Durch den Gastlandauftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse 2021 ist mein Blick auf die Frankokanadierin Karoline Georges gefallen. Sie ist nicht nur Autorin, sondern Künstlerin mit besonderem Interesse an dem Verhältnis von Bewusstsein und Technologie. Genau diesem Interesse ist der vorliegende Roman gewidmet.
Die Ich-Erzählerin wächst in Montréal auf als Kind gleichgültiger Eltern. Die Wirklichkeit ist von Anfang an kein attraktiver Ort für sie, so dass sie viel Zeit vor dem Fernseher verbringt. So entsteht ihre Idee, aus sich selbst „das Bild einer Frau“ zu machen. Dies ist wörtlich zu verstehen. Sie möchte zu einem Bild werden. Sie tut das Naheliegende und beginnt mit 16 Jahren eine Karriere als Model im Paris der 80er Jahre. Ihr Gesicht wird zu Hochglanzbildern, zu immer neuen Kreationen, die mit ihrem wahren Selbst kaum noch etwas zu tun haben. Sie wird zur Kunstfigur, genau wie sie es gewollt hat. Sie verschwindet regelrecht hinter der Figur auf den Bildern.
Doch das ist ihr nicht genug. Die junge Frau erschafft später im Internet ein Avatar, um das Bild ihrer selbst dreidimensional zu gestalten. War sie schon durch ihr Leben in Paris weit entfernt von ihren Eltern und früheren Weggefährten, verringert sich ihr Kontakt zur realen Welt durch das Internet noch deutlich mehr. Sie strebt nach Perfektion, nicht nach Realität.
Die wirkliche Welt holt sie jedoch in erschreckender Weise ein, als ihre Mutter in einem Krankenhaus im Sterben liegt. Die aufkommende Panik angesichts der bevorstehenden Konfrontation und den überfordernden Emotionen versucht sie durch ihre ganz eigene Strategie zu bewältigen.
„Ich brauche die Orte, die ich durchquere, nur als Szenen eines Videoclips zu sehen, mich selbst zur Kamera, zum abstrakten Auge zu machen, und schon nehme ich nur noch eine dynamische Anwesenheit von Menschen wahr, vor einem beweglichen Hintergrund aus Farben und Formen; ich muss mir einreden, dass sie gar nicht wirklich da sind, sondern nur Bilder in einer virtuellen Umgebung.“ (S. 72)
So seltsam sich diese Geschichte auch anhört – ich lese normalerweise keine dystopischen oder Sci-Fi-Geschichten -, sie ist kunstvoll und mit philosophischer Tiefe geschrieben, so dass ich mich ihr nicht entziehen konnte. Das verletzliche Kind, die ungeliebte junge Frau, die von ihren Eltern in keiner Weise auf das Leben vorbereitet wurde, haben mich angerührt. Die Autorin lotet in wunderschöner Sprache aus, wie „die Grenze zwischen dem Imaginären und der Wirklichkeit verwischte. Zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, dem Realen und dem Virtuellen.“ (S. 137) Die fragmentierte junge Frau, die nicht weiß, wohin mit sich, setzt sich selbst zusammen, vollbringt die Synthese, durch die sie in der Lage ist, das Leben zu ertragen, besser als es ihren Eltern je gelungen ist.
Ein ungewöhnliches Buch, das die Leserin in eine parallele Wirklichkeit mitnimmt, die im Internetzeitalter gar nicht so fremd ist, wie es zunächst scheint. Zwischen Bild und Wirklichkeit sucht die Protagonistin nach der eigenen Identität. Dabei bin ich ihr gern gefolgt.
Synthese, Karoline Georges, aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert, Secession Verlag, Zürich 2021, 176 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)