„Warum sollte gerade ich, der Unsinnigste, der Überflüssigste, der Wertloseste in der Geschichte, glauben oder auch nur einen Augenblick lang in Anspruch nehmen dürfen, die Ausnahme von der Regel zu sein, davonzukommen, wo Millionen ganz einfach nicht davongekommen waren?“ (S. 24)
Lukas Kummers Zeichnungen sind wie in den drei Vorgängerbänden durch sich wiederholende Bildsequenzen gekennzeichnet, Figuren ohne Gesichter, Grau in Grau. Gespenstisch wirkt die als „Prozession“ benannte Menge der ausgemergelten Männer in Anstaltsnachthemden, die braune Glasspuckflaschen vor sich hertragen. Mit einfachen Strichen gelingt es Kummer, den Ekel der Situation real werden zu lassen, die Kälte der militärisch anmutenden Aufseher bzw. Ärzte ist mit Händen zu greifen.
Zum Schluss des Bandes sehen wir den zukünftigen Schriftsteller Thomas Bernhard hervorblitzen, der beginnt, Dinge auf kleine Zettel aufzuschreiben, der sich nach innen wendet und seine Herkunft zu beleuchten beginnt. Er begehrt auf gegen die Institution, entlässt sich auf eigene Gefahr und geht seiner Zukunft als Sänger entgegen, seiner Lungenkrankheit zum Trotz. Der vierte Band der Comicreihe zeigt den vielleicht schlimmsten Teil dieser herzzerreißenden Jugend, aber auch den Beginn der Befreiung aus den Fängen einer Gesellschaft, die dem einzelnen nichts schenkt, nicht einmal das nackte Leben.
Zwar sind die im Buch geschilderten Nachkriegszustände extrem. Sie sind aber gleichwohl insoweit aktuell, dass sie eine Klassenmedizin zeigen, in denen nur der Selbstzahler eine ausreichende Menge an Medizin erhält. Zur Gesundung braucht es mehr als ein Krankenhaus, es braucht auch Wohlbefinden, seelische Erbauung und menschliche Wärme. Dies wird mit Händen greifbar durch die erneut sehr gelungene Kombination aus Bernhards Text und Kummers Bildern dieser berührenden Graphic Novel.
Die Kälte, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2023, 112 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)