Wir haben sie alle gesehen in ihrem kanariengelben Mantel, diese
außergewöhnliche junge Frau bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden
am 20. Januar 2021. Amanda Gorman hat die Welt mit ihrem Gedicht „The Hill we Climb“
schwer beeindruckt. Nun ist eine Einzelausgabe dieses Gedichts mit einer
deutschen Übersetzung erschienen. Dabei wurden die englischen Zeilen jeweils
auf der linken, die deutsche Übersetzung derselben Zeilen jeweils auf der
rechten Buchseite abgedruckt, so dass ein direkter Vergleich möglich ist.
Ergänzt wird der Text durch Anmerkungen der Übersetzerinnen am Schluss.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll über dieses Buch
und das Ereignis zu schreiben, so vielfältig sind die Anknüpfungspunkte. Ich
hatte das Glück, an einer sehr tiefgehenden moderierten Leserunde des
Literaturhauses Hamburg über das Werk teilzunehmen.
Aus meiner Sicht ist der Text kaum zu trennen von der
beeindruckenden Performance, mit der die Dichterin ihr Werk vor dem Capitol
vorgetragen hat. Ihre Erscheinung, ihre Gesten, ihre Stimme – alles ist zu einem
Gesamtkunstwerk mit dem Text verschmolzen. Wenn ich ihn lese, habe ich Amanda Gormans
Stimme im Ohr. Die Lyrikerin bewegt sich in der uralten Tradition der Spoken-Word-Poetry,
einer Form der Dichtung, die speziell für den mündlichen Vortrag gemacht ist.
Text und Vortrag nehmen so viele unterschiedliche
Traditionen auf, enthalten diverse Referenzen zu anderen Werken und Menschen.
Das Besondere ist jedoch, dass dieses Kunstwerk auch jene sehr berührt, die
sich keiner dieser Traditionen bewusst sind. Es wird nur immer spannender, je mehr
man in den Kontext eintaucht. Mir war bis vor kurzem nicht bekannt, dass die
Tradition eines Gedichtvortrags bei der Amtseinführung eines US-Präsidenten
noch gar nicht so alt ist. John F. Kennedy war 1961 der erste, der einen
Dichter einlud. Seither haben nur Präsidenten der demokratischen Partei diese
Tradition fortgeführt.
Amanda Gorman nimmt auf ihre Vorgänger:innen der
Inaugurationsdichter:innen Bezug, ganz besonders auf Maya Angelou, die 1993 bei
der ersten Amtseinführung von Bill Clinton das Gedicht „On the Pulse of Morning“
vortrug. Die Anfangstextzeile „When day comes“ dürfte einen Bezug auf Angelous
Gedicht darstellen. Maya Angelou war die erste Afro-Amerikanerin und die erste
Frau, die ein Amtseinführungsgedicht vortrug. Ihre 1969 erschienene Autobiografie
heißt „I Know Why the Caged Bird Sings“ (nach ihrem gleichnamigen Gedicht). Amanda
Gorman trug am 20. Januar 2021 einen auffälligen goldenen Ring, der einen
Vogelbauer mit Vogel darstellt. Dieser Ring war ein Geschenk von Oprah Winfrey,
die das Vorwort zum vorliegenden Buch verfasst hat, und die bereits Maya Angelou
die blaue Chanel-Jacke geschenkt hatte, die sie zum Amtseinführungsvortrag
trug. Amanda Gorman bezeichnet Maya Angelou als eins ihrer großen Vorbilder.
Interessant ist, dass sowohl Gorman als auch Angelou mit einem Sprachfehler zu kämpfen
hatten.
Die Bibel dient als Anknüpfungspunkt („We’ve braved the belly
oft he beast“ geht zurück auf die Geschichte Jona und der Wal), ebenso die
berühmte Rede Martin Luther Kings „I have a dream“, wenn Gorman sagt „say this
is true“. Die Reden Barack Obamas haben Pate gestanden für die Zeile„Somehow,
we do it“, als dieser nach seinem zweiten Wahlsieg sagte „That’s why we do this“.
Sogar die Popkultur hat Eingang gefunden, etwa der Song „History Has Its Eyes
on You“ aus dem Musical „Hamilton“, der bei Gorman zu „History has ist eyes on
us“ wurde.
Sogar sich selbst hat die Dichterin im Gedicht untergebracht:
„We, the successors of a country and a time
Where a skinny black girl,
Descended from slaves and raised by a single mother,
Can dream of becoming president,
Only to find herself reciting for one.“ (S. 18)
Die jetzt 23jährige Amanda Gorman, die einen Abschluss in
Soziologie aus Harvard vorzuweisen hat, hat bereits mehrfach ernsthaft
angekündigt, im Jahr 2036 für das Präsidentschaftsamt kandidieren zu wollen. Hilary
Clinton, Michelle Obama, Oprah Winfrey und viele andere haben ihre
Unterstützung bereits zugesagt.
Nun zur deutschen Übersetzung, ein eher trauriges Thema.
Bereits vor der Veröffentlichung waren die Wogen in vielen Ländern hochgeschlagen
über die Frage, wer qualifiziert dafür sei, Amanda Gormans Gedicht in andere
Sprachen zu übertragen. Der Verlag hat sich aus diesem Grund dafür entschieden
ein Team von drei Frauen zu beauftragen, die verschiedene Talente mitbringen.
Uda Strätling ist eine erfahrene Übersetzerin aus dem Englischen. Hadija
Haruna-Oelker ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Migrations- und
Rassismusforschung und selbst schwarz. Kübra Gümüşay ist ebenfalls
Politikwissenschaftlerin und Autorin des Sachbuchs „Sprache und Sein“, in dem
es um die bewusstseinsgestaltende Wirkung von Sprache geht. Die Idee war gut,
das Ergebnis klingt leider wie ein fader Kompromiss, der das Werk getötet hat.
Der Fokus der Übersetzung lag klar auf politischer
Korrektheit. Herausgekommen ist eine eher unpolitische Übersetzung eines
hochpolitischen Werks. Amanda Gorman ist
eine politische Aktivistin. Ziel ihres Gedichts ist es, Amerika Hoffnung zu
machen sich aus dem dunklen Abgrund der Trump-Jahre und des noch viel länger
andauernden Rassismus, den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und der
Müdigkeit zu befreien. Sie arbeitet sich auch sprachlich im Laufe des Gedichts
von unten nach ganz oben, von der Beschreibung des erlebten Unheils einschließlich
des Sturms auf das Capitol am 6. Januar 2021 bis hinauf in die Vision von
gerechtem Ausgleich, der Teilhabe aller und einer glücklichen Nation auf dem
Hügel, dem Capitol als Symbol der Demokratie Amerikas. Sie beschreibt zutreffend
die Anstrengung, die der Wechsel bedeuten wird und die Möglichkeit des
Scheiterns. Dies drückt sich bereits im Titel aus, der Hügel muss erklommen
werden. Kraftlos dagegen ist die Übersetzung „Den Hügel hinauf“.
Zweifellos spielt die Tatsache eine große Rolle, dass Amanda
Gorman eine Schwarze ist. Rassismus und die Black lives matter-Bewegung sind
das Thema der Stunde. Die Autorin träumt davon
„To compose a country committed
To all cultures, colors, characters,
And conditions of man.“ (S. 22)
Die Übersetzung lautet:
„Ein Land für Menschen aller Art,
jeder Kultur und Lage, jeden Schlags.“ (S. 23)
In der Anmerkung der Übersetzerinnen heißt es dazu, man habe
das Wort „colors“ nicht mit „farbig“ übersetzen wollen, weil es im Deutschen im
Gegensatz zu „schwarz“ keine Selbstbezeichnung sei und oft als höfliche
Abschwächung von „schwarz“ gemeint sei und impliziere, eine heller farbige
Hautfarbe sei besser als eine dunklere (vgl. S. 57). Diese sprachlichen
Überlegungen sind sicherlich richtig. Das Ergebnis überzeugt indes nicht und ist
einfach zahnlos.
Lyrik zu übersetzen ist zweifellos sehr schwierig. Gelungene
Übersetzungen stellen in der Regel eine echte Nachdichtung dar, also ein
eigenes Kunstwerk der Übersetzer:in. Dies ist hier unterblieben. Liest man nur
die deutsche Übersetzung, fehlen wesentliche Bedeutungsinhalte, wie oben
gezeigt. Der besondere Charme des Originalgedichts besteht gerade in seiner
lautmalerischen Schönheit. Es benötigt zumeist keinen Reim, spielt aber mit
Buchstabendopplungen oder ähnlichen Klängen innerhalb einer Zeile und gewinnt
wunderbaren Klang durch den gesangsähnlichen stimmlichen Vortrag, den ich etwa
auch aus den Reden Martin Luther Kings im Ohr habe. Diese sprachliche Schönheit
fehlt der Übersetzung leider komplett. Ich bedaure alle, die des Englischen so
wenig mächtig sind, dass sie sich nicht am englischen Originaltext erfreuen
können. All jenen sei empfohlen, sich dennoch ein Video von Amanda Gormans
Auftritt anzusehen, da sich auch ohne Sprachverständnis die besondere Spannung
im Vortrag erleben lässt. Beim Lesen dieser Übersetzung springt leider kein
Funke über.
Ein wertig
aufgemachter Band eines überwältigenden Gedichts mit wertvollen Anmerkungen zu
den Referenzen des Originaltexts, dessen deutsche Übersetzung man sich lieber
nicht antun sollte. Der Verlag wäre gut beraten, für die kommenden, sehnlichst
erwarteten Veröffentlichungen dieser großartigen Lyrikerin seine Übersetzungstrategie
zu überdenken.
The Hill we Climb / Den Hügel hinauf, Amanda Gorman, aus dem
amerikanischen Englisch übersetzt und kommentiert von Uda Strätling, Hadija
Haruna-Oelker und Kübra Gümüşay, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
2021, 64 Seiten, 10,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)