Sonntag, 21. Juli 2019

Das Leben ist ein merkwürdiger Ort, Lori Ostlund

Aaron sucht einen Neuanfang. Er verlässt Walter, mit dem er über 20 Jahre lang zusammen war, lädt seine Sachen in einen Transporter und fährt nach San Francisco. Dort hat Aaron eine Bekannte, die ihm schnell Wohnung und Arbeit als Lehrer besorgt. San Francisco konfrontiert Aaron wie keine andere Stadt mit seinem Schwulsein. Und mit der Frage, warum er Walter unbedingt verlassen musste, obwohl Walter ihm das Leben gerettet hat. Antworten findet Aaron in der Geschichte seines eigenen Verlassenseins.

Aaron war Zeit seines Lebens ein Außenseiter. Nicht weil er schwul ist, sondern weil er schon als Kind klug und sensibel war und seine guten Manieren sogar denen gegenüber gezeigt hat, die es nicht verdient hatten. Aaron möchte geliebt werden, es seinen Eltern nicht schwer machen, er hilft und passt sich an. Fragen zu stellen traut er sich meist nicht. Denn sein Vater gerät allzu leicht in Zorn. Als sein Vater eines Tages nicht mehr da ist, verändert sich seine Mutter. Aaron kann sie nicht verstehen, tut aber alles, um es auch ihr leicht zu machen.

Mit Anfang 40 ist Aaron an dem Punkt angekommen, seine Fragen nicht mehr aufschieben zu können. Er muss wissen, wer er ist und wie er dazu geworden ist. Er ganz allein, ohne von jemandem abhängig zu sein oder sich anpassen zu müssen.

In diesem faszinierenden Roman erfährt der Leser nach und nach in Rückblenden, wie Aaron zunächst mit seinem herrischen Vater und seiner Mutter in einem kleinen Nest in Minnesota gelebt hat. Wie Aaron hinter die Geheimnisse seiner Familie kam. Wie er mit extremen religiösen Praktiken anderer Familien konfrontiert wurde. Und was es bedeutete, in den USA in den 1980er und 90er Jahren schwul zu sein. Er selbst stand nie im Mittelpunkt. Seine Bedürfnisse kamen nie an erster Stelle. Es ist die Geschichte einer beeindruckenden persönlichen Entwicklung.

„Als er so vor Buch und Strudel in dem Café gesessen hatte, war ein Mann an den Tisch gekommen, ein sehr sympathischer Mann namens George, und hatte gefragt, was er las. Und Aaron ging, während dieser George so neben ihm stand und einen Blick in den aufgeschlagenen Gedichtband warf, durch den Kopf, wie viel Lebenszeit er damit verbracht hatte, sich anderer Leute Geschichten anzuhören. Nicht dass er das bedauerte. Er hatte durchaus Zuneigung für sie empfunden. Aber jetzt, mit fast zweiundvierzig Jahren und zum ersten Mal allein, kam ihm der Verdacht, dass sein eigenes Leben womöglich aus nicht viel mehr als den Geschichten anderer Menschen bestand. Er sah hoch zu dem Fremden mit dem freundlichen Blick, der wissen wollte, was er las. „‘Degrees of Gray in Philipsburg.‘“ (S. 275)

Mich hat berührt, wie Aaron trotz seiner Familiengeschichte nicht untergeht. Wie anpassungsfähig er ist. Und wie er manchmal wie betäubt nur noch überleben will, aber dennoch immer wieder den Mut für Neuanfänge findet. Er wagt etwas, vor allem emotional, und wächst so über sich selbst hinaus.

Ein ergreifendes Buch über einen Mann auf dem Weg zu sich selbst, der alle Leichen mutig aus dem Keller holt. Beeindruckend!

Das Leben ist ein merkwürdiger Ort, Lori Ostlund, aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann, dtv Verlagsgesellschaft, München 2016, 416 Seiten, 11,90 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Mittwoch, 17. Juli 2019

Und es schmilzt, Lize Spit

Der Debütroman der jungen Belgierin Lize Spit hat es in sich! Er wurde mir sehr empfohlen, hat mich eingesogen, mitgerissen und durchgeschüttelt. Sieht man genau hin, so erkennt man, dass die Buchstaben auf dem Buchcover aus Eis bestehen mit darin eingeschlossenen Blumen. Eiskalt kann einem bei diesem Roman durchaus werden.

Das Mädchen Eva erzählt uns in wechselnden Zeitperspektiven von ihrem Leben und ihrer Familie in einem kleinen flämischen Kaff. Sie hat zwei Geschwister, den älteren Bruder Jolan und die jüngere Schwester Tesje. Der erste Schock ereilt den Leser, als sie berichtet, dass ihr älterer Bruder die Hälfte eines Zwillingspaars war. Die Zwillingsschwester wurde tot geboren. Ansonsten geht der Roman los wie eine normale Familiengeschichte, unaufgeregt erzählt. Es ist gerade dieser Erzählton, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Denn nach und nach berichtet Eva von schrecklichen Details ihres Lebens, so als wären sie ganz normal. Denn sie sind für Eva normal. Es war schon immer so.
 
Eva ist inzwischen Ende zwanzig und kehrt nach neun Jahren Abwesenheit in ihr Heimatdorf zurück, nachdem sie nach Brüssel gezogen ist. Anlass ist eine Gedenkfeier für Jan, der 30 Jahre alt geworden wäre - wenn er denn noch leben würde. Zu Anfang gibt es nur Andeutungen. Erst zum Schluss des Romans erfährt der Leser, wie Jan zu Tode gekommen ist und warum. Während Eva uns den Ablauf dieses Tages der Heimkehr minutiös schildert, gibt es Rückblenden in den denkwürdigen Sommer 2002, den Sommer nach Jans Tod, in dem Eva etwa 13 Jahre alt war. Sie berichtet von den „Drei Musketieren“, die aus ihr selbst und den beiden gleichaltrigen Jungen Pim und Laurens bestanden. Die Dorfschule war so klein, dass die drei Kinder die einzigen Schüler ihres Jahrgangs waren und in einer „Zustellklasse“, also im gleichen Klassenraum wie ein anderer Jahrgang unterrichtet wurden. Das schweißt natürlich zusammen. Aber im Laufe der Geschichte erfährt der Leser, dass aus Freunden manchmal Feinde werden können. Das geschah im Sommer 2002.

Eine dritte Erzählebene wird durch weitere Rückblenden aufgemacht, in denen Eva von ihrer Familie erzählt, von ihrer Kindheit und auch späteren Erlebnissen mit den Familienmitgliedern. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr Details lassen den Leser spüren, dass mit dieser Familie irgendetwas nicht stimmt. Aber was? Erschreckend wird der Alltag einer dysfunktionalen Familie geschildert, die den drei Kindern keinerlei Schutz bietet. Jeder der drei Geschwister geht damit anders um, aber bei allen hinterlässt die Familie schmerzhafte Spuren.
„Wäre vor zwanzig Jahren eine dreißigjährige Version meiner selbst plötzlich aufgetaucht und hätte gesagt: „Ich weiß, was passieren wird, mach, dass du hier wegkommst“, dann hätte ich mich keinen Zentimeter bewegt. Dann wären Tesje und ich einfach sitzen geblieben, nicht, weil wir glücklich waren, sondern weil Dinge erst geschehen müssen, bevor man sie bereuen kann, und auch weil die Tüte Chips Pickles noch nicht leer war.“ (S. 329)
Der Sog dieses Romans entsteht durch Andeutungen und kleine Details, deren Wichtigkeit man erst viel später begreift. Wir wissen, dass Jan tot ist. Aber wie ist er gestorben? Wir wissen, dass in Evas Familie etwas Ungeheuerliches passiert sein muss. Aber was? Auch die drei Freunde sprechen nicht mehr miteinander. Wie konnte dies geschehen, nachdem sie lange so eng verbunden schienen? Und was schmilzt nun eigentlich? Es entsteht eine ungeheure Spannung beim Lesen. Man muss einfach wissen, wie das alles zusammen hängt! Dabei fällt man spätestens in der zweiten Hälfte des Romans von einer Ohnmacht in die nächste angesichts der Dinge, die Eva erlebt. Es erfordert Mut, über diese Tabus zu schreiben, aber auch Mut, sich ihnen beim Lesen zu stellen. Harter Tobak. Ich kann nur vermuten, dass auch autobiografische Elemente von der Autorin verarbeitet worden sein müssen. Anders ist die schmerzhaft realistische Schilderung von Evas Gefühlen und Gedanken kaum zu erklären. Die Erzählung ist so dicht, dass ich sie körperlich spüren konnte.

Ein literarisches Meisterwerk, das starker Nerven bedarf. Die Handlung ist tief und organisch konstruiert, der Erzählstil ist phänomenal!

Und es schmilzt, Lize Spit, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2018, 512 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Samstag, 13. Juli 2019

Washington Black, Esi Edugyan


Barbados, 1830, ist eine britische Kolonie. Auf einer Zuckerrohrplantage wird die Arbeit unter brutalsten Bedingungen von schwarzen Sklaven getan. Einer von ihnen ist der etwa elfjährige Erzähler der Geschichte, der vom Plantagenbesitzer den Namen George Washington Black erhalten hat. Wash weiß nicht genau wie alt er ist, wo er geboren wurde und wer seine Eltern sind. Seit er sich erinnern kann, hat er schwerste Feldarbeit geleistet und auf dem Boden in einer der Hütten geschlafen, so wie alle. Die Sklaven werden von den weißen Aufsehern so schlecht behandelt und willkürlich umgebracht, dass Selbstmorde an der Tagesordnung sind.

Eines Tages taucht der Bruder des Plantagenbesitzers auf, genannt Titch. Er macht wissenschaftliche Experimente und will einen Flugapparat bauen, mit dem man sogar den Atlantik überqueren kann. Titch bittet seinen Bruder um Zuteilung einiger Sklaven, die ihm beim Bau dieses Luftschiffs helfen sollen. Darunter ist auch Wash, den Titch aufgrund seines Gewichts und seiner Größe aussucht, als Ballast für den „Cloud-Cutter“. Wash wird Titchs Assistent. Er ist zunächst erschreckt von dessen Freundlichkeit ihm gegenüber. So etwas kennt er nicht, es macht ihn misstrauisch. Ein furchtbarer Unfall geschieht. Und ein Selbstmord. Titch setzt mit Wash und dem Cloud-Cutter zum großen Flug an.

All das ist nur der Anfang dieser sehr komplexen Geschichte, die ständig neue, überraschende Wendungen nimmt. Von Barbados aus gelangt Washington nach Nordamerika, in die Arktis, nach England und diverse andere Orte. Er ist ein Kind ohne Wurzeln, der das Leben nehmen muss, wie es gerade kommt. Er hat sich anzupassen an immer neue, unbekannte Welten und Menschen, muss dankbar sein, dass er überlebt. Er nutzt seine Talente und wachen Sinne, die er trotz fehlender Bildung hat. Vor allem kann er zeichnen, die Natur lebensnah abbilden. Als er ein junger Mann geworden ist, treibt ihn die Frage nach seiner Herkunft um. Er hat Fragen darüber, wieso bestimmte Dinge so gekommen sind und geht ihnen nach. Denn ohne Antworten kann er keine Wurzeln schlagen, sich nirgendwo zuhause fühlen.

„Do it frighten you? she whispered, where we lay in the hut, “To be dying?”
“Not if it don’t frighten you,” I said bravely. I could feel her arm draped protectively over me in the dark.
She grunted, a long rumble in her chest. “If you dead, you wake up again in your homeland. You wake up free.” (…)
“What it like, Kit? Free?“ (…)
„Oh, child, it like nothing in this world. When you free, you can do anything.“
“You go wherever it is you wanting?”
“You go wherever it is you wanting. You wake up any time you wanting. When you free,” she whispered, “someone ask you a question, you ain’t got to answer. You ain’t got to finish no job you don’t want to finish. You just leave it.” (S. 8/9)

Der Roman erzählt die Geschichte der Sklaverei auf sehr unmittelbare Weise. An Washs Schicksal wird erkennbar, welche schrecklichen Wirkungen die Sklaverei auf den einzelnen Menschen hat, und zwar auch dann noch, als Wash schon nicht mehr unter der Herrschaft des grausamen Plantagenbesitzers lebt. Er bewegt sich in einer Welt von Weißen, die ihn nie als ein gleichwertiges Gegenüber sehen, selbst wenn sie freundlich zu ihm sind, was selten genug vorkommt. Die Erzählweise ist sehr sinnlich. Wash beschreibt, was er unter seinen nackten Füßen spürt und vor allem die Gerüche der seltsamen Orte, an die es ihn verschlägt. Seine Erinnerungen bestehen aus lebendigen Bildern, die ihm immer wieder vor Augen stehen, manchmal qualvoll deutlich. Es ist eine Geschichte über Herkunft und Identität. Wash glaubt, dass diese Fragen für die Weißen mit ihren Herrenhäusern und Familien in der alten Heimat England so viel leichter zu beantworten sein müssten. Ob das wirklich so ist, erforscht er nach und nach.

Das wunderschön gestaltete Buchcover mit dem Cloud-Cutter inmitten goldener Wolken gibt einen Eindruck davon, dass die Weißen sich manchmal Luftschlösser bauen und nicht ganz auf dem Boden der Realität wandeln, wie Washington sie erlebt.

Ein faszinierender Roman, der einen mitnimmt. In wenigen Jahren scheint Washington gleich mehrere Leben durchzumachen.

Washington Black, Esi Edugyan, englischsprachige Ausgabe, Serpent’s Tail Verlag, London 2018, 419 Seiten

Samstag, 6. Juli 2019

All das zu verlieren, Leïla Slimani

Von diesem Buch hatte ich viel gehört und mich ein bisschen davor gefürchtet. Ein Buch über eine Frau, die immerzu Sex mit Fremden hat? Mag ich sowas lesen? Das Buch hat mich fasziniert – es ist gut geschrieben, die Sexszenen finde ich teilweise ekelhaft. Aber es geht nicht in erster Linie um Sex. Es geht um Selbstverletzung. Das macht das Buch so erschütternd.


Adèle ist Mitte dreißig und lebt mit ihrem Mann und ihrem dreijährigen Sohn in Paris. Ihr Mann ist Arzt in einem Krankenhaus und verdient gut, sie selbst ist Journalistin bei einer Zeitung. Nach außen hin führt sie ein perfektes bürgerliches Leben, das sie um keinen Preis verlieren will. Ihre Bekannten würden sie als eher schüchtern beschreiben. Daneben aber führt sie ein Doppelleben, lebt ihr wahres Ich aus, wie sie es empfindet. Sie ist angeödet von ihrem langweiligen, spießigen Leben. Ihre Ehe war eine Vernunftheirat, ebenso wie das Kind. Dazugehören und Beachtung finden wollte sie, damit alles gut wird. Also hat sie wahllosen und brutalen Sex mit Fremden. Es können äußerlich abstoßende Männer sein, eine schnelle Nummer an einer Hausecke oder in einer Toilette, Journalisten, die sie zufällig und betrunken bei Auslandsreportagen kennenlernt oder sogar Bekannte, die auch ihr Mann kennt. Unbekannt muss es sein, schmierig, wild, animalisch, sie will gezwungen werden. Danach verliert sie schnell das Interesse an den Männern.

„(…) eingezwängt zwischen ihrer Mutter und dem Mann, die sich schlüpfrige Blicke zuwarfen, empfand Adèle zum ersten Mal diese Mischung aus Angst und Lust, aus Abscheu und sexueller Erregung. (…) Niemals, weder in den Armen der Männer noch bei ihren Spaziergängen auf demselben Boulevard Jahre später, hatte sie je wieder dieses magische Gefühl, das Niedere und das Obszöne, die bourgeoise Perversion und das menschliche Elend so mit der Hand greifen zu können.“ (S. 68)

Im Laufe des Romans erfährt der Leser ein wenig davon, was zu Adèles Verhalten geführt haben mag. Dies soll hier nicht vorweg genommen werden. Es wird deutlich, dass Adèle alle möglichen Arten von Suchtverhalten hat und daraus jeweils den Kick sucht, nur um sich selbst zu spüren, das Alte abzuschütteln, der Realität zu entfliehen. Sie trinkt zu viel, raucht ständig, lebt am Rande der Magersucht und ist sexsüchtig. In den Süchten erlebt sie den Kontrollverlust, den ihr bürgerliches Leben nicht erlaubt. Sie fühlt sich einsam und scheint sich durch das Verlangen nach sexueller Gewalt selbst bestrafen zu wollen.

Wer nun meint, Adèle sei damit eine Ausnahmeerscheinung unter den Frauen, sollte nicht zu schnell urteilen. Denn Adèles Gefühle haben viele Frauen – sicher auch Männer -, leben diese aber in anderer Form aus. Manche Menschen ritzen sich, andere nehmen Drogen, um sich zu betäuben, und Süchte gibt es viele, etwa Spielen, Internet oder Essen. Manche davon sind leichter zu verbergen als Adèles Sexeskapaden. Die Frage dahinter ist schwer zu beantworten: Wie lebt man denn echt? Wie kann ich gesellschaftlich akzeptiert und trotzdem wirklich ich sein? Wie gehe ich mit schlimmen Erfahrungen und negativen Gefühlen um, ohne mir selbst zu schaden? Adèle und ihr Mann sind sprachlos. Und so stellt sich die Frage, ob sich je etwas ändern kann.

Ein mitreißendes Buch, verstörend, das der Gesellschaft und ihren Normen einen Spiegel vorhält. Der Roman fordert uns auf, Wege aus der Sprachlosigkeit hin zu uns selbst zu finden.

All das zu verlieren, Leïla Slimani, aus dem Französischen von Amelie Thoma, Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 224 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...