Donnerstag, 22. Juni 2023

Die Kälte, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

In „Die Kälte – Eine Isolation“ beschreibt Thomas Bernhard, wie er Anfang der 1950er Jahre mit Tuberkulose für mehrere Monate in die öffentliche Lungenheilanstalt Grafenhof eingewiesen wurde. Er schildert die dortigen menschenverachtenden Zustände, die Massenabfertigung der Kranken und die brachialen Methoden, mit denen man zu dieser Zeit versuchte, die Tuberkulose zu behandeln. Es erscheint wie ein Déja-Vu, dass der Primarius der Anstalt ein Nazi ist, der nach Kriegsende nicht von seinem Posten enthoben worden war. Wieder einmal wird der junge Thomas von einem gefühllosen Menschenschlächter in einer Masseninstitution drangsaliert. Ihm wird der Brustkorb durchstoßen und ein Pneu eingesetzt. Er ist umgeben von jämmerlichen Gestalten, von denen viele die Erholungseinrichtung nicht lebend verlassen werden.

„Warum sollte gerade ich, der Unsinnigste, der Überflüssigste, der Wertloseste in der Geschichte, glauben oder auch nur einen Augenblick lang in Anspruch nehmen dürfen, die Ausnahme von der Regel zu sein, davonzukommen, wo Millionen ganz einfach nicht davongekommen waren?“ (S. 24)

Lukas Kummers Zeichnungen sind wie in den drei Vorgängerbänden durch sich wiederholende Bildsequenzen gekennzeichnet, Figuren ohne Gesichter, Grau in Grau. Gespenstisch wirkt die als „Prozession“ benannte Menge der ausgemergelten Männer in Anstaltsnachthemden, die braune Glasspuckflaschen vor sich hertragen. Mit einfachen Strichen gelingt es Kummer, den Ekel der Situation real werden zu lassen, die Kälte der militärisch anmutenden Aufseher bzw. Ärzte ist mit Händen zu greifen.

Zum Schluss des Bandes sehen wir den zukünftigen Schriftsteller Thomas Bernhard hervorblitzen, der beginnt, Dinge auf kleine Zettel aufzuschreiben, der sich nach innen wendet und seine Herkunft zu beleuchten beginnt. Er begehrt auf gegen die Institution, entlässt sich auf eigene Gefahr und geht seiner Zukunft als Sänger entgegen, seiner Lungenkrankheit zum Trotz. Der vierte Band der Comicreihe zeigt den vielleicht schlimmsten Teil dieser herzzerreißenden Jugend, aber auch den Beginn der Befreiung aus den Fängen einer Gesellschaft, die dem einzelnen nichts schenkt, nicht einmal das nackte Leben.

Zwar sind die im Buch geschilderten Nachkriegszustände extrem. Sie sind aber gleichwohl insoweit aktuell, dass sie eine Klassenmedizin zeigen, in denen nur der Selbstzahler eine ausreichende Menge an Medizin erhält. Zur Gesundung braucht es mehr als ein Krankenhaus, es braucht auch Wohlbefinden, seelische Erbauung und menschliche Wärme. Dies wird mit Händen greifbar durch die erneut sehr gelungene Kombination aus Bernhards Text und Kummers Bildern dieser berührenden Graphic Novel.  

Die Kälte, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2023, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 21. Juni 2023

Der Atem, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

Im dritten Band der von Lukas Kummer gestalteten Graphic Novels zu Thomas Bernhards autobiografischem Werk erleben wir den ca. achtzehnjährigen Thomas erneut in einer ihm verhassten Institution. Eine verschleppte Erkältung bringt ihm eine nasse Rippenfellentzündung ein. Dem Tode nahe wird er ins Krankenhaus eingeliefert, einer „Todesproduktionsstätte“ (S. 36). Dort findet er sich im „Sterbezimmer“ (S. 36) wieder, einem Raum mit sechsundzwanzig Betten, das so gut wie niemand lebend verlässt. Eines nachts wacht er im Badezimmer auf, in das die drei Kranken geschoben werden, deren Ableben als nächstes erwartet wird.

Thomas ist (wie schon in seiner Internatszeit im Krieg) überall vom Tod umgeben. Die letzte Ölung wird ihm erteilt, Särge werden aus dem Raum getragen, es röchelt und hustet um ihn herum. Doch dann kommt es zu einem Wendepunkt:

„Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden.“ (S. 21)

Der geliebte Großvater, der ebenfalls im Krankenhaus liegt, besucht den Jungen täglich und malt ihm seine Zukunft in den rosigsten Farben aus. Er versucht ein Gegengewicht zu schaffen zu dem Grauen von Tod und Verzweiflung, das im Sterbezimmer nur verwaltet wird. Wie schon im Internat beschreibt Bernhard eine unrühmliche Rolle der katholischen Kirche, einen Geistlichen, der die letzte Ölung am Fließband in abstoßender Weise erteilt und niemandem nützt.

Die Bilder dieser Graphic Novel sind faszinierend. Grau in Grau liegt das Krankenzimmer da, ein Patient gleicht dem anderen, alle sind ihrer Individualität beraubt durch die unmenschlichen Zustände in dieser Anstalt. Sicher nicht zufällig sieht der Ständer für die Infusionslösungen neben jedem Bett aus wie ein christliches Kreuz, ein vorweggenommenes Grab. Wenn man denn überhaupt so weit sehen kann. Thomas´ Deliriumszustände werden effektvoll dargestellt durch verschwommene Linien und Umrisse der Figuren, denn mehr kann der Junge nicht erkennen in seinem Fieber. Ungeahnte Wärme kommt in die Geschichte durch die Darstellung der sich verändernden Beziehung des jungen Thomas zu seiner ihn besuchenden Mutter. Diese ist plötzlich zugewandt, wird bildlich nicht mehr geistig abwesend am Rande, sondern in echtem Kontakt mit dem Sohn dargestellt, und das alles, ohne der gezeichneten Figur ein Gesicht zu geben.

Eine meisterhafte Graphic Novel über das Leben als Akt des Willens und eine menschenverachtende Krankenpflege, in der jeder sich allein zur Genesung kämpfen muss. Durch die Coronapandemie haben diese Bilder von massenhaft Kranken und Toten eine neue Aktualität bekommen. Ein empfehlenswertes Buch zum Tiefdurchatmen!

Der Atem, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2021, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Dienstag, 20. Juni 2023

Der Keller, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

Der spätere Autor Thomas Bernhard war ein unglückliches Kind. In seinem Buch „Die Ursache“ schildert er die Grausamkeiten, denen er im Internat ausgesetzt gewesen war. In dem ebenfalls autobiografischen Werk „Der Keller“ erfahren wir, wie Thomas als Jugendlicher sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Entgegen der Meinung seiner Familie, dass höhere Bildung zum Lebenserfolg gehöre, weiß Thomas, dass für ihn nur die entgegengesetzte Richtung die Lösung sein kann!

In Lukas Kummers eindrücklichen Zeichnungen sehen wir, dass Thomas die Richtung zunächst in geografischer Richtung meint, also vom Stadtzentrum Salzburgs, in dem sich das Gymnasium befindet, wegläuft in Richtung Stadtrand. Sein Weg führt über das Arbeitsamt direkt in die berüchtigte Scherzhauserfeldsiedlung, „das Salzburger Schreckensviertel“ (S. 24). Bei dem Kaufmann Podlaha beginnt er eine Lehre in dessen im Keller liegenden Lebensmittelgeschäft. Wo andere die Vorhölle sehen, fühlt Thomas zum ersten Mal eine Zukunft aufkeimen. Denn so nützlich wie in einem Lebensmittelgeschäft, und mag es auch in einem Keller sein, ist man so kurz nach dem Krieg in einem armen Wohnviertel nur selten. Endlich ist Thomas in der Schule des Lebens angekommen.

„Mein Großvater hatte mich im Alleinsein und Fürsichsein geschult, der Podlaha im Zusammensein mit Menschen, und zwar im Zusammensein mit vielen und mit den verschiedensten Menschen. (…) Mein Großvater hatte mich die Menschen aus großer Distanz beobachten gelehrt, der Podlaha konfrontierte mich direkt mit ihnen.“ (S. 64)

Im Gegensatz zum Vorgängerband herrscht ein heiterer, fast optimistischer Erzählton, gespiegelt in lockeren Bildern, die Thomas zum Teil beim Bergwandern mit dem geliebten Großvater zeigen. Die Enge der großbürgerlichen Innenstadt taucht nur als Kontrast zum geräumigen Kellergeschäft auf. Wie auf Schwarzweißfotografien in einem Familienalbum gehen wir Thomas´ Weg in die Zukunft mit.

Lukas Kummer trifft erneut den Nerv des Textes mit seinen Zeichnungen. Da möchte man am liebsten auch gleich zum Einkaufen in den Keller des Podlaha laufen. Eine schöne Fortsetzung der Comicreihe zu Bernhards autobiografischem Werk!

Der Keller, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2019, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 17. Juni 2023

Die Ursache, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

Der Autor Thomas Bernhard ist nicht gerade als Menschenfreund bekannt. Er grantelte auch permanent über seine Heimat Österreich. Nach der Lektüre von „Die Ursache“ wundert mich beides nicht mehr. Bernhard berichtet darin autobiographisch über seine Internatszeit in Salzburg in den 1940er Jahren. (Der Text erschien erstmals 1975.) Lukas Kummer hat daraus eine Graphic Novel mit großer Wucht gemacht.

Die in Grauschattierungen gehaltenen Zeichnungen schleudern der Leserin die Einförmigkeit des Alltags, die Gewalt und die Verzweiflung eines Kindes wie einen Schlag ins Gesicht entgegen. Ich habe das Buch in einem Zug gelesen und musste es danach erstmal sacken lassen. Der Teenager Thomas ergeht sich über Jahre in permanenten Selbstmordgedanken – und wer könnte es ihm verdenken. Er kann nicht begreifen, dass Menschen, die ihn lieben, ihn einer solchen grausamen Umgebung wie dem Internat ausliefern. Er wird grundlos geschlagen von einem SA-Offizier, gemobbt von stärkeren Schülern, gedrillt wie auf einem Kasernenhof. Dazu kommt der Bombenterror zwischen 1943 und 1944, vor dem die Schüler Schutz in Stollen unter der Erde suchen, die jedoch so eng sind, dass Menschen darin ersticken. Der Kriegsalltag ist buchstäblich mit Leichen gepflastert, die nach den Angriffen überall sichtbar herumliegen.

Als der Krieg vorbei und das Internat geschlossen ist, hofft Thomas auf eine Verbesserung. Vergeblich, denn das Nazi-Internat wird von der katholischen Kirche übernommen. Das Erschreckende ist, dass sich der Alltag in der Schule dadurch so gut wie gar nicht verändert. Es wird nur einem anderen Herrn gehuldigt. Die Gewalt bleibt. Der Junge ist gebrochen und kommt zu einem nachvollziehbaren Schluss:

„… betrachtete die Schule bald nurmehr noch instinktiv als das, was sie heute bei klarem Verstand für mich ist, eine Geistesvernichtungsanstalt.“ (S. 96/97)

Bernhards Urteil über die Natur des Menschen, das er sich in seiner Schulzeit bildete, fällt vernichtend aus:

„Zuerst wird der Mensch, und der Vorgang ist ein tierischer, erzeugt und geboren wie ein Tier und immer animalisch behandelt, (…), von den durch und durch stumpfsinnigen, unaufgeklärten, ihre egoistischen Zwecke verfolgenden Erzeugern als Eltern oder ihren Stellvertretern aus ihrem eigenen Mangel an tatsächlicher Liebe und Erziehungskenntnis und -bereitschaft stumpfsinnig und egoistisch wie ein Tier gefüttert und behandelt und nach und nach in seinen hauptsächlichen Gefühls- und Nervenzentren eingeebnet und gestört und zerstört, und dann (…) übernimmt die Kirche (…) die Vernichtung der Seele des neuen Menschen, und die Schulen begehen im Auftrag und auf Befehl der Regierungen (…) den Geistesmord.“ (S. 67/68)

Unterlegt ist der eben zitierte Satz von Bildern eines Mannes, der ein Kind schlägt, über viele Bilderfolgen lang einfach schlägt.

Die Graphic Novel von Lukas Kummer erleichtert die Lektüre von Thomas Bernhards sonst schwer zu lesendem Text und fügt ihm eine enorme Tiefe und Erlebbarkeit durch die einfachen, aber extrem eindrucksvollen Zeichnungen hinzu. Das Thema der Traumatisierung durch Gewalt und Institutionen ist nach wie vor aktuell. Das Buch ist schnell zu lesen, um lange nachzuwirken!

Die Ursache, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2018, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Montag, 12. Juni 2023

Helga Schubert über Anton Tschechow

Helga Schubert hat sich den russischen Schriftsteller Anton Tschechow zum Vorbild genommen. Neben seinem klaren Stil ohne Pathos hat sie von ihm die Technik übernommen, jeden Text auf den letzten Satz hin zu schreiben. Beim Beginn jedes Textes kennt sie den letzten Satz also schon, berichtete sie auf ihrer Lesung im Literaturhaus Hamburg in diesem Monat. Mit ihrem Vorbild hat Helga Schubert weiterhin gemein, dass sie an mehreren Texten gleichzeitig arbeitet, hoffentlich aber nicht wie Tschechow aus Geldnot. Das vorliegende Buch schrieb sie gleichzeitig mit ihrem ebenfalls gerade erschienenen Buch „Der heutige Tag“ (dtv).

Tschechows kurze Erzählung „Gram“ bzw. „Kummer“ (in anderer Übersetzung) hat es Helga Schubert besonders angetan. Sie habe sie bestimmt hundertmal gelesen. Schubert analysiert begeistert die Struktur dieser Erzählung, die abschnittsweise im vorliegenden Buch abgedruckt ist. Ein alter Kutscher hat seinen Sohn verloren und bemüht sich mehrfach erfolglos einen Menschen zu finden, dem er sein Leid über den Tod klagen kann. Schließlich erzählt er seinem Pferdchen davon, das verständnisvoll schnaubt. Helga Schubert erkennt sich in allen in der Erzählung benannten Figuren wieder, am meisten jedoch in dem Pferdchen.

„Aber ich war auch zeitlebens das Pferd, dem man schließlich alles erzählen konnte, vom verworrenen, manchmal scheiternden, schamvollen Dasein, von der Untreue, vom Verfluchen und Verfluchtwerden, von einer hoffnungslosen Liebe. (…) Ja, genau genommen war ich das Pferd für andere Menschen.“ (S. 41)

Die studierte Psychologin Schubert spielt an auf ihre langjährige Tätigkeit als Psychotherapeutin, möglicherweise aber auch auf die Beziehung zu ihrem inzwischen pflegebedürftigen, dementen Mann, dem sie immer noch geduldig zuhört. (Hiervon schreibt sie in „Der heutige Tag“.) Ebenso wie Tschechow ist Helga Schubert eine interessierte Beobachterin von Menschen, denn irgendwo müssen Inspirationen für Charaktere der Erzählungen ja herkommen.

Es macht Freude, Helga Schubert und ihrer Hommage an Tschechow zu lauschen, denn sie ist eine Kennerin. Nicht nur hat sie alle seine Werke und Briefe gelesen, sondern sie hat auch auf Reisen in die UdSSR Lebensorte von Tschechow besucht. Vor allem aber tönt die Liebe zum Schreiben und zu den beschriebenen Menschen aus jeder Zeile dieses Buches. Einfach schön.

Helga Schubert über Anton Tschechow, Herausgeber: Volker Weidermann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2023, 112 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...