Ebenso sympathisch wie die Lesungen und Interviews des Wahlhamburgers kommt sein Buch rüber, für das er 2019 den Deutsche Buchpreis gewonnen hat. Darin erzählt Stanišić, was Herkunft für ihn bedeutet. Er wurde 1978 geboren in der Stadt Višegrad, damals Jugoslawien, heute Bosnien. 1992 musste er mit seiner Mutter vor dem Krieg flüchten (der Vater kam später nach) und landete in Deutschland. Inzwischen ist er Deutscher Staatsbürger und hat diverse Bücher auf Deutsch geschrieben.
„Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“ (S. 33)
Stanišić sagt, dass Herkunft etwas Zufälliges sei, dem aber seltsamerweise Eigenschaften zugesprochen werden. Ebenso zufällig sei es gewesen, dass er nach der Flucht ausgerechnet in Deutschland angekommen sei. Sein Erleben war es, dass sein Zuhause oft nicht dort war, wo seine Familie sich aufhielt. Diverse Verwandte, vor allem seine geliebte Großmutter Kristina, sind in Bosnien geblieben oder in anderen Ländern gelandet. Dennoch ist die Großmutter für ihn der Dreh- und Angelpunkt seiner Herkunft.
Ganz besonders an diesem Buch ist die Erzählweise. Sie ist nicht chronologisch, obwohl der Autor über seine Kindheit, seine Jugend mit der Flucht und über Teile seines Erwachsenenlebens bis heute berichtet. Er erzählt assoziativ, man könnte es auch zeitlich chaotisch nennen. Wenn man sich aber auf diesen Stil einlässt, macht am Schluss alles Sinn. Ausgangspunkt ist die Beziehung zu seiner Großmutter, die im Alter dement geworden ist. Ähnlich wie ihr Erleben in verschiedene Jahre der Vergangenheit springt, sie auf die Heimkehr ihres längst verstorbenen Mannes wartet oder meint, sie sei ein kleines Mädchen, springt Stanišić in verschiedenste Zeiten seines Lebens zurück. Er erzählt sein Leben in Anekdoten mit ungeheurer Situationskomik und Selbstironie. Dennoch wird deutlich, in welchem Land der kleine Saša geboren wurde und wie es sich verändert hat, als er nach dem Krieg zu Besuch dorthin zurückkommt. Das bosnische Lokalkolorit kommt auch nicht zu kurz. Die Berge, das Landleben, Ferkel und sogar Drachen in Berghöhlen kommen in der Erzählung vor!
Beeindruckt hat mich, wie Stanišić über das Fremdsein spricht. Er kam in Deutschland an, ohne ein Wort der Sprache zu können.
„Du stehst vor der Tür und liest: Ziehen. Das ist eine Tür. Das sind Buchstaben. Das ist Z. Das ist I. Das ist E. Das ist H. Das ist E. Das ist N. Ziehen. Willkommen an der Tür zur deutschen Sprache. Und du drückst.“ (S. 132)
Seine Eltern waren gut ausgebildet und mussten sich dennoch mit Hilfsarbeiten durchschlagen. Die Familie hatte kein Geld, lebte in Möbeln vom Sperrmüll und die Abschiebung drohte. Saša begeisterte sich für Literatur, lernte hervorragend Deutsch, begann selbst zu schreiben. Ankommen und Hierbleiben in Deutschland gelangen ihm – seine Eltern jedoch gingen nach einigen Jahren in die USA.
Dieses Buch fasziniert mich, zeigt es doch einerseits die Herkunft als Gruppenmerkmal und andererseits das individuelle Leben eines Einzelnen. Es zeigt, wie Herkunft einengen kann, aber auch was wir daraus machen können. Vor allem aber zeigt es den klugen, witzigen Saša Stanišić, dem ich noch stundenlang zuhören könnte.
Herkunft, Saša Stanišić, Luchterhand Verlag, München 2019, 366 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
Zusatz-Info:
Inzwischen ist das Werk als Taschenbuch im btb-Verlag erschienen und kostet 12,00 EUR.