Montag, 29. April 2019

A Room of One’s Own, Virginia Woolf

Ganz frisch ist eine wunderschöne Ausgabe dieses bekannten Essays von Virginia Woolf in der Insel-Bücherei-Reihe erschienen. Das Cover und die sehr wertige Ausführung haben mich verführt, diesen berühmten Text endlich im Original zu lesen. Er ist erstmals 1929 veröffentlicht worden und wurde vor allem durch die Frauenbewegung der 1970er Jahre zum Klassiker der feministischen Literatur gemacht. Die Lektüre im englischen Original ist durchaus eine Herausforderung aufgrund der wunderschönen, aber komplexen Ausdrucksweise Virginia Woolfs.


Virginia Woolf will einen Aufsatz bzw. einen Vortrag zum Thema „Women and Fiction“ schreiben und lässt uns am Entstehungsprozess teilhaben. Sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine anerkannte Schriftstellerin in London. Sie berichtet, dass man dieses Thema mit ein paar Anmerkungen zu berühmten Schriftstellerinnen wie Jane Austen oder den Brontë-Schwestern hätte abhaken können, dass es aber bei genauerem Hinsehen deutlich komplexer sei. Damit Frauen Literatur schaffen können, bedürfe es zweier Umstände: Sie brauchen ein eigenes Einkommen von 500 Pfund im Jahr und ein eigenes Zimmer.

Woolf blickt zurück in der Geschichte und stellt fest, dass Frauen in England erst seit wenigen Jahren überhaupt über eigenes Vermögen oder Geld verfügen dürfen, da zuvor entweder Väter oder Ehemänner Eigentümer ihres Vermögens waren. Weiter berichtet sie eindrücklich, dass Frauen seit tausenden von Jahren entweder in harte Arbeit in Haus und Familie eingebunden oder zum Verbleib im bürgerlichen Haushalt verdammt waren, wo sie sich allenfalls mit Handarbeiten oder dem Schreiben von Briefen beschäftigen durften. Woolf beklagt, dass Frauen nicht nur die Möglichkeit der Erfahrung der Welt durch das alleinige Verlassen des Hauses, Reisen etc. verwehrt war, woraus sie Stoff hätten sammeln können, sondern dass sie außerdem massiv entmutigt wurden, da die patriarchale Gesellschaft der Meinung war, Frauen seien dem Mann intellektuell unterlegen und hätten sich zu gesellschaftlichen und anderen Fragen nicht zu äußern. Ganz abgesehen von dem simplen Umstand, dass Frauen in den letzten 2000 Jahren kaum Rückzugsmöglichkeiten zum ungestörten Schreiben gehabt hätten. Und wer kein Einkommen von mindestens 500 Pfund hatte (wie Virginia Woolf selbst aus einer Erbschaft), war gezwungen von früh bis spät zu arbeiten und hatte keine Zeit zum Schreiben.

„Indeed, if women had no existence save in the fiction written by men, one would imagine her a person of the utmost importance; very various; heroic and mean; splendid and sordid; infinitely beautiful and hideous in the extreme; as great as man, some think even greater. But this is women in fiction. In fact, as Professor Trevelyan points out, she was locked up, beaten and flung about the room.” (S. 53/54)

Woolf führt den bestechenden Beweis, dass die Nichtexistenz von weiblicher Literatur kein Beweis für die Unfähigkeit der Frauen zum Schreiben darstelle. Sie führt erschreckende historische Lebensumstände von Frauen ins Feld, die sich erst in den letzten 10 bis 50 Jahren vor der Verfassung ihres Essays zu verändern begannen, etwa die Einführung des Frauenwahlrechts (1919) oder die Zulassung von Frauen zu universitärer Bildung. Dabei bedient sich Woolf sehr vergnüglicher Darstellungsformen, wenn sie sich z.B. vorstellt, wie es einer Schwester von Shakespeare gegangen wäre, wenn sie das gleiche schriftstellerische Talent wie ihr Bruder gehabt hätte.

Woolf analysiert Literatur von Männern, ihre herabwürdigende Kritik an Frauen und entwirft sodann eine Vision eines zukünftigen Geschlechterverhältnisses, nämlich eines partnerschaftlichen. Sie appelliert an Männer, ihre innere weibliche Seite und an Frauen, ihre innere männliche Seite zu nutzen und sie beim Schreiben befruchtend wirken zu lassen. Für einen 90 Jahre alten Text ist dieser Essay erfrischend modern und sehr lesenswert. Der Text zahlt dabei die von Woolf erlebte Frauenverachtung nicht mit gleicher Münze den Männern heim, sondern ist im Gegenteil sehr positiv und von ihrer Verehrung männlicher Autoren geprägt. Woolf wirbt um Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen, die dem Zusammenleben in der Gesellschaft nützlich sein werden und ein für alle erfüllendes Geschlechterverhältnis ermöglichen sollen.

Nach 90 Jahren immer noch sehr lesenswert! Ein positiver Beitrag zur Literatur von Frauen und dem Verhältnis der Geschlechter.

A Room of One’s Own, Virginia Woolf, englischsprachige Ausgabe, Insel-Bücherei Nr. 1468, Insel Verlag, Berlin 2019, 136 Seiten, 15,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info: Der Text ist in deutscher Übersetzung unter verschiedenen Titeln und in verschiedenen Übersetzungen erschienen, z.B. „Ein Zimmer für sich allein“ im Reclam Verlag für 4,80 EUR oder „Ein eigenes Zimmer“ als Taschenbuch im Fischer Verlag für 12,00 EUR.

Sonntag, 28. April 2019

Der zauberhafte Wunschbuchladen, Bd. 1, Katja Frixe

Was ist ein Wunschbuchladen? Das ist ein Ort, an dem die 10jährige Clara sich am liebsten jeden Tag aufhält. Nicht nur weil sie so gern liest. Sondern auch, weil die Inhaberin Frau Eule immer so fröhlich ist. „Heute ist kein Tag für schlechte Laune!“, ruft sie aus, wenn jemand Trübsal bläst. Frau Eule ist einfach gut darin Leute fröhlich zu machen. Sie kommt mit ihrem knallgrünen Fahrrad jeden Morgen angeradelt und kauft erstmal eine große Tüte Schokotörtchen, die sie gern mit anderen teilt.


Ihr Laden ist zauberhaft – und nicht ganz normal. Der große Spiegel mit dem Goldrahmen (Herr König) und der Kater Gustaf können sprechen. Das kann nicht jeder hören, aber Clara schon. 

Besonders sind auch die Bücher, denn sie können von selbst aus dem Regal fallen, um auf sich aufmerksam zu machen. Figuren lösen sich manchmal vom Cover. Und mit Hilfe der Menschenkenntnis von Herrn König findet Frau Eule immer heraus, welches Buch ein Kunde gerade braucht. Auch wenn ihm das selbst noch gar nicht bewusst ist.

Normalerweise kommt Clara immer mit ihrer besten Freundin Lene in den Wunschbuchladen. Aber jetzt bahnt sich eine Katastrophe an.

„Wenn deine beste Freundin dir erzählt, dass sie bald wegzieht, ist Alarmstufe Rot angesagt. Absoluter Ausnahmezustand. Klar, dass man sich sofort etwas einfallen lassen muss, um das zu verhindern. Und da kann es durchaus passieren, dass man zu Mitteln greifen muss, die ein klitzekleines bisschen verboten sind.“ (S. 7)

Natürlich suchen die beiden Mädchen im Wunschbuchladen Rat, um ihre Freundschaft zu retten. Und auch sonst ist alles möglich los. Eine Zeitungsanzeige verspricht, dass im Wunschbuchladen Bücher verschenkt werden. Die Idee kann doch nicht von Frau Eule stammen, oder? Wie soll sie denn dann noch genug Geld verdienen?

Die wunderbare Geschichte um den magischen Buchladen wird zauberhaft untermal von Florentine Prechtels Illustrationen. Schon das Cover mit vielen Details lässt erahnen, wie bunt es im Wunschbuchladen zugeht und was für ein frecher, liebenswerter Kater Gustaf ist. Und dass man ohne Bücher schlichtweg nicht leben kann.

Ich habe den zauberhaften Wunschbuchladen fest in mein Herz geschlossen und lese die Bücher immer wieder. Ein toller Auftakt einer wunderbaren Reihe, die nicht nur Kindern Spaß macht!

Der zauberhafte Wunschbuchladen, Bd. 1, Katja Frixe, Illustrationen von Florentine Prechtel, Dressler Verlag Hamburg 2016, 176 Seiten, 13,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Samstag, 27. April 2019

Über Meereshöhe, Francesca Melandri

Der zweite Teil von Melandris Trilogie der Väter ist deutlich kürzer als die beiden anderen Romane und weniger komplex. Er spielt 1979, mitten in den sog. Bleiernen Jahren in Italien, einer Zeit des politischen Terrors sowohl von Links als auch von Rechts. Viele Jahre lang wurde Italien erschüttert von Terroranschlägen, die viele Todesoper forderten.

Bleiern kommt auch die Atmosphäre des Buches daher. Es spielt auf einer abgelegenen italienischen Insel, auf der sich ein Hochsicherheitsgefängnis befindet. Im Mittelpunkt stehen Paolo, der seinen inhaftierten Sohn und Luisa, die ihren Mann besucht. Aufgrund schlechten Wetters verlängert sich die ohnehin schon beschwerliche Reise der beiden, sie müssen eine Nacht unbeabsichtigt auf der Insel verbleiben. So kommen sie ins Gespräch.

Die Szenerie ist beeindruckend. Die Insel ähnelt einerseits einem Ferienparadies mit Stränden, andererseits ist da die Gefängnisanlage, die man nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen betreten darf. Die Besucher werden einer Leibesvisitation unterzogen, mitgebrachte Geschenke werden teilweise konfisziert. Die Insel wird umtost vom Meer, das dann auch noch durch einen Strurm aufgepeitscht wird. Das Meer ist Sinnbild für die aufgewühlten Seelen von Besuchern und Besuchten. Die wütenden Elemente verdeutlichen die rohen Kräfte des Terrors von verschiedenen Seiten. Denn es sind nicht nur die Attentäter, die sich unbeschreiblicher Gewalt bedienen, sondern ebenso der Staat in Form von Polizei, Justiz und Strafvollzug.

Bedrückend macht der Roman deutlich, wie entmenschlichend die Gewalt wirkt. Sie zerstört das Leben der Opfer, der Täter und auch das der Familien der Inhaftierten. Wie sieht man seinem geliebten Sohn ins Gesicht, der zum Mörder geworden ist? Wie soll man dessen Existenz im Gefängnis begreifen, einem Ort, der so wenig Kontakt zulässt? Was wird aus einer Ehe, die über Jahre nur durch Besuche alle paar Monate aufrecht erhalten werden kann? Wie steht eine Familie da, die den Ernährer verloren hat, ums Überleben kämpft, während der Vater von Revolution spricht? Was geschieht überhaupt in der Seele eines Menschen, der zum Täter geworden ist? Da bleiben viel Angst und Verstörung auf allen Seiten.
"Und von Paolos Armen gehalten, weinte Luisa, weinte, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Sie weinte um die Mentruationsschmerzen auf dem Traktor. Weinte wegen der Ravioli, von denen ihre jüngste Tochter so gern gegessen hätte und die dann im Abfall gelandet waren. (...) Sie weinte um diesen Mann, den sie bis gestern nicht kannte und dessen Mund Klagelaute entfuhren. Sie weinte wegen der Umarmung, in der er sie jetzt hielt." (S. 167)
Der Roman hat im 21. Jahrhundert neue Aktualität gewonnen, in dem islamistischer Terror die Welt erschüttert. Aus welchen Gründen Anschläge verübt werden, ist letztlich gleichgültig. Die Verrohnung und Entmenschlichung bleibt die gleiche, das zerstörte Vertrauen der Menschen ebenso. Der Roman beschreibt diese Gefühle sehr nachvollziehbar. Die Handlung ist jedoch eher sparsam, vor allem im Vergleich zu den beiden anderen Romanen der Trilogie. Die Erzählweise hat mich gefesselt, wenn auch nicht in gleichem Maße wie bei Melandris "Eva schläft" oder "Alle, außer mir".

Ein lesenswertes Buch, das nachdenklich macht.

Über Meereshöhe, Francesca Melandri, aus dem Italienischen von Bruno Genzler, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2019, 208 Seiten, 13,90 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 24. April 2019

Deutsche Geschichte, Manfred Mai

Seit 20 Jahren gibt es dieses Geschichtsbuch, erzählt von Manfred Mai. Im März 2019 ist eine aktualisierte Neuausgabe erschienen, so dass der Text die Deutsche Geschichte bis ins Jahr 2018 enthält. Die Darstellung beginnt bei den Germanen vor ca. 2000 Jahren und widmet sich der Frage, wo die Deutschen eigentlich herkommen und wann deutsche Geschichte denn beginnt. Die gesamte Zeitspanne wird auf gut 200 Seiten dargestellt, also sehr gerafft.


Das Besondere an diesem Geschichtsbuch ist seine Erzählform. Der Autor erzählt Historie wie eine spannende Geschichte. Eigentlich für Kinder ab 12 Jahren gemacht, ist das Buch aber auch für Erwachsene lesenswert. Der Charme liegt in der Raffung der Geschehnisse. Unter Weglassen zu vieler Details, Namen und Daten werden die großen Linien der Geschichte sichtbar. Manfred Mai beschreibt in leicht verständlicher Sprache, welche Umstände zu Veränderungen geführt haben, wer welche Interessen verfolgte, etwa religiöse, finanzielle oder Machtinteressen. Dabei wirkt die Darstellung nie flach bzw. zu simpel. Wo es zum Verständnis hilfreich ist, wirft der Autor einen Blick auf die Nachbarländer wie Frankreich oder Russland und deren Entwicklung.

Der Text wird ergänzt durch farbige Zeichnungen von Julian Jusim (teilweise auf dem Buchcover zu sehen), die oft berühmte Fotos oder Bildnisse wiedergeben. Sie werden immer durch eine hilfreiche Bildunterschrift erklärt. So soll der Leser in die Lage versetzt werden, sich die handelnden Personen, auch die einfachen Leute vorstellen zu können. Auch gibt es am Schluss 6 gezeichnete Karten auf zwei Seiten, auf denen man die räumliche Ausdehnung Deutschlands zu verschiedenen Zeiten vergleichen kann.

Das Buch hat so gar keine Ähnlichkeit mit Geschichtsbüchern, die ich aus der Schule kenne. Man kann es von vorn bis hinten einfach durchlesen, eben wie eine erzählte Geschichte. Die älteren Teile der Historie sind knapper gehalten, die Abschnitte über die Nazizeit und die Zeit vom Ende des 2. Weltkriegs bis heute sind deutlich ausführlicher, was auch angemessen erscheint. Dabei sind die Abschnitte gut gegliedert, so dass man auch mitten hinein zu einer bestimmten Epoche springen kann, die einen besonders interessiert.

Das Buch ist durch die Neuauflage absolut aktuell. In den letzten Kapiteln werden Themen wie die Entwicklung der EU nach der Finanzkrise von 2008/09, die Einwanderung großer Zahlen von Flüchtlingen ab 2015 und die Energiewende behandelt.

Die Krise nach der Pleite der amerikanischen Bank Lehman Brothers wird z.B. so beschrieben:

„Die Aktienkurse an den Börsen der Welt stürzten ab, fast täglich meldeten weitere Banken und Versicherungen ihre drohende Zahlungsunfähigkeit. Das gesamte Weltfinanzsystem stand vor dem Kollaps. Um das zu verhindern, sollten Banken und Versicherungen nun gerettet werden, koste es, was es wolle. Die amerikanische Regierung stellte dafür 700 Milliarden Dollar zur Verfügung; die deutsche Regierung schnürte ein ‚Rettungspaket‘ mit fast 500 Milliarden Euro, um das deutsche Bankensystem zu stabilisieren. (…) Trotzdem wuchs die Angst der Menschen um ihre Ersparnisse. Die Regierungen versuchten sie zu beruhigen. So traten zum Beispiel die deutsche Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister am 5. Oktober 2008, einem Sonntag, vor die Presse und versprachen, ‚dass die Sparerinnen und Sparer in Deutschland nicht befürchten müssen, einen Euro ihrer Einlagen zu verlieren.‘ Für diese staatliche Garantie gab es keine gesetzliche Grundlage, doch danach fragte in diesem Moment niemand.“ (S. 201)


Dieses Geschichtsbuch hat mir sehr gut gefallen und ist sowohl für Kinder als auch für Erwachsene sehr empfehlenswert, um sich einen Überblick über die großen Bögen der deutschen Geschichte zu verschaffen. Das Lesen macht Spaß!


Deutsche Geschichte, Manfred Mai, Bilder von Julian Jusim, Gulliver von Beltz & Gelberg, Weinheim 2019, 224 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Montag, 22. April 2019

Eva schläft, Francesca Melandri


Nachdem ich letztes Jahr Melandris Bestseller „Alle, außer mir“ mit Begeisterung gelesen hatte, wollte ich unbedingt mehr von dieser Autorin kennenlernen. „Eva schläft“ ist der erste Band ihrer sog. „Trilogie der Väter“, dreier Romane, in denen Väter eine große Rolle spielen, die aber unabhängig voneinander zu lesen sind. „Alle, außer mir“ (unbedingt lesen!) bildet den dritten Teil.

„Eva schläft“ zeichnet die wechselvolle Geschichte der Region Süd-Tirol ab dem Ende des Ersten Weltkriegs bis heuten nach. 1919 wurde die bis dahin zu Österreich gehörende Region Italien zugeschlagen, obwohl dort in der Mehrzahl deutschsprachige Menschen wohnten. Im Roman werden die Versuche verschiedener italienischer Regierungen geschildert, die Region zu zwangsitalienisieren, die deutsche Sprache und das Brauchtum zu verbieten, die Bevölkerung zu drangsalieren und schließlich die Lösung in einer von der Bevölkerung geforderten Teilautonomie der Region zu suchen.

Diese interessante Historie der deutschsprachigen Minderheit in Italien wird sehr spannend verpackt in eine Familiengeschichte. Eva ist Anfang Vierzig. Sie hat im Leben nie einen Vater gehabt. Unehelich geboren und vom leiblichen Erzeuger nicht anerkannt wächst sie bei Verwandten auf. Ihre Mutter Gerda muss weit entfernt arbeiten. Allerdings gab es für einige Zeit den Partner ihrer Mutter, Vito, der die Vaterstelle liebevoll vertreten hatte. Eva hat diesen aus den Augen verloren, erhält aber überraschend einen Anruf von ihm, da dieser im Sterben liegt und sie noch einmal sehen möchte. Voller gemischter Gefühle macht Eva sich auf eine lange Zugfahrt durch ganz Italien, um Vito zu besuchen. Abwechselnd schildert Eva ihre jetzige Situation und in der Rückblende die Geschichte der Herkunft ihrer Mutter Gerda in Süd-Tirol. Die gesellschaftlichen Umstände der Zeit des Faschismus in Italien, der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und der Terroranschläge in den 1970er Jahren werden plastisch.

Die Geschichte ist vielschichtig und abwechslungsreich, sie entwickelt Sogwirkung durch die sehr gekonnte Erzählweise der Autorin. Die Konsequenzen der politischen Fragen kommen dem Leser ganz nahe durch das persönliche Schicksal der einzelnen Personen. Werden die Süd-Tiroler Erfolg haben mit ihren Forderungen nach Gleichbehandlung, nach ihrer hergebrachten Sprache? Sollten deutsch- und italienischsprachige Bevölkerung getrennt werden, in getrennten Schulen unterrichtet werden und einander möglichst nicht heiraten, um die Süd-Tiroler Identität erhalten zu können? Was macht der Befreiungskampf mit den Familien, die ihn kämpfen? Und wie spielen die moralischen Vorstellungen der Zeit zur Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein, mit ihrer Ablehnung von Sexualität außerhalb der Ehe, von Homosexualität und der mangelnden Durchsetzung von Arbeitnehmer- und Frauenrechten?

„Ich habe keinen Vater bekommen, weder als ich zur Welt kam, noch danach mit Vito. Ich habe keinen Ehemann und keine Kinder bekommen. Ich habe weder Brüder noch Schwestern bekommen, mit denen ich das anstrengende Los hätte teilen können, Tochter dieser Mutter zu sein. (…) Mein ganzes Leben lang werfe ich schon mit aus Flicken zusammengesetzten Bällen auf Blechdosen, ohne sie jemals zu treffen. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass mir so langsam die Bälle ausgehen.“ (S. 408)

Francesca Melandri ist ein wohl recherchiertes Meisterwerk gelungen. Eva ist eine Frau des 21. Jahrhunderts, die sich mit ihrer Identität als Italienerin, Tirolerin, als Frau und als Tochter auseinandersetzt. Viele Frauen dieser Tage werden sich mit Eva identifizieren können. Sie macht es sich nicht leicht und urteilt nicht vorschnell über die Elterngeneration. Es ist die Geschichte einer Frau mitten im heutigen Europa, in dem Landesgrenzen durch freien Grenzverkehr verwischen, die Zugehörigkeit zu Volksgruppen für einige wichtiger wird, die nach Unabhängigkeit streben, für andere aber zu Gunsten des Gefühls des „Europäischseins“ an Gewicht verliert.

Diese feinsinnig verwebte Geschichte ist ein Lesegenuss, der Familiengeschichte und Weltgeschichte unglaublich spannend vereint. Sehr empfehlenswert!

Eva schläft, Francesca Melandri, aus dem Italienischen von Bruno Genzler, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2018, 448 Seiten, 15,90 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)


Zusatz-Info:
Der zweite Band der „Trilogie der Väter“ ist im März 2019 unter dem Titel „Über Meereshöhe“ im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und kostet 13,90 EUR.

Sonntag, 21. April 2019

Fröhliche Ostern, Ihr Bücherfreundinnen und Buchliebhaber!

Die Buch-Lady wünscht allen Buchliebhabern, Bücherfreundinnen und Leseverrückten fröhliche Ostern!

Ich hatte gestern bereits Glück und wurde von einem wilden Buch gefunden. Die viereckigen sind meine liebsten Ostereier!














Nun mache ich weiter mit meinem gemütlichen langen Lesewochenende. Ich hoffe, Ihr genießt die freien Tage und die Sonne.


Dienstag, 16. April 2019

Alte weiße Männer, Sophie Passmann


Wer ist eigentlich der alte weiße Mann? Der an allem schuld ist? Wegen dem die Welt nicht vorwärts geht, Frauen keine Chefsessel besetzen und weniger verdienen als Männer? Gibt es den überhaupt? Sophie Passmann hat sich einen Sommer lang auf die Suche gemacht nach diesem „Feindbild“. Sie hat 16 erfolgreiche Männer besucht und ihnen auf den Zahn gefühlt mit der provozierenden Frage, ob sie sich denn dazu zählen, zu diesen alten weißen Männern. So richtig zugeben mochte das niemand. Aber unter den sechzehn ist schon der eine oder andere…

Sophie Passmann hat sich umgehört bei Medienschaffenden wie Kai Diekmann (Ex-Bild-Chefredakteur) und Ulf Poschardt (Chefredakteur der Welt), bei Politikern wie Robert Habeck (Bundesvorsitzender der Grünen) und Juso-Chef Kevin Kühnert, bei IT-Spezialist Sascha Lobo und Alt-68er Rainer Langhans, sogar vor ihrem Vater machte die 25jährige Feministin nicht Halt („Wer mich zur Tochter hat, braucht auch keine Feinde mehr.“, S. 152). Und wozu das? Der Untertitel des Buches heißt „Ein Schlichtungsversuch“. Auch wenn es mancher nicht glauben mag, aber der Feminismus ist ja kein Selbstzweck. Sophie Passmann versucht herauszufinden, wie man den Geschlechterkampf beenden könnte. Und miteinander ins Gespräch zu kommen, hilft immer, findet sie. Sie ist losgezogen um zuzuhören. Und um herauszufinden, wie man den alten weißen Mann (wenn es ihn denn gibt) überzeugen könnte und zum Wandel motivieren. Die Idee ist schon im Ansatz lobenswert, denn Passmann schont dabei weder die Männer, noch sich selbst.

Sophie Passmann hat Interviews mit einflussreichen Männern verschiedener Branchen und Altersgruppen geführt. Mit ihrer frechen, scharfen Zunge hat sie Fragen gestellt, den Interviewten aber nicht zu viel Feedback zugemutet (der Mann an sich ist ja sensibel), sondern sich dieses für das Niederschreiben der Interviews aufgehoben. So darf die Leserin teilhaben an Passmanns Gedanken, ihren Beobachtungen des Umfelds (des Büros, der Wohnung oder des Lieblingscafes der Interviewten). Und diese sind zum Schreien komisch. Manche Antworten der Herren strahlen schon für sich eine gewisse Komik, wenn nicht gar Tragik aus – wenn auch zuweilen unbeabsichtigt. So etwa wenn Rainer Langhans den Opfern der MeToo-Debatte vorschlägt sich zu fragen, „Wieso kann der mich eigentlich immer zum Opfer machen?“ und meint, das Opfer müsse lernen „für das Verantwortung zu übernehmen, was es mit seinem Verhalten die ganze Zeit über hervorgebracht hat“. (S. 278)

Das Schönste an diesem Buch ist aber, dass Sophie Passmann auch sich selbst stets kritisch hinterfragt und über sich selbst lachen kann. Etwa wenn das Gespräch in eine ihr nicht ganz genehme Richtung läuft und Männer von ihrer Benachteiligung in der Erziehungsarbeit sprechen, oder ihr eigene Klischees und blinde Flecken auffallen. Sie bleibt fröhlich, auch wenn sie sich einiges anhören muss. Da werden ihr Begriffe wie „Opfer-Feminismus“ angeboten, die Frauenquote finden fast alle doof und schon das Wort „Feminismus“ scheint vielen Übelkeit zu erzeugen. Da schon das Wort so unsexy ist, schlägt Kai Diekmann ein „Rebranding“ vor. Micky Beisenherz erklärt, dass der „Feminismus für die Gesellschaft das (ist), was das Rauchverbot für Kneipen war“ (S. 114). Man muss sich eben erst daran gewöhnen. Wir lernen im Gespräch mit Sascha Lobo, dass die „Werkeinstellung“ im Leben für einen weißen Mann die beste ist. Er dringt schnell zum Kern der Sache vor, indem er reflektiert:

„Wenn man solch einen Startvorteil hat, ist es ganz schwer zu abstrahieren, dass deine Leistung nicht nur deine Leistung ist, sondern auch deinem Status geschuldet ist, den du nicht selbst verschuldet hast.“ (S. 23)

Kevin Kühnert fragt sich zur paritätischen Besetzung von Parteigremien kritisch:
„Habe ich das jetzt eigentlich nur wegen der Quote gemacht oder hätte ich das ohne eine Quote aus meinem Menschenbild heraus gemacht? Und ich möchte gerne, dass ich es aus meinem Menschenbild heraus gemacht hätte, aber ich kann es dir nicht beantworten, weil ich immer nur Politik in einer Partei gemacht habe, die mit Quoten arbeitet.“ (S. 261)
Es sind gewichtige gesellschaftliche Fragen, die in Sophie Passmanns Buch klug beleuchtet werden. Dennoch liest sich der Text locker-flockig und unheimlich witzig durch den wunderbaren Humor der Autorin und manches Interviewten.

So macht Feminismus Spaß! Lesen, lachen und mehr davon!

Alte weiße Männer, Sophie Passmann, Kiepenheuer & Witsch Verlag Köln 2019, 304 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Böses Glück, Tove Ditlevsen

Endlich liegen einige von Tove Ditlevsens Kurzgeschichten erstmals in deutscher Übersetzung vor! Die englische Version hatte ich bereits hie...