Donnerstag, 11. März 2021

Das achte Kind, Alem Grabovac

Der 1974 in Würzburg geborene Autor ist der Sohn einer Kroatin und eines Bosniers, die sich als Gastarbeiter in Deutschland kennengelernt hatten. Er erzählt die autofiktionale Geschichte seines Aufwachsens, die vor allem eine Geschichte der versagenden Vaterfiguren ist.

Alems leiblicher Vater Emir ist ein Trinker und Kleinkrimineller, ein so unzuverlässiger Kerl, dass seine Mutter es von vornherein ausschließt, das gemeinsame Kind in seiner alleinigen Obhut lassen zu können. Er geht keiner geregelten Arbeit nach und lebt vom Taschendiebstahl, so dass die Mutter sofort wieder (ungelernt und für einen Hungerlohn) arbeiten gehen muss. Erreichbare Kindergärten gab es nicht. Wohin mit dem Kind?

„Was bist du nur für ein Mensch? Gestern hast du einen Sohn bekommen und heute liegst du besoffen im Bett. Du stinkst nach Zigarettenqualm und Schnaps, hast wahrscheinlich die ganze Nacht gesoffen und uns vergessen. Du hast mich bestohlen, du Arschloch! (…) Wir mussten den ganzen Weg vom Krankenhaus hierherlaufen. Durch den Schnee. Schämst du dich nicht? Wo warst du, verdammt nochmal?“ (S. 24)

Mutter Smilja gibt ihren sechs Wochen alten Sohn in eine deutsche Pflegefamilie. Diese hat neben sieben leiblichen Kindern, die teilweise schon aus dem Haus sind, bereits fünf Pflegekinder aus Gastarbeiterfamilien. Die leiblichen Eltern holen ihre Kinder nur an den Wochenenden zu sich nach Hause.

Die Trennung allein wäre schon schlimm genug. Doch die Wochenenden sind von Armut, Alkoholsucht und Verwahrlosung geprägt. Smilja beruhigt ihr schlechtes Gewissen mit einem Übermaß an Schokolade und Fernsehen für das Kind. Die Pflegefamilie geht zwar liebevoll mit allen Kindern um, doch sind sie geprägt vom erlebten Nationalsozialismus. Vor allem der Pflegevater Robert bringt Alem bei, dass Juden nicht zu trauen sei, Panzer das größte sind und Hitler viel Gutes getan habe, was man allerdings öffentlich leider nicht mehr sagen dürfe.

Zu allem Überfluss sucht sich Alems Mutter nach der Trennung von Emir einen neuen Freund, der ebenso nichtsnutzig und dazu ein gewalttätiger Alkoholiker ist. Die Wochenenden werden für Alem zum Alptraum. In den Ferien wird er auf Urlaub nach Jugoslawien mitgenommen, wo er die unfassbare Armut sieht, in der seine Mutter aufgewachsen ist. Sowohl die Mutter als auch die Pflegemutter können Alem nicht ausreichend vor all den schädlichen Einflüssen schützen, denen der Junge ausgesetzt ist.

Der Autor, dem es trotz dieser Umstände gelungen ist zu studieren und eine eigene Familie zu gründen, berichtet in neutralem Ton von seinem Leben und gibt einen Einblick in die Herkunftsfamilie seiner Mutter. Die Zustände in Jugoslawien und den Ausbruch des Krieges in den 1990er Jahren nimmt er am Rande mit in den Blick. Es geht aber insbesondere um die persönlichen Beziehungen und die Prägung durch die drei Vaterfiguren. Die gesellschaftlichen Zustände der 1970er und 80er Jahre erstehen auf mit ihren biederen, dunklen Holzmöbeln, eine Zeit, in der man Kinder noch Zigaretten kaufen schickte und Mütter eigentlich zuhause bleiben sollten. In dem Roman ist keine Bitterkeit zu spüren, sondern nur Überforderung und Einsamkeit. Sprachlich ist der Roman kein großer Wurf, vor allem die Teile, an die der Autor sich selbst nicht erinnert haben kann, sie aber dennoch aus der Ich-Perspektive schildert. Dennoch ist die Geschichte sehr berührend. Es ist kaum vorstellbar, welches Leid die Erwachsenen diesem Kind von Anfang an zugemutet haben, wie viele Kontaktabbrüche und Enttäuschungen. Dennoch ist Alems Geschichte wohl kein Einzelfall. Es wird vielen Gastarbeiterkindern ähnlich ergangen sein, wenn sie nicht zu den Großeltern in die Heimatländer gegeben wurden.

Der Roman erzählt die spannende Geschichte eines Kindes, das sich entgegen aller Vernachlässigung und Gewalt entwickelt hat, allen schlechten Vorbildern zum Trotz. Ich musste das Buch in einem Zug durchlesen.

Das achte Kind, Alem Grabovac, Verlag Hanser blau, München 2021, 256 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Mittwoch, 10. März 2021

Das tiefe Blau der Worte, Cath Crowley

Das schöne an diesem Roman ist, dass er zu großen Teilen in einem Buchladen spielt. In einem Laden für gebrauchte Bücher in einem Vorort von Melbourne, um genau zu sein. Die Charaktere sind den Büchern natürlich sehr zugetan, was sie schon sehr sympathisch macht. Hinzu kommt, dass es in diesem Buchladen eine ganz besondere Einrichtung gibt, die Briefbibliothek. Die Bücher in einem bestimmten Regal dürfen weder gekauft noch ausgeliehen, aber von jedem gelesen und mit Anmerkungen versehen werden.

„Sie heißt Briefbibliothek, weil eine Menge Leute nicht nur Kommentare an den Rand schreiben – sie schreiben ganze Briefe und legen sie zwischen die Seiten eines Buchs. Briefe an den Autor oder an die diebische Ex-Freundin, die ihre Ausgabe von High Fidelity mitgenommen hat. Meistens jedoch schreiben sie an Fremde, die dieselben Bücher mögen wie sie – und manchmal schreibt einer von diesen Fremden zurück.“ (S. 46)

Die Buchhandlung gehört Henrys Familie. Alle Familienmitglieder einschließlich Henry und seiner Schwester George arbeiten mit und lieben es. Leider wirft der Laden nicht sehr viel Profit ab, so dass die Familie über einen Verkauf nachdenken muss. Rachel war lange Henrys beste Freundin, zog vor drei Jahren weg und ist nun wieder in die Stadt zurückgekehrt. Ein Missverständnis steht zwischen ihnen. Auch hat Rachel niemandem erzählt, dass ihr Bruder Cal vor zehn Monaten beim Schwimmen ums Leben gekommen ist und sie danach die Schulabschlussprüfung nicht geschafft hat. Sie nimmt einen Job in der Buchhandlung an, obwohl sie Henry, in den sie einmal verliebt war, nicht mehr wiedersehen wollte.

In diesem australischen Roman geht es um die Verarbeitung von Trauer, um Liebe und die Missverständnisse in Beziehungen, aber auch um die Liebe zu Büchern und was sie uns geben. Charaktere nutzen die Briefbibliothek, um einander zauberhafte Briefe zu schreiben, auch wenn sie manchmal ihre Identität geheim halten. Hier und da wird ein Gedicht vorgelesen und natürlich über Bücher diskutiert. Das Buchmilieu macht für mich den Charme dieser Geschichte aus. Viele junge Buchmenschen fühlen sich anders als andere, eben weil sie lieber lesen als auf laute Partys zu gehen. So geht es auch um Identität und was von uns zurückbleibt, wenn wir sterben. Mein Lieblingssatz aus dem Buch fasst es so zusammen:

„Wir sind die Bücher, die wir lesen, und die Dinge, die wir lieben.“ (S. 380)

Die 1971 geborene Autorin ist Australierin und hat bereits mehrere Young Adult Bücher veröffentlicht. Für den vorliegenden Roman hat sie 2017 den Griffith University Young Adult Book Award bei den Queensland Literary Awards sowie weitere Preise gewonnen.

Eine zauberhafte Geschichte für Buchliebhaber, bei der man den Geruch alter Bücher zwischen den Seiten spürt und sofort anfangen möchte, einen Brief mit der Hand zu schreiben.

Das tiefe Blau der Worte, Cath Crowley, aus dem Englischen übersetzt von Claudia Feldmann, Carlsen Verlag, Hamburg 2018, 400 Seiten, 17,99 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info:

Der Roman ist bei Carlsen inzwischen auch als Taschenbuch erschienen für 8,99 EUR. Allerdings empfehle ich die gebunde Ausgabe, weil das Cover unter dem Schutzumschlag so besonders hübsch ist.

Freitag, 5. März 2021

Leere Herzen, Juli Zeh

Juli Zeh entwirft eine gar nicht so ferne Dystopie im Jahr 2025. Angela Merkel ist nicht mehr Kanzlerin. Vielmehr hat eine Gruppe namens BBB die Führung übernommen, eine Besorgte-Bürger-Bewegung. Deren Ziel ist die Effizienzsteigerung des Landes, z.B. durch weniger Verfassungsrichter und Enquete-Kommissionen. Britta lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Braunschweig, einer mittelgroßen Stadt ohne Metropolengewusel in einer praktischen Immobilie. Sie betreibt ein Unternehmen namens „Brücke“ zusammen mit ihrem Compagnon Babak. Es bietet Hilfe für selbstmordgefährdete Menschen an.

Britta arbeitet viel und gern, sie mag ihr sauberes, durchgetaktetes Leben. Und vor allem ist sie froh, dass die meisten Dinge „sie nichts angehen“. Politik nimmt sie hin wie das Wetter. Sie belächelt ihre Freunde, die vom Leben auf dem Lande träumen und dort ein verfallenes Haus kaufen möchten. Britta verdient gut und liebt den Komfort.

„An der Oberfläche, nicht im Untergrund liegen Gesundheit und Glück.“ (S. 155)

Doch nach und nach wird Brittas Leben in Frage gestellt.

„Du kapierst es nicht.“ Julietta nippt an ihrem Tee. „Nicht ich leide. Wir alle. Das ist das Problem. In einer Welt, in der sich die, denen es am besten geht, am beschissensten fühlen, ist etwas grundverkehrt.“ (S. 107)

Brittas Privatleben und die gesellschaftliche Situation, die anfänglich nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, verweben sich plötzlich zu einer Sinn- und Wertefrage, einer Gesellschaftskritik und der Frage, ab wann die Demokratie eigentlich gefährdet ist. Von Anfang an säht die Autorin ein leises Unbehagen, das immer stärker wird und sich schließlich zu einer thrillerartigen Spannung steigert. Wie gleichgültig darf der Einzelne sein, um das System nicht zu gefährden? Wie beliebig ist das Private? Wieviel innere Werte brauchen wir, um unsere Identität nicht zu verlieren? Die von der Autorin geschilderte Welt ist nicht sehr weit von der Realität entfernt, Ähnlichkeiten zu bestimmten Gruppierungen und Personen sind sicher nicht zufällig. Wir erkennen uns selbst und unsere Nachbarn, die sich gern mal raushalten oder über Verhältnisse meckern, ohne diese zu verändern. Wir alle kennen Menschen, die nicht mehr wählen gehen, weil sie sich nicht für Politik interessieren oder sich nichts davon erwarten.

Diese abstrakt klingenden Sinnfragen verpackt Juli Zeh konkret und sehr geschickt in eine packende Handlung, die eine Sogwirkung entfaltet. Irgendwann musste ich einfach nur noch wissen, wie es ausgeht, ein echter Pageturner. Ich habe das Buch in einem Rutsch verschlungen.

Ein sehr spannender Roman über Politikverdrossenheit und Gleichgültigkeit, am Puls der Zeit, den man nicht mehr weglegen kann.

Leere Herzen, Juli Zeh, Luchterhand Verlag, München 2017, 352 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info:

Der Roman ist auch als Taschenbuch für 11,00 EUR erhältlich, erschienen im btb Verlag.

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Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...