ein überfälliges Gepräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte geswesen sein wird, Christian Drosten, Georg Mascolo, Ullstein Verlag, Berlin, 2024, 272 Seiten, 24,99 EUR

 (Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Montag, 12. Juni 2023

Helga Schubert über Anton Tschechow

Helga Schubert hat sich den russischen Schriftsteller Anton Tschechow zum Vorbild genommen. Neben seinem klaren Stil ohne Pathos hat sie von ihm die Technik übernommen, jeden Text auf den letzten Satz hin zu schreiben. Beim Beginn jedes Textes kennt sie den letzten Satz also schon, berichtete sie auf ihrer Lesung im Literaturhaus Hamburg in diesem Monat. Mit ihrem Vorbild hat Helga Schubert weiterhin gemein, dass sie an mehreren Texten gleichzeitig arbeitet, hoffentlich aber nicht wie Tschechow aus Geldnot. Das vorliegende Buch schrieb sie gleichzeitig mit ihrem ebenfalls gerade erschienenen Buch „Der heutige Tag“ (dtv).

Tschechows kurze Erzählung „Gram“ bzw. „Kummer“ (in anderer Übersetzung) hat es Helga Schubert besonders angetan. Sie habe sie bestimmt hundertmal gelesen. Schubert analysiert begeistert die Struktur dieser Erzählung, die abschnittsweise im vorliegenden Buch abgedruckt ist. Ein alter Kutscher hat seinen Sohn verloren und bemüht sich mehrfach erfolglos einen Menschen zu finden, dem er sein Leid über den Tod klagen kann. Schließlich erzählt er seinem Pferdchen davon, das verständnisvoll schnaubt. Helga Schubert erkennt sich in allen in der Erzählung benannten Figuren wieder, am meisten jedoch in dem Pferdchen.

„Aber ich war auch zeitlebens das Pferd, dem man schließlich alles erzählen konnte, vom verworrenen, manchmal scheiternden, schamvollen Dasein, von der Untreue, vom Verfluchen und Verfluchtwerden, von einer hoffnungslosen Liebe. (…) Ja, genau genommen war ich das Pferd für andere Menschen.“ (S. 41)

Die studierte Psychologin Schubert spielt an auf ihre langjährige Tätigkeit als Psychotherapeutin, möglicherweise aber auch auf die Beziehung zu ihrem inzwischen pflegebedürftigen, dementen Mann, dem sie immer noch geduldig zuhört. (Hiervon schreibt sie in „Der heutige Tag“.) Ebenso wie Tschechow ist Helga Schubert eine interessierte Beobachterin von Menschen, denn irgendwo müssen Inspirationen für Charaktere der Erzählungen ja herkommen.

Es macht Freude, Helga Schubert und ihrer Hommage an Tschechow zu lauschen, denn sie ist eine Kennerin. Nicht nur hat sie alle seine Werke und Briefe gelesen, sondern sie hat auch auf Reisen in die UdSSR Lebensorte von Tschechow besucht. Vor allem aber tönt die Liebe zum Schreiben und zu den beschriebenen Menschen aus jeder Zeile dieses Buches. Einfach schön.

Helga Schubert über Anton Tschechow, Herausgeber: Volker Weidermann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2023, 112 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Donnerstag, 9. Februar 2023

Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Irene Vallejo (Gastrezension von Rainer Kolbe)

"Einige der faszinierendsten Gebäude der zeitgenössischen Architektur sind Bibliotheken, also offene Räume für das Experimentieren und das Spiel mit dem Licht." (S. 84)
Ich gestehe, dass ich das Buch von Irene Vallejo nicht gelesen habe. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne, von vorn nach hinten. Sehr wohl aber habe ich in dem Buch von Vallejo gelesen – und meistens habe ich die Lektüre hinten im Buch begonnen: im Register. Wer hier seinen Blick schweifen lässt, bekommt sofort einen Eindruck von der Vielfalt und der Tiefe des Buches und vom umfassenden Wissen der Autorin: Demokrit, Demosthenes, De Niro, Descartes, Dickens, Dickinson. Oder Jenkins, Jesus, Jiménez, Jobs (Steve!), Johannes (Evangelist). Oder Kratinos, Kubrick, Kundera, Kurosawa. Wen das nicht zur Lektüre reizt, zum Stöbern, zum Vagabundieren, der hat das Buch – gut 750 Seiten – ohnehin nicht zur Hand genommen.
 
Umfassendes Wissen ist das eine. Die Kunst besteht darin, das Wissen auch an den Lesenden zu bringen – in diesem Sinne ist die Autorin eine Künstlerin. In jedem Abschnitt ist ihre Leidenschaft für Bücher und das Lesen zu spüren, mitunter zu genießen, in jedem Fall ist die Leidenschaft ansteckend, macht Spaß, macht Leselust. Die Lektüre einer einzigen Passage reicht schon: Es war mir trotz vieler Versuche nicht möglich, mich nicht festzulesen an der Stelle, auf die mich mein Blick ins Register geworfen hatte.
 
Dabei geht es grundsätzlich um die Antike, auch wenn der deutsche Titel zunächst anderes vermuten lässt. Nun ist es nicht jedem gegeben, sich für die Antike zu interessieren, und der Lateinunterricht an der Schule trug zumindest bei mir auch nicht gerade dazu bei. Dass es so eine Leselust bereiten kann, das Sachbuch einer Altphilologin zu lesen, hätte ich vor Papyrus nicht für möglich gehalten. Vallejo verknüpft das Damals sehr geschickt mit allem, was danach und bis heute passierte (ja, inklusive E-Book), sie zeigt uns die Parallelen zwischen damals und heute und tut all das auf wunderbar erzählerische Weise. Man kann vergessen, ein Sachbuch vor sich zu haben.
 
Das Zitat oben soll ein Hinweis sein, was dieses Buch ist: Eine bunte Schatztruhe. Als „offene Räume für das Experimentieren und das Spiel mit dem Licht“ habe ich Bibliotheken bisher noch nicht gesehen. Jetzt schon.
 
Die 750 Seiten kurz zusammengefasst: Die Geschichte der Schrift, die Geschichte des Buches, die Geschichte der Bibliotheken und die Geschichte der Literatur und des Lesens.

Zurück zum Register. Nach En-hedu-anna hätte ich dort nicht gesucht, über diese sumerische Dichterin bin ich beim Mich-fest-Lesen gestolpert. Was für ein Erkenntnisgewinn! „Der erste Schriftsteller, der einen Text mit eigenem Namen unterschreibt, ist eine Frau. 1500 Jahre vor Homer.“
 
Jetzt lese ich das Buch doch lieber noch einmal ganz herkömmlich, von vorn nach hinten. Wer weiß, was mir bei meinem bisherigen Vagabundieren noch so alles entgangen ist!

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Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Irene Vallejo, aus dem Spanischen übersetzt von Maria Meinel und Luis Ruby, Diogenes Verlag, Zürich, 2022, 752 Seiten, 28,00 EUR
 
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
 
Die Buch-Lady dankt Rainer Kolbe herzlich für seine Gastrezension!

Dienstag, 29. November 2022

Ein kleines, feines Leben – Heilung durch Traumatherapie, Sarah Frischke

Dieses Sachbuch über Traumatherapie ist ganz erstaunlich. Es wurde nicht von einer Ärztin oder Therapeutin verfasst und doch von einer sehr kompetenten Expertin, nämlich einer Betroffenen. Sarah Frischke hat in ihrer Kindheit und Jugend eine komplexe Traumatisierung durch Gewalt und Missbrauch erlebt und leidet unter diversen Traumafolgestörungen, psychischen und körperlichen (wenn sich das überhaupt trennen lässt). In ihrem Buch erklärt sie umfassend, was man über das Thema Trauma und Traumatherapie wissen muss. Zu den fundierten Sachinformationen stellt sie eigene Erfahrungen mit den einzelnen Symptomen und Therapieformen. Herauskommt ein „Handbuch für Überlebende“ (so der Untertitel), das es in dieser Form noch nicht auf dem Markt gibt. Die Kombination aus Information und Erlebtem stellt einen großen Mehrwert dar. Die Trennung beider Komponenten erfolgt immer sauber durch das Druckbild, indem alle persönlichen Erfahrungen kursiv erscheinen und so nie mit dem objektiven Informationsgehalt verwechselt werden können.

Das Buch beschäftigt sich zunächst allgemein mit der Frage, was ein Trauma eigentlich ist, welche Folgen es hat und welche Ausprägungen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) haben kann. Sodann folgt die Struktur des Buches dem Ablauf, dem sich Betroffene stellen müssen, wenn sie sich als traumatisiert einstufen.

Zuerst gilt es auf die schwierige Suche nach einer Therapeutin oder einer passenden Klinik zu gehen. Die verschiedenen Therapiearten werden genauso erläutert wie die Frage der Finanzierung durch Krankenkassen oder Rentenversicherungsträger. Hier gibt die Autorin handfeste praktische Tipps nebst Musterschreiben und Hinweisen für ein Begutachtungsverfahren.

Die Traumatherapie selbst gliedert sich in verschiedene Phasen, die einzeln und detailliert beschrieben werden. Großen Raum nimmt die Stabilisierung als erste Phase ein. Sie dürfte für Betroffene auch das Hauptziel der Therapie sein, also sich wieder sicher (bzw. sicherer) zu fühlen und den Alltag wieder bewältigen zu können.

Zur Stabilisierung gehören Themen wie Selbstachtung und Selbstfürsorge, das Erlernen von Skills (also Techniken zur Symptomkontrolle) sowie die Identifikation der eigenen Ressourcen. In diesem Zusammenhang werden die einzelnen möglichen Symptome und die hierzu einsetzbaren Therapiemethoden wie Imaginationsübungen und Körpertherapien erläutert. Detailreich werden z.B. „Der sichere Ort“ oder die „Tresor-Übung“ beschrieben, und zwar nicht, um sie aus diesem Buch zu lernen, sondern um deren Sinn deutlich zu machen und die Angst vor den Übungen zu nehmen.

Als zweite Therapiephase folgt die Traumaexposition, also die Konfrontation mit den eigenen traumatischen Erlebnissen und Erinnerungen. Die Autorin erklärt das Für und Wider, überhaupt eine Exposition vorzunehmen sowie die verschiedenen Techniken der Exposition (z.B. EMDR) nebst ihrer Risiken. Zuletzt folgt die Phase der Traumaintegration und die Frage, ob es eine Heilung insbesondere von einer komplexen PTBS geben kann.

Die besondere Stärke des Buches besteht darin, dass es aus Sicht einer Betroffenen alle auftretenden Fragen anspricht, und zwar in der Reihenfolge, in der sie sich stellen. Alle Kapitel sind aber auch unabhängig voneinander lesbar, so dass man keinesfalls das ganze Buch im Zusammenhang lesen muss. Realistisch werden die praktischen Probleme bei der Therapeutinnensuche beleuchtet sowie die Schwierigkeit, dass gerade bei Traumatisierung diverse Krankheitsbilder nebeneinander vorliegen können (insb. Depression und Sucht spielen neben der PTBS eine Rolle). Schon die Entscheidung für eine bestimmte Therapierichtung kann überfordernd sein. Die Autorin nimmt die Leserin an jeder Stelle an die Hand, berichtet von ihren eigenen Schwierigkeiten und zeigt auf, dass diese Überforderung völlig normal ist. Gleiches gilt für die Zeit während der Therapie. Sarah Frischke weiß aus eigener Erfahrung, wie überfordernd Therapie, ja sogar das bloße Spüren des eigenen Körpers sein kann.

Etwa zur Übung „Erfolge würdigen“, schreibt die Autorin:

„Mir half diese Übung vor allem bei der Selbstfürsorge. Gerade hier hatte ich noch viel nachzuholen und zu üben, was mich teilweise sehr große Überwindung kostete. Gleichzeitig konnte ich über diese Themen mit kaum jemanden in meinem privaten Umfeld reden. Denn für die meisten meiner Bekannten und Freunde war und ist meist nicht zu verstehen, wie viele Dinge im Alltag für mich eine Riesenhürde darstellten. Sie können nicht begreifen, welche Schuldgefühle z.B. eine warme Wärmeflasche früher bei mir auslösen konnte. Sie ahnen auch nicht, mit welchem inneren Kampf ich die eine oder andere warme Mahlzeit zu mir nahm. Aber gerade diese – nach außen vermeintlich kleinen und nebensächlichen – Erfolgserlebnisse erhielten durch diese Übung ihre Würdigung und gerieten bei mir damit nicht mehr in Vergessenheit.“ (S. 179)

Das Credo des ganzen Buches ist, dass Betroffene auf sich selbst vertrauen und Expertinnen für sich und ihre Erkrankung werden sollten, da jede PTBS sehr individuell ist. Jede Betroffene sollte in ihrem eigenen Tempo vorgehen, um eine Verschlimmerung der Erkrankung zu vermeiden und sich trauen, therapeutische Interventionen oder Behandlerinnen abzulehnen, die ihr nicht geheuer sind. Die Leserin weiß die Autorin zu jeder Zeit an ihrer Seite wie eine erfahrene Mitpatientin mit den gleichen Ängsten und Nöten, die ihr den Rücken stärkt.

An der fachlichen Richtigkeit der Ausführungen in diesem Buch besteht aus meiner Sicht kein Zweifel. Die Ausführungen werden in Fußnoten ausführlich mit Quellen der Fachliteratur belegt. Ein umfassendes Literaturverzeichnis im Anhang enthält sämtliche anerkannte Standardliteratur zum Thema (z.B. von Luise Reddemann und Michaela Huber), darüber hinaus aber auch Internetlinks zu Informationsquellen von Selbsthilfeorganisationen und Kliniken. Das Buch ist sprachlich präzise und nutzt Fachbegriffe, erklärt diese aber stets so, dass jeder Laie sie gut verstehen dürfte. Natürlich besteht für jede Betroffene das Risiko, durch das Lesen des Buches getriggert zu werden. Auf diese Gefahr wird im ersten Teil des Werks ausdrücklich hingewiesen. Jede Leserin ist dazu aufgerufen, sich selbstfürsorglich nur so viel Lektüre am Stück zuzumuten, wie es ihr guttut.

Dieses Traumahandbuch informiert Betroffene fundiert und empathisch wie ein Gespräch mit einer erfahrenen Mitpatientin. Diese Form ist in der Fachliteratur bislang einzigartig und ausgesprochen gelungen. Warum ein solches Buch im Selbstverlag erscheinen muss, ist mir unbegreiflich, da es einfach fehlt!

Ein kleines, feines Leben – Heilung durch Traumatherapie: Ein Handbuch für Überlebende, Sarah Frischke, Selbstverlag (Books on Demand), 2022, 336 Seiten, 15,99 EUR, ISBN 9783756213535

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis der Autorin. Ich danke der Autorin für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 16. März 2022

Nach den Tagebuch, Bas von Benda-Beckmann

Seit ich mit etwa 10 Jahren zum ersten Mal das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatte, habe ich mich gefragt: Was ist mit Anne passiert, nachdem das Versteck im Hinterhaus entdeckt worden ist? Ich wusste, dass sie im KZ Bergen-Belsen gestorben ist. Aber wie, wann und unter welchen Umständen?

Das vorliegende Buch schließt die große Lücke, die diese Frage bisher hinterlassen hat, und zwar nicht nur bezüglich Anne Frank selbst, sondern bezüglich aller acht Untergetauchten aus dem Amsterdamer Hinterhaus, nämlich ihrer Eltern Edith und Otto Frank sowie ihrer Schwester Margot, dem Ehepaar Auguste und Hermann van Pels nebst Sohn Peter und dem Zahnarzt Dr. Fritz Pfeffer.

Anne Frank muss etwa Mitte Februar 1945 im KZ gestorben sein, also vor etwa 77 Jahren. Wie kann ein Buch nach so langer Zeit ihre letzten Lebensmonate nachzeichnen? Dieses Werk ist das Ergebnis jahrelanger Forschung vieler Personen. Einige Zeitzeugenberichte lagen bereits kurz nach dem Krieg vor. Aber erst jetzt wurden diese systematisch zusammengetragen und durch andere Indizien ergänzt. Viele Unterlagen wie etwa Lager- und Transportlisten wurden von den Nazis vor Kriegsende vernichtet, viele Menschen, mit denen die acht Untergetauchten zusammen interniert waren, sind ermordet worden, konnten nach dem Krieg aufgrund ihrer Traumatisierung nicht detailliert berichten oder sind inzwischen verstorben. Dennoch ist es Wissenschaftlern gelungen, die Umstände der einzelnen Stationen zu rekonstruieren, indem sie ermittelten, wie es zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen ist, auch wenn kein Zeuge konkrete Angaben zum Schicksal von Anne oder ihrer Familie machen konnte. Dieses Buch widmet der Methodik dieser Aufklärung viel Platz, um die Ergebnisse besonders glaubhaft zu machen. Jede Quelle wird einzeln benannt und verifiziert, verbleibende Lücken deutlich gemacht. Es wird sogar die Frage behandelt, inwiefern sich Erinnerungen von Zeitzeugen mit der Zeit, durch die Art der Befragung oder aufgrund der erlittenen Traumatisierung verändert haben können.

Dieses Buch ist keine einfache Lektüre. Wer „nur mal schnell wissen will, was mit Anne war“, sollte die Finger davon lassen. Das Werk ist sehr wissenschaftlich mit hunderten von Fußnoten und Abbildungen. Es begnügt sich nicht damit, Ergebnisse mitzuteilen. Sehr konzentriertes Lesen ist erforderlich, um nicht den roten Faden zu verlieren. Das Buch ist nicht nach den einzelnen Personen gegliedert, sondern nach den Stationen / Orten, durch die die Gruppe und später die einzelnen gegangen sind. Jedem Kapitel ist eine ausführliche Einordnung des Ortes und seiner Umstände vorangestellt. Die Gruppe der Acht ist gemeinsam nach Auschwitz gekommen. Das Werk stellt dezidiert die Entstehung und Entwicklung des KZs Auschwitz dar, um zu erläutern, dass es einen entscheidenden Unterschied für die Überlebenschance gemacht hat, zu welchem Zeitpunkt ein Häftling dort angekommen ist. Erst danach wird berichtet, was über das konkrete Schicksal der Person herausgefunden werden konnte.

Vor der Lektüre war mit nicht bewusst gewesen, an wie vielen unterschiedlichen Orten Anne vor ihrem Tod interniert gewesen ist. Immerhin lagen nur ca. 7 Monate zwischen der Entdeckung des Verstecks am 4. August 1944 und ihrem Tod im Februar 1945. Zuerst ging es in das Untersuchungsgefängnis Huis de Bewaring in Amsterdam, dann in das niederländische Durchgangslager Westerbork. Ebenfalls nicht bewusst war mir, dass das KZ Auschwitz eine Art Drehkreuz zur Weiterverteilung von Häftlingen auf andere Lager gewesen ist. Anne und Margot sind erst nach mehreren Wochen von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht worden. Auguste van Pels wurde hingegen nach Raguhn deportiert, Peter van Pels nach Mauthausen und Melk, Fritz Pfeffer nach Neuengamme. Überlebt hat nur Annes Vater Otto Frank.

Nicht nur die detailreiche Darstellung macht das Lesen anspruchsvoll, sondern vor allem die wörtlich wiedergegebenen Zeitzeugenberichte, welche die sinnlose Grausamkeit in den Lagern und den Sadismus der Aufseher schildern. Annes Gesicht, das mir von Fotos bekannt ist, sah ich vor mir und wusste, dass ihr dies alles angetan worden ist, nicht einer unbekannten Gruppe von Menschen. Ich konnte das Buch nur in kurzen Abschnitten lesen und musste es immer wieder zur Seite legen, um damit umgehen zu können.

„Eine andere Zeugin des Schicksals von Edith, Anne und Margot ist Rosa de Winter-Levy. Sie erinnert sich, dass Anne mit dem Leid und dem Schmerz ihrer Mitgefangenen mitfühlte und über das, was sie sah, weinen musste:

Und sie war es auch, die bis zuletzt sah, was ringsum geschah. Wir sahen schon längst nichts mehr. (…) Aber Anne war ohne Schutz, bis zuletzt. (…) Sie weinte. Und Sie können nicht wissen, wie früh schon die meisten von uns mit ihren Tränen am Ende waren.“ (S. 164)

 

Es ist ein wichtiges Buch, auf das ich – ohne es zu wissen – seit Jahrzehnten gewartet habe. Vielleicht könnte man eine abgespeckte Version erstellen, damit das Werk mehr Leserinnen und Leser erreicht. Die wissenschaftliche Komplexität ist eine Herausforderung, lohnt aber die Mühe.

Nach den Tagebuch, Bas von Benda-Beckmann, aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas, Secession Verlag, Zürich 2021, 384 Seiten, 28,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Donnerstag, 25. Februar 2021

Spinner, Benedict Wells

Nachdem gestern „Hard Land“, der neue Roman von Benedict Wells erschienen ist, vervollständige ich nun meine Kenntnisse über die anderen Romane des Autors. „Spinner“ ist der erste Roman, den Benedict Wells im Alter von 19 Jahren geschrieben hat.

Jesper ist 20 Jahre alt und sieht sich als den einsamen Außenseiter, den niemand versteht. Nach dem Abitur ist er von München nach Berlin gezogen, um sich ganz seinem ersten Roman zu widmen. Er haust in einem billigen Kellerloch und hat nur Gustav zum Freund, den er an seinem ersten Tag in der Stadt kennengelernt hat. Ansonsten hat er alle Brücken hinter sich abgebrochen und nicht einmal seiner Mutter seine Telefonnummer gegeben. Vor zwei Jahren ist Jespers Vater gestorben, was die familiäre Situation zuhause massiv erschüttert hatte. Nebenbei macht Jesper ein Praktikum bei einer kleinen Zeitung.

Wir begleiten Jesper durch eine sehr entscheidende Woche seines Lebens. Seine besuchsweise Rückkehr in die Heimat steht bevor, sein Romanmanuskript, für das sich noch kein Verlag interessiert hat, ist fertig. Allerdings ist es dank seines rauschhaften nächtlichen Schreibens mit reichlich Alkohol und anschließendem Schlaftablettenkonsum zu einem Epos von über tausend Seiten angeschwollen. Dann bricht in wenigen Tagen alles in sich zusammen.

„Auf dem Balkon angekommen, hatte ich erneut dieses Gefühl, das mich schon seit einiger Zeit umtrieb, diese Sehnsucht nach einem Ort, irgendwo da draußen, hinter dem Horizont dieser Stadt, einem Ort, an dem ich wieder glücklich sein konnte. Dort in der Ferne waren meine Träume und warteten auf mich. Sie schienen nach mir zu rufen, und alles wäre möglich, wenn ich mich nur in ihre Richtung treiben lassen würde…“ (S. 45)

Jesper glaubt, seine wahren Träume zu verfolgen, in Berlin unangepasst zu leben und sich so von seiner traurigen Vergangenheit zu befreien. Tatsächlich aber ist er seinen Problemen doch eher ausgewichen, was auf einmal nicht mehr möglich ist. Unglückliche Liebe, das Zusammentreffen mit Menschen von früher und körperliche Angeschlagenheit ergeben einen schmerzlichen Cocktail. Jesper kann Wahn und Wirklichkeit kaum noch unterscheiden. Fängt sein Roman an zu leben? Und wer war sei Vater wirklich?

Benedict Wells gelingt es in authentischer Sprache die Sehnsucht, Orientierungslosigkeit und Leere eines jungen Mannes spürbar werden zu lassen, der einfach glücklich sein möchte, aber noch nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. Er beschreibt das Erwachsenwerden und die Identitätsfindung, die wir alle erleben, den Wunsch dazuzugehören und doch individuell und natürlich anders als unsere Eltern zu sein. Besonders gut gelungen finde ich die Vermischung von Einbildung und Realität. Erstaunlich ist, dass der Autor dieses Buch schrieb, als er selbst im Alter des Protagonisten war, also noch keine Distanz zu dieser Lebensphase hatte. Das Buch liest sich gut, hat aber noch nicht die Tiefe wie etwa „Vom Ende der Einsamkeit“ oder „Hard Land“.

Ein angenehm verdichteter Roman über das Erwachsenwerden, der beschreibt, wie eine einzige Woche alles verändern kann.

Spinner, Benedict Wells, Diogenes Verlag, Zürich 2016, 320 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Donnerstag, 23. Januar 2020

Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden, Hédi Fried

Hédi Fried ist eine jüdische Holocaust-Überlebende, die 1924 in Siebenbürgen, damals in Rumänien gelegen, geboren wurde. Sie hat zusammen mit ihrer jüngeren Schwester die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt (1944-45). Der Rest ihrer Familie wurde von den Nazis ermordet.  Nach dem Krieg hat sie in Schweden eine neue Heimat gefunden, wo sie bis heute lebt.

Seit 30 Jahren hält Hédi Fried Vorträge über ihre Erlebnisse in Schulen. Hierbei ermutigt sie die Kinder stets, ihr Fragen zu stellen. Sie betont, dass es keine dummen Fragen gebe, nur Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Die wichtigsten und häufigsten Fragen sowie ihre Antworten darauf hat Hédi Fried in diesem Buch zusammengestellt.

Kinder wagen in ihrer direkten Art manchmal Fragen zu stellen, vor denen Erwachsene zurückschrecken. Zu privat erscheinen sie, um sie einem fremden Menschen zu stellen. Das ist das Erfrischende an diesem Buch. Da gibt es z.B. die Frage, wie es im Lager war, seine Periode zu haben, oder ob es auch nette SS-Soldaten gegeben habe. Die Kinder wollten wissen, ob Hédi Fried nachts im Lager geträumt habe und wie es war, dass sie zusammen mit ihrer Schwester im Lager war. Was war das Schlimmste, das sie erlebt habe, wurde gefragt, und auch, was war das Beste? – Das Beste? Gab es so etwas in einem KZ? Hédi Fried beantwortet geduldig jede dieser Fragen. Die Vermittlung von Faktenwissen ist ihr nicht so wichtig. Sie möchte die Kinder nicht nur im Kopf, sondern in den Herzen erreichen. Sie möchte, dass die Kinder durch ihre Detailfragen wirklich verstehen und sich vorstellen können, wie sich das Leben in einem Konzentrationslager angefühlt hat.

„Kurz gefasst kann man sagen: Es war, als würde man in einer grauen Blase leben. Die Erde war grau vom Staub, die Baracken waren grau, die Gefangenenkleidung war grau, der Himmel war grau von all dem Rauch. Es war ein Leben in der Schwebe. Die Zeit existierte nicht, man wusste nicht, ob man einen Tag, ein Jahr, das ganze Leben dort war.“ (Wie war es, im Lager zu leben?, S. 45)

Das Buch behandelt Fragen nach den Ursachen des Faschismus, der Ankunft im Lager, dem Alltag dort, aber auch nach der Zeit danach, der Aufnahme in Schweden und ob sich Hédi Fried eigentlich als Schwedin fühle. Die Frage nach fortdauerndem Hass gegen die Deutschen wird nicht ausgespart, nach ihrem Umgang mit Neonazis und ihrer Meinung zu heutigen Flüchtlingen. So schlägt das Buch einen weiten Bogen vom frühen Antisemitismus weit vor dem 20. Jahrhundert über die Nazizeit und die Nachkriegsjahre bis heute. Die Antworten sind so formuliert, dass Kinder sie verstehen können. Aber auch für Erwachsene sind sie sehr interessant. Die Autorin erlaubt uns, sie ein wenig kennenzulernen. So ist ihr Buch persönlich und anrührend, ganz ohne Bitterkeit oder Anklage. Man merkt, wie stark die Autorin, die selbst Psychologie studiert hat, sich mit ihren Erlebnissen auseinandergesetzt hat. Sie senkt die Hemmschwelle, über die Details des Holocaust zu sprechen. Und das ist so wichtig.

Ein anschauliches Buch gegen das Vergessen in moderner Form, gut lesbar und anrührend persönlich.

Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden, Hédi Fried, aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann, DuMont Buchverlag, Köln 2019, 160 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...