Dienstag, 27. Dezember 2022

Zur See, Dörte Hansen

Nachdem ich bereits Dörte Hansens Romane „Altes Land“ und „Mittagsstunde“ gern gelesen hatte, war ich gespannt auf „Zur See“. Wie die beiden Vorgängerromane spielt das Buch in Norddeutschland, was mir als Hamburgerin gefiel.

Der Roman nimmt uns mit auf eine nicht benannte friesische Insel und ihren Bewohnern. Das Buch kommt ohne eine Handlung im engeren Sinne aus und ist mehr eine Panoramabeschreibung des Lebens auf der Insel. Der Sommer ist geprägt von den Feriengästen, der Winter von Einsamkeit und rauem Wetter. Jedes Kapitel widmet sich einem Insulaner oder einer Insulanerin und beschreibt „Typen“. Da gibt es die Frau eines früheren Seemanns, der jetzt als Vogelwart auf einer Nachbarinsel die Brutpaare zählt. Deren Kinder können sich auch nicht von der Heimat losreißen, der eine arbeitet auf einem Schiff, die andere im Seniorenheim der Insel, der dritte Bruder fertigt Kunstwerke aus Treibgut. Der Inselpastor hält die Seelen notdürftig zusammen.

Insgesamt ist die Erzählweise sehr langsam, aber erstaunlich rhythmisch. Der Text reimt sich nicht, liest sich aber fast wie ein Gedicht, und das durchgängig bis zur letzten Seite! Die Sätze rollen wie die Wellen an den Strand. Das ist kunstvoll gemacht, aber auch gewöhnungsbedürftig. Anders als in den anderen Büchern kommt kein Plattdeutsch vor, obwohl die „Inselsprachen“ eine Rolle spielen. Damit sind aber wohl deutlich schwerer allgemein verständliche friesische Dialekte gemeint.

Wir schauen auf das alltägliche Leben der Inselbewohner wie mit einer zufällig auf sie gerichteten Kamera. Das muss man mögen. Ich hätte mir etwas mehr Handlung und damit Spannung gewünscht, aber das ist sicher Geschmackssache. Zwar passiert hier und da eine Veränderung, aber wir sind als Leserinnen eher zufällig dabei, wie sich das Leben weiterentwickelt. Die Menschen leben nebeneinander her, die Perspektive springt von einem zum anderen. Insgesamt geht es um die Veränderungen des Insellebens, wie die Touristen es wahrnehmen möchten. Die Fischer können nicht mehr von der Fischerei leben, das Seemannsleben spielt sich nicht mehr auf Walfängern, sondern auf der Inselfähre ab, der angeschwemmte Wal fängt schnell an zu stinken und muss zerlegt werden, ehe sein Gedärm explodiert. Es ist eine sterbende Welt, in der die Trachten nur noch für die Besucher getragen werden. Dies bedingt die melancholische Grundstimmung des Buches.

„Diesmal drehte der Orkan vor Allerheiligen am Ende doch noch auf Nordost, bevor das Wasser zu hoch steigen konnte. Er riss dann nur die Kiefern aus dem Dünensand. Der Inselwald sieht aus, als hätten Riesen einmal durchgejätet.“ (S. 102)

Ein sprachlich interessantes Buch, das mir zu handlungsarm war, um mich zu fesseln. Dörte Hansens frühere Romane haben mich mehr angesprochen. Wer einen sehr ruhigen Erzählfluss schätzt, wird es mehr mögen als ich.

Zur See, Dörte Hansen, Penguin Verlag, München, 2022, 256 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 10. Dezember 2022

Prosaische Passionen, Sandra Kegel (Hrsg.)

Vor hundert Jahren gab es noch nicht so viele schreibende Frauen – das hört frau immer wieder als Antwort auf die Frage, warum der Literaturkanon so männlich (und weiß) ausfällt. Das Auswahlkriterium sei selbstverständlich nur die literarische Qualität, nicht das Geschlecht oder die Herkunft. Wirklich?

Das vorliegende Buch ist eine wunderschön gestaltete Schatzkiste, die diese Behauptungen ad absurdum führt. Es versammelt 101 Geschichten, ausschließlich von Autorinnen der Moderne, also der Geburtsjahrgänge von ca. 1845 bis 1920, aus allen Teilen der Welt. Die Werke wurden aus 25 verschiedenen Sprachen übersetzt und liegen teilweise erstmals auf Deutsch vor. Wie viel aus dem Koreanischen, Persischen oder der Sprache Urdu übersetzte Prosa kennt Ihr? Wie viele Autorinnen vom afrikanischen Kontinent oder aus Neuseeland sind Euch geläufig? Eben. Aber es gibt sie – nicht erst seit gestern - und sie sind großartig!

Ein umfangreiches Nachwort der Herausgeberin Sandra Kegel ordnet die literarische Epoche der Moderne ein und informiert über die Lebens- und Arbeitsbedingungen schreibender Frauen in aller Welt. Kegel erklärt die Herangehensweise an die vorliegende Zusammenstellung, in der große, bekannte Namen wie Agatha Christie, Virginia Woolf oder Selma Lagerlöf neben in Deutschland völlig unbekannte Autorinnen wie Tekahionwake oder im Schatten von Männern stehenden Frauen wie Sofia Tolstaja (die Ehefrau von Lew Tolstoi) gestellt werden. Um tiefer eintauchen zu können, werden im Anhang die Lebensgeschichten aller enthaltenen Autorinnen dargestellt.

Die Kurzgeschichten in dieser Sammlung sind so unterschiedlich und vielfältig wie die Frauen der Welt es sind. Da gibt es z.B. „Eine ganz überflüssige Bekanntschaft“ (S. 5 ff), in der Sofia Tolstaja die Begegnung einer Dame mit einem Musiker beschreibt, der ihr ein ungeahnt intensives Hörerlebnis beschert.

Die Waliserin Kate Roberts erzählt in „Heimkehr“ (S. 388 ff) von einer Frau, die gleichzeitig alt und doch ein junges Mädchen, verstrickt in ihre Kindheitserinnerungen zu sein scheint, übersetzt aus dem Walisischen. Einerseits als altes Weiblein verspottet von Schuljungen, spricht sie andererseits mit ihren Eltern und zitiert walisische Kinderreime wie früher.

Besonders gefallen hat mir eine Kurzgeschichte von Marlen Haushofer mit dem Titel „I’ll Be Glad When You‘re Dead…“ (S. 763 ff). Es ist das Gespräch einer geschiedenen Ehefrau mit ihrer Freundin, von dem wir nur den Part der monologisierenden Ehefrau lesen, die sich Kognak trinkend den Abend versüßt, während sie der Freundin (und sich selbst) den Grund des Scheiterns ihrer Ehe erklärt.

„Du bist also weggefahren, und ein paar Monate später hab‘ ich gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Ja, sofort hab‘ ich’s gemerkt. Karl hat nämlich angefangen zu seufzen. Ja, zuerst hab‘ ich auch gelächelt, warum sollte ein Mann, der den ganzen Tag angestrengt arbeitet, am Abend nicht seufzen? Später hab‘ ich mich geärgert über die Seufzerei. Er hat es nicht einmal gemerkt, ist nur still in seinem Sessel gesessen und hat geseufzt.

Was? Wie oft, ich hab‘ es nicht gezählt, findest du das so wichtig? Vielleicht durchschnittlich jeden Abend drei-, viermal. Das ist schon möglich, dass dein erster Mann mindestens zehnmal geseufzt hat und dein jetziger es auch tut, das gehört doch nicht zur Sache. Es ist eben ein Unterschied, wer seufzt. Und wenn Karl drei-, viermal geseufzt hat, so hat das mehr zu bedeuten, als wenn einer deiner Männer hundertmal seufzt.“ (S. 767)

Eine völlig andere Weltsicht begegnet der Leserin in der Geschichte „Eine Heidin in St. Paul’s Cathedral“ (S. 53 ff), übersetzt aus dem Onondaga-Englisch, verfasst von der indigenen Kanadierin Tekahionwake. Sie wurde als Tochter eines Mohawk-Häuptlings und einer Engländerin in einem Reservat in Ontario geboren. Anlässlich ihres ersten Besuchs in der Hauptstadt der Kolonialmacht England schildert sie ihre Eindrücke der alten Welt. Den König von England bezeichnet sie als den „Großen Weißen Vater“, der „im Hohlraum seiner Hände den Frieden zwischen den einst miteinander verfeindeten Roten und Weißen bewahrt“, der in seinem „Wigwam“ lebt, „von den Bleichgesichtern Buckingham Palace genannt“ (S. 53). Sie betritt die Kathedrale und weiß, dass sie sich in einem fremden sakralen Raum befindet.

„Als ich durch seinen Eingang trat, war mir, als sei es die immerwährende Siedlungsstätte des Großen Geistes vom weißen Mann.

Musik nistete überall. Sie dröhnte mir in den Ohren wie die fernen Kadenzen der Sault-Ste.-Marie-Stromschnellen, die aufsteigen und emporspringen und hochbranden – wie ein Sturm, der Tannenwald durchtost -, wie das ferne Anschwellen eines indianischen Schlachtgesangs; (…)“ (S. 54)

Ich kann dieser Zusammenstellung mit meiner Rezension nicht annähernd gerecht werden. Jede einzelne Geschichte wäre der Erwähnung wert. Das Buch ist ein Geschenk, das seine Leserinnen und Leser lange Zeit erfreuen wird.

Dieses faszinierende Buch soll auf meinem Lesetisch noch lange liegen bleiben, so dass ich es immer wieder an anderer Stelle aufschlagen und etwas Neues entdecken kann. Viele, viele Männer und Frauen sollen sich an diesen schönen Worten und Geschichten erfreuen, von denen uns etliche so lange gefehlt haben, ohne dass wir es wussten. Und dann wollen wir noch eine und noch eine und noch eine solche schöne Sammlung mit verschütteten Perlen haben. Warum sollten wir auf so großartige Literatur weiterhin verzichten?

Prosaische Passionen – Die weibliche Moderne in 101 Short Storys, Sandra Kegel (Hrsg.), Manesse Verlag, München, 2022, 928 Seiten, 40,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 3. Dezember 2022

Wenn ich mich in die Weihnachtsgeschichte hineinbeamen könnte, wäre ich…

… gern der Stern von Bethlehem. Dann wäre ich von Gott beauftragt, ein ganz besonderes Ereignis zu beleuchten. Licht in die Dunkelheit zu bringen, ist als Stern ja sowieso meine Aufgabe, das kann ich gut. Aber Gott hat mich gebeten, zu einer bestimmten Zeit ganz genau über Bethlehem stehen zu bleiben. Normalerweise ziehe ich im Laufe der Nacht meine Runde und bleibe nicht stehen, aber in diesem Dezember vor langer Zeit habe ich eine Ausnahme gemacht, weil Gott es so wollte. Er sagte, es solle ein Kind geboren werden.

Es war schon spät am Abend, da sah ich eine müde Frau mit rundem Bauch und ihren Mann von Haus zu Haus ziehen, aber niemand ließ sie ein. Ich strengte mich mächtig an und leuchtete über dem Eingang einer Höhle, die als Stall für Tiere benutzt wurde. Hier müsst ihr schauen, hier ist noch ein trockenes, geschütztes Plätzchen! Unter meinem freundlichen Schein traten sie ein. Ich konnte von draußen nichts sehen, aber auf einmal hörte ich außer dem Schnauben und Muhen der Tiere ein kleines Baby schreien. Es ist da! Es ist geboren!

Ich wusste, ich darf jetzt nicht nachlassen. Alle brauchen Licht in dieser besonderen Nacht. Die Hirten schauen in jeder Nacht zu mir auf, das weiß ich. Sie orientieren sich an mir. Aber jetzt schien ich besonders hell und zwinkerte ihnen zu, was ich sonst nie mache. Sie verstanden und liefen mir entgegen. Ich führte sie zum Stall und zu dem besonderen kleinen Jungen. Man kann arme Leute so kurz nach einer Geburt in der Fremde ja nicht einfach allein lassen, sie brauchen vielleicht Hilfe, auch das verstanden die Hirten sofort.

Plötzlich leuchtete außer mir noch etwas ganz anderes, etwas viel Helleres in dieser Nacht. Gottes Engel, ganze himmlische Heerscharen kamen auf die Erde herab und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie. Da begriffen die Hirten, dass sie Zeuge eines Wunders geworden waren. Weit, weit entfernt begriffen das auch andere Menschen, weise Männer, die sich als Sterndeuter auskannten und wussten, wenn ich von meiner Nachtrunde abweiche und zwinkere, dann hat das etwas zu bedeuten. Dann ist das ein Zeichen Gottes, das ich weitergebe. Ich blieb noch viele Tage direkt über dem Stall stehen und leuchtete, so sehr ich konnte. Denn Gott wollte, dass alle Menschen von seinem Wunder um das kleine Kind erfahren sollten. Ich blieb so lange, bis drei heilige Könige in Bethlehem ankamen und dem göttlichen Kind Geschenke brachten. Das größte Geschenk aber war das Kind selbst, das Gott der Welt gegeben hatte. Und ich bin sehr stolz, dass ich mein kleines Licht neben dem großen Licht Jesus leuchten lassen durfte, das in dieser Nacht für immer in die Welt kam.

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Ein Gedankenexperiment der Buch-Lady (Anka Willamowius) im Dezember 2022.

 

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...