Samstag, 29. Januar 2022

Synthese, Karoline Georges

Durch den Gastlandauftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse 2021 ist mein Blick auf die Frankokanadierin Karoline Georges gefallen. Sie ist nicht nur Autorin, sondern Künstlerin mit besonderem Interesse an dem Verhältnis von Bewusstsein und Technologie. Genau diesem Interesse ist der vorliegende Roman gewidmet.

Die Ich-Erzählerin wächst in Montréal auf als Kind gleichgültiger Eltern. Die Wirklichkeit ist von Anfang an kein attraktiver Ort für sie, so dass sie viel Zeit vor dem Fernseher verbringt. So entsteht ihre Idee, aus sich selbst „das Bild einer Frau“ zu machen. Dies ist wörtlich zu verstehen. Sie möchte zu einem Bild werden. Sie tut das Naheliegende und beginnt mit 16 Jahren eine Karriere als Model im Paris der 80er Jahre. Ihr Gesicht wird zu Hochglanzbildern, zu immer neuen Kreationen, die mit ihrem wahren Selbst kaum noch etwas zu tun haben. Sie wird zur Kunstfigur, genau wie sie es gewollt hat. Sie verschwindet regelrecht hinter der Figur auf den Bildern.

Doch das ist ihr nicht genug. Die junge Frau erschafft später im Internet ein Avatar, um das Bild ihrer selbst dreidimensional zu gestalten. War sie schon durch ihr Leben in Paris weit entfernt von ihren Eltern und früheren Weggefährten, verringert sich ihr Kontakt zur realen Welt durch das Internet noch deutlich mehr. Sie strebt nach Perfektion, nicht nach Realität.

Die wirkliche Welt holt sie jedoch in erschreckender Weise ein, als ihre Mutter in einem Krankenhaus im Sterben liegt. Die aufkommende Panik angesichts der bevorstehenden Konfrontation und den überfordernden Emotionen versucht sie durch ihre ganz eigene Strategie zu bewältigen.

„Ich brauche die Orte, die ich durchquere, nur als Szenen eines Videoclips zu sehen, mich selbst zur Kamera, zum abstrakten Auge zu machen, und schon nehme ich nur noch eine dynamische Anwesenheit von Menschen wahr, vor einem beweglichen Hintergrund aus Farben und Formen; ich muss mir einreden, dass sie gar nicht wirklich da sind, sondern nur Bilder in einer virtuellen Umgebung.“ (S. 72)

So seltsam sich diese Geschichte auch anhört – ich lese normalerweise keine dystopischen oder Sci-Fi-Geschichten -, sie ist kunstvoll und mit philosophischer Tiefe geschrieben, so dass ich mich ihr nicht entziehen konnte. Das verletzliche Kind, die ungeliebte junge Frau, die von ihren Eltern in keiner Weise auf das Leben vorbereitet wurde, haben mich angerührt. Die Autorin lotet in wunderschöner Sprache aus, wie „die Grenze zwischen dem Imaginären und der Wirklichkeit verwischte. Zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, dem Realen und dem Virtuellen.“ (S. 137) Die fragmentierte junge Frau, die nicht weiß, wohin mit sich, setzt sich selbst zusammen, vollbringt die Synthese, durch die sie in der Lage ist, das Leben zu ertragen, besser als es ihren Eltern je gelungen ist.

Ein ungewöhnliches Buch, das die Leserin in eine parallele Wirklichkeit mitnimmt, die im Internetzeitalter gar nicht so fremd ist, wie es zunächst scheint. Zwischen Bild und Wirklichkeit sucht die Protagonistin nach der eigenen Identität. Dabei bin ich ihr gern gefolgt.

Synthese, Karoline Georges, aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert, Secession Verlag, Zürich 2021, 176 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 12. Januar 2022

Die Sonnenwächterin, Maja Lunde

Die Norwegerin Maja Lunde ist vielen als Autorin von Erwachsenenbüchern bekannt, sie schreibt aber auch wundervoll für Kinder. Derzeit erscheint nach und nach ein Jahreszeitenquartett von Bilderbüchern. Bereits 2018 ist der Winterband „Die Schneeschwester“ erschienen. Nun liegt der zweite Band vor, „Die Sonnenwächterin – Eine Frühlingsgeschichte“.

Wie schon der erste Band ist auch dieser großformatig, quadratisch und wunderschön ausgestattet. Er lebt neben der tiefsinnigen Geschichte von den wundervollen Illustrationen der norwegischen Künstlerin Lisa Aisato. Selten habe ich so ausdrucksstarke Bilder gesehen!

Die Geschichte, die das Mädchen Lilja uns erzählt, beginnt sehr trist. Lilja lebt in einer Welt ohne Sonnenschein. Die Tage sind düster und grau, ständig regnet es. Es gibt keine wechselnden Jahreszeiten, keinen Frühling. Aber nicht nur der Himmel ist grau. Auch die Menschen verkümmern unter diesen Umständen und werden fahl im Gesicht. Ebenso geht es den Pflanzen, die ohne Licht nicht wachsen können. Die Menschen hungern. Maja Lunde bringt also auch in ihrem Kinderbuch den Aspekt Umweltzerstörung ein, der eine so große Rolle in ihrem Klimaquartett für Erwachsene spielt, Kindern aber mindestens genauso wichtig sein dürfte.

Lilja lebt nur mit ihrem Großvater zusammen. Dieser liebt seine Enkelin sehr. Aber auf der kleinen Familie liegt eine große Traurigkeit, weil andere geliebte Menschen fehlen, die Eltern und Liljas kleiner Bruder. Lilja ist neugierig und will ihre Lebensumstände nicht einfach hinnehmen. Sie macht sich mutig auf die Suche nach einem Geheimnis. Denn irgendwoher kommen pflanzliche Lebensmittel in ihr Dorf. Wie ist das möglich? Sie entdeckt, dass es eine geheimnisvolle, etwas unheimliche Sonnenwächterin geben muss.

„Die Wärme umschloss meinen Körper, und es fühlte sich plötzlich an, als würde ich um mehrere Zentimeter wachsen. Das Gleiche geschah anscheinend auch mit den Pflanzen. Sobald das Licht auf sie fiel, passierten die unglaublichsten Dinge. Blütenknospen öffneten sich, an einem Busch sah ich Tomaten erröten, die Blaubeeren auf dem hügeligen Boden nahmen eine noch dunklere Färbung an, und die Apfelsinen an einem der Äste wurden intensiver orange.“ (S. 58)

Ab diesem Zeitpunkt explodieren plötzlich die Farben in diesem Buch! Licht und Blüten durchfluten die Seiten und die Geschichte! Das Leben kehrt zurück in die Gesichter. Ist nun alles gut? Nein, da sind wir erst bei der Hälfte des Buches. Sonne ist kein Allheilmittel. Auch davon kann es zu viel geben. Liljas Freundschaft mit Menschen und Tieren bringt sie dem Geheimnis des Frühlings näher, welches die Natur im Gleichgewicht hält.

Das Buch ist ein Erlebnis für alle Sinne. Der einfühlsame Text lässt uns den kalten Regen spüren, der uns den Rücken herunterläuft, den Geschmack einer frischen Karotte auf der Zunge schmecken und Vogelgezwitscher hören. Die Bilder zaubern ein frohes Strahlen auf unser Gesicht, wenn sich ein Kind freut und lassen uns die Stirn in Falten legen wie Liljas Großvater, wenn er sich Sorgen macht. Durch die ganze Palette möglicher Gefühle nimmt die Geschichte uns mit und erzählt davon, was wir brauchen, um gut zu leben.

Eine Leseerlebnis für alle Sinne und Menschen jeden Alters! Die intensiven Gefühle fahren Achterbahn durch Regen und Dürre bis hin zum Neubeginn des Lebens im Frühling, den wir alle jeden Winter so herbeisehnen.

Die Sonnenwächterin, Maja Lunde, aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger, mit Illustrationen von Lisa Aisato, btb Verlag, München 2021, 202 Seiten, 15,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...