Virginia Woolf will einen Aufsatz bzw. einen Vortrag zum
Thema „Women and Fiction“ schreiben und lässt uns am Entstehungsprozess teilhaben.
Sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine anerkannte Schriftstellerin in London.
Sie berichtet, dass man dieses Thema mit ein paar Anmerkungen zu berühmten
Schriftstellerinnen wie Jane Austen oder den Brontë-Schwestern hätte abhaken
können, dass es aber bei genauerem Hinsehen deutlich komplexer sei. Damit
Frauen Literatur schaffen können, bedürfe es zweier Umstände: Sie brauchen ein eigenes
Einkommen von 500 Pfund im Jahr und ein eigenes Zimmer.
Woolf blickt zurück in der Geschichte und stellt fest, dass
Frauen in England erst seit wenigen Jahren überhaupt über eigenes Vermögen oder
Geld verfügen dürfen, da zuvor entweder Väter oder Ehemänner Eigentümer ihres
Vermögens waren. Weiter berichtet sie eindrücklich, dass Frauen seit tausenden
von Jahren entweder in harte Arbeit in Haus und Familie eingebunden oder zum
Verbleib im bürgerlichen Haushalt verdammt waren, wo sie sich allenfalls mit
Handarbeiten oder dem Schreiben von Briefen beschäftigen durften. Woolf
beklagt, dass Frauen nicht nur die Möglichkeit der Erfahrung der Welt durch das
alleinige Verlassen des Hauses, Reisen etc. verwehrt war, woraus sie Stoff
hätten sammeln können, sondern dass sie außerdem massiv entmutigt wurden, da
die patriarchale Gesellschaft der Meinung war, Frauen seien dem Mann
intellektuell unterlegen und hätten sich zu gesellschaftlichen und anderen
Fragen nicht zu äußern. Ganz abgesehen von dem simplen Umstand, dass Frauen in
den letzten 2000 Jahren kaum Rückzugsmöglichkeiten zum ungestörten Schreiben
gehabt hätten. Und wer kein Einkommen von mindestens 500 Pfund hatte (wie
Virginia Woolf selbst aus einer Erbschaft), war gezwungen von früh bis spät zu
arbeiten und hatte keine Zeit zum Schreiben.
„Indeed, if women had no existence save in the fiction written by men, one would imagine her a person of the utmost importance; very various; heroic and mean; splendid and sordid; infinitely beautiful and hideous in the extreme; as great as man, some think even greater. But this is women in fiction. In fact, as Professor Trevelyan points out, she was locked up, beaten and flung about the room.” (S. 53/54)
Woolf führt den bestechenden Beweis, dass die Nichtexistenz
von weiblicher Literatur kein Beweis für die Unfähigkeit der Frauen zum
Schreiben darstelle. Sie führt erschreckende historische Lebensumstände von
Frauen ins Feld, die sich erst in den letzten 10 bis 50 Jahren vor der
Verfassung ihres Essays zu verändern begannen, etwa die Einführung des
Frauenwahlrechts (1919) oder die Zulassung von Frauen zu universitärer Bildung.
Dabei bedient sich Woolf sehr vergnüglicher Darstellungsformen, wenn sie sich
z.B. vorstellt, wie es einer Schwester von Shakespeare gegangen wäre, wenn sie
das gleiche schriftstellerische Talent wie ihr Bruder gehabt hätte.
Woolf analysiert Literatur von Männern, ihre herabwürdigende
Kritik an Frauen und entwirft sodann eine Vision eines zukünftigen Geschlechterverhältnisses,
nämlich eines partnerschaftlichen. Sie appelliert an Männer, ihre innere
weibliche Seite und an Frauen, ihre innere männliche Seite zu nutzen und sie
beim Schreiben befruchtend wirken zu lassen. Für einen 90 Jahre alten Text ist
dieser Essay erfrischend modern und sehr lesenswert. Der Text zahlt dabei die
von Woolf erlebte Frauenverachtung nicht mit gleicher Münze den Männern heim, sondern
ist im Gegenteil sehr positiv und von ihrer Verehrung männlicher Autoren geprägt.
Woolf wirbt um Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen, die dem Zusammenleben in
der Gesellschaft nützlich sein werden und ein für alle erfüllendes Geschlechterverhältnis
ermöglichen sollen.
Nach 90 Jahren immer
noch sehr lesenswert! Ein positiver Beitrag zur Literatur von Frauen und dem
Verhältnis der Geschlechter.
A Room of One’s Own, Virginia Woolf, englischsprachige
Ausgabe, Insel-Bücherei Nr. 1468, Insel Verlag, Berlin 2019, 136 Seiten, 15,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
Zusatz-Info: Der Text ist in deutscher Übersetzung unter verschiedenen
Titeln und in verschiedenen Übersetzungen erschienen, z.B. „Ein Zimmer für sich
allein“ im Reclam Verlag für 4,80 EUR oder „Ein eigenes Zimmer“ als Taschenbuch
im Fischer Verlag für 12,00 EUR.