Dienstag, 29. November 2022

Ein kleines, feines Leben – Heilung durch Traumatherapie, Sarah Frischke

Dieses Sachbuch über Traumatherapie ist ganz erstaunlich. Es wurde nicht von einer Ärztin oder Therapeutin verfasst und doch von einer sehr kompetenten Expertin, nämlich einer Betroffenen. Sarah Frischke hat in ihrer Kindheit und Jugend eine komplexe Traumatisierung durch Gewalt und Missbrauch erlebt und leidet unter diversen Traumafolgestörungen, psychischen und körperlichen (wenn sich das überhaupt trennen lässt). In ihrem Buch erklärt sie umfassend, was man über das Thema Trauma und Traumatherapie wissen muss. Zu den fundierten Sachinformationen stellt sie eigene Erfahrungen mit den einzelnen Symptomen und Therapieformen. Herauskommt ein „Handbuch für Überlebende“ (so der Untertitel), das es in dieser Form noch nicht auf dem Markt gibt. Die Kombination aus Information und Erlebtem stellt einen großen Mehrwert dar. Die Trennung beider Komponenten erfolgt immer sauber durch das Druckbild, indem alle persönlichen Erfahrungen kursiv erscheinen und so nie mit dem objektiven Informationsgehalt verwechselt werden können.

Das Buch beschäftigt sich zunächst allgemein mit der Frage, was ein Trauma eigentlich ist, welche Folgen es hat und welche Ausprägungen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) haben kann. Sodann folgt die Struktur des Buches dem Ablauf, dem sich Betroffene stellen müssen, wenn sie sich als traumatisiert einstufen.

Zuerst gilt es auf die schwierige Suche nach einer Therapeutin oder einer passenden Klinik zu gehen. Die verschiedenen Therapiearten werden genauso erläutert wie die Frage der Finanzierung durch Krankenkassen oder Rentenversicherungsträger. Hier gibt die Autorin handfeste praktische Tipps nebst Musterschreiben und Hinweisen für ein Begutachtungsverfahren.

Die Traumatherapie selbst gliedert sich in verschiedene Phasen, die einzeln und detailliert beschrieben werden. Großen Raum nimmt die Stabilisierung als erste Phase ein. Sie dürfte für Betroffene auch das Hauptziel der Therapie sein, also sich wieder sicher (bzw. sicherer) zu fühlen und den Alltag wieder bewältigen zu können.

Zur Stabilisierung gehören Themen wie Selbstachtung und Selbstfürsorge, das Erlernen von Skills (also Techniken zur Symptomkontrolle) sowie die Identifikation der eigenen Ressourcen. In diesem Zusammenhang werden die einzelnen möglichen Symptome und die hierzu einsetzbaren Therapiemethoden wie Imaginationsübungen und Körpertherapien erläutert. Detailreich werden z.B. „Der sichere Ort“ oder die „Tresor-Übung“ beschrieben, und zwar nicht, um sie aus diesem Buch zu lernen, sondern um deren Sinn deutlich zu machen und die Angst vor den Übungen zu nehmen.

Als zweite Therapiephase folgt die Traumaexposition, also die Konfrontation mit den eigenen traumatischen Erlebnissen und Erinnerungen. Die Autorin erklärt das Für und Wider, überhaupt eine Exposition vorzunehmen sowie die verschiedenen Techniken der Exposition (z.B. EMDR) nebst ihrer Risiken. Zuletzt folgt die Phase der Traumaintegration und die Frage, ob es eine Heilung insbesondere von einer komplexen PTBS geben kann.

Die besondere Stärke des Buches besteht darin, dass es aus Sicht einer Betroffenen alle auftretenden Fragen anspricht, und zwar in der Reihenfolge, in der sie sich stellen. Alle Kapitel sind aber auch unabhängig voneinander lesbar, so dass man keinesfalls das ganze Buch im Zusammenhang lesen muss. Realistisch werden die praktischen Probleme bei der Therapeutinnensuche beleuchtet sowie die Schwierigkeit, dass gerade bei Traumatisierung diverse Krankheitsbilder nebeneinander vorliegen können (insb. Depression und Sucht spielen neben der PTBS eine Rolle). Schon die Entscheidung für eine bestimmte Therapierichtung kann überfordernd sein. Die Autorin nimmt die Leserin an jeder Stelle an die Hand, berichtet von ihren eigenen Schwierigkeiten und zeigt auf, dass diese Überforderung völlig normal ist. Gleiches gilt für die Zeit während der Therapie. Sarah Frischke weiß aus eigener Erfahrung, wie überfordernd Therapie, ja sogar das bloße Spüren des eigenen Körpers sein kann.

Etwa zur Übung „Erfolge würdigen“, schreibt die Autorin:

„Mir half diese Übung vor allem bei der Selbstfürsorge. Gerade hier hatte ich noch viel nachzuholen und zu üben, was mich teilweise sehr große Überwindung kostete. Gleichzeitig konnte ich über diese Themen mit kaum jemanden in meinem privaten Umfeld reden. Denn für die meisten meiner Bekannten und Freunde war und ist meist nicht zu verstehen, wie viele Dinge im Alltag für mich eine Riesenhürde darstellten. Sie können nicht begreifen, welche Schuldgefühle z.B. eine warme Wärmeflasche früher bei mir auslösen konnte. Sie ahnen auch nicht, mit welchem inneren Kampf ich die eine oder andere warme Mahlzeit zu mir nahm. Aber gerade diese – nach außen vermeintlich kleinen und nebensächlichen – Erfolgserlebnisse erhielten durch diese Übung ihre Würdigung und gerieten bei mir damit nicht mehr in Vergessenheit.“ (S. 179)

Das Credo des ganzen Buches ist, dass Betroffene auf sich selbst vertrauen und Expertinnen für sich und ihre Erkrankung werden sollten, da jede PTBS sehr individuell ist. Jede Betroffene sollte in ihrem eigenen Tempo vorgehen, um eine Verschlimmerung der Erkrankung zu vermeiden und sich trauen, therapeutische Interventionen oder Behandlerinnen abzulehnen, die ihr nicht geheuer sind. Die Leserin weiß die Autorin zu jeder Zeit an ihrer Seite wie eine erfahrene Mitpatientin mit den gleichen Ängsten und Nöten, die ihr den Rücken stärkt.

An der fachlichen Richtigkeit der Ausführungen in diesem Buch besteht aus meiner Sicht kein Zweifel. Die Ausführungen werden in Fußnoten ausführlich mit Quellen der Fachliteratur belegt. Ein umfassendes Literaturverzeichnis im Anhang enthält sämtliche anerkannte Standardliteratur zum Thema (z.B. von Luise Reddemann und Michaela Huber), darüber hinaus aber auch Internetlinks zu Informationsquellen von Selbsthilfeorganisationen und Kliniken. Das Buch ist sprachlich präzise und nutzt Fachbegriffe, erklärt diese aber stets so, dass jeder Laie sie gut verstehen dürfte. Natürlich besteht für jede Betroffene das Risiko, durch das Lesen des Buches getriggert zu werden. Auf diese Gefahr wird im ersten Teil des Werks ausdrücklich hingewiesen. Jede Leserin ist dazu aufgerufen, sich selbstfürsorglich nur so viel Lektüre am Stück zuzumuten, wie es ihr guttut.

Dieses Traumahandbuch informiert Betroffene fundiert und empathisch wie ein Gespräch mit einer erfahrenen Mitpatientin. Diese Form ist in der Fachliteratur bislang einzigartig und ausgesprochen gelungen. Warum ein solches Buch im Selbstverlag erscheinen muss, ist mir unbegreiflich, da es einfach fehlt!

Ein kleines, feines Leben – Heilung durch Traumatherapie: Ein Handbuch für Überlebende, Sarah Frischke, Selbstverlag (Books on Demand), 2022, 336 Seiten, 15,99 EUR, ISBN 9783756213535

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis der Autorin. Ich danke der Autorin für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 19. November 2022

Wir verstehen nicht, was geschieht, Viktor Funk

Die meisten von uns haben viel gelesen über die Schrecken in deutschen Konzentrationslagern. Lager, in denen Menschen unter erbärmlichen Bedingungen leben mussten und an der Zwangsarbeit starben, gab es aber nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch in der Sowjetunion. Viktor Funk, den ich auf der Frankfurter Buchmesse hören konnte, hat ein Herzensbuch geschrieben über die Überlebenden des Gulag. Unter Gulag versteht man nicht nur die Lager selbst, sondern im weitesten Sinne das sowjetische System von Verfolgung, Verbannung und Zwangsarbeit in Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst. Unter Stalin erlebte dieses System seinen Höhepunkt.

Der Autor ist studierter Historiker und hat sich wissenschaftlich mit dem Gulag beschäftigt. Nun legt er einen Roman vor, der zwar fiktiv ist, jedoch eine wahre Geschichte zum Vorbild hat. Er beschreibt exemplarisch die Grausamkeit dieses Systems, unter dem die Menschen in der Sowjetunion noch nach Ende des 2. Weltkriegs zu leiden hatten. Es geht um Lew und Swetlana, die sich als Studenten kennen- und lieben lernten. Lew wird im 2. Weltkrieg eingezogen und landet zunächst in deutscher Gefangenschaft. Kaum befreit, wird er von sowjetischen Truppen verhaftet. Wer nicht bis zum Tode kämpfte, sondern lebend in Gefangenschaft geriet, galt unter Stalin als Vaterlandsverräter. Lew wird zu neun Jahren Zwangsarbeit im Lager Petschora in Sibirien verurteilt. Insgesamt 14 Jahre warten Lew und Swetlana aufeinander und halten sich mit ihrer Liebe und Hoffnung am Leben. Sie schreiben einander Briefe unter Umgehung der Zensur und Swetlana schafft es, Lew illegal im Lager zu besuchen.

Der Roman geht der Frage nach, wie Menschen es geschafft haben, unter den widrigsten Bedingungen zu überleben und wie das Lager sie für ihr weiteres Leben geprägt hat. Dabei spielen Befragungen der betagten Überlebenden ebenso eine Rolle, wie die aus der Haft geschriebenen Briefe und Aufzeichnungen.

Anrührend sind besonders Lews Lebensbetrachtungen, die trotz allem voller Dankbarkeit sind. Er weigert sich, wie viele andere Überlebende, seine Haftzeit als verschwendete Jahre anzusehen. Er schätzt seine dort gemachten Erfahrungen und die ihm entgegengebrachte Freundlichkeit, so selten sie auch gewesen sein mag. Die im Lager geschlossenen lebenslangen Freundschaften bedeuten Lew viel. Und mit seiner geliebten Sweta verbringt er den Rest seines Lebens, insgesamt 70 Jahre. Lew zeigt, dass der Mensch sich den Sinn in seinem Leben selbst suchen muss, um nicht zugrunde zu gehen.

Manche Überlebenden können von ihren Erinnerungen berichten, anderen ist das zu schmerzhaft. Viele sind bei der harten Arbeit als „Menschenmaterial“ verbraucht und getötet worden. Worüber aber die wenigsten von ihnen erzählen können, sind die Gefühle von damals. Fakten über die Gebäude und Arbeitsbedingungen im Lager oder die Aufseher, ja, das geht. Aber wer hatte damals schon die Kraft sich zu fragen, wie er sich fühlt?

„‘Entweder Sie leben in dem Moment, oder Sie denken über ihre Angst, Hoffnung und Verzweiflung nach. Und damals hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. (…) Nicht, dass ich nichts fühlte. Im Gegenteil. Die Gefühle waren so intensiv, dass ich nicht über sie nachdenken konnte‘, erklärte Lew.“ (S. 44/45)

Die Geschichte von Lew und Sweta, die auf ein gelungenes Leben zurückblicken, ist berührend und lehrreich zugleich. Sie gibt Einblick in das Leben im Gulag, aber auch das Leben der draußen auf die Internierten Wartenden. Die unglaubliche Kraft der Betroffenen beeindruckt in diesem Buch, das ohne Bitterkeit auskommt. Ich kann es sehr empfehlen.

Wir verstehen nicht, was geschieht, Viktor Funk, Verbrecher Verlag, Berlin, 2022, 158 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Dienstag, 15. November 2022

Dry, Christine Koschmieder

„‘Dein Thema ist gar nicht der Alkohol, kann das sein?‘, hat Ida am Telefon gefragt. Alkohol ist nie das Thema, antworte ich ihr, bei keinem hier.“ (S. 224)

So könnte man auch den Inhalt dieses autofiktionalen Romans beschreiben. Der Titel weist auf eine Verbindung zu Alkohol hin, aber in Wirklichkeit geht es um alles andere. So erfahren wir zwar schon zu Beginn, dass Christine sich in einer Suchtklinik befindet, aber was sich dort ereignet, wird erst im dritten Abschnitt des Buches geschildert. Zuvor nehmen wir an Christines turbulentem Leben teil, in dem sie studiert, drei Kinder von drei Männern bekommt, mit dem frühen Tod eines geliebten Mannes klarkommen muss und ihre Eltern versterben.

Alkohol spielt in dieser Lebensbeschreibung nur eine marginale Rolle. Ohne den Buchtitel würde es der Leserin vielleicht gar nicht auffallen, dass immer mal eine Flasche Wein geleert wird. Was mir aber auffiel, war, dass mich diese Beschreibung trotz der teilweise dramatischen Umstände nicht emotional gepackt hat. Wieso erzählt sie mir das? Wieso berührt mich das nicht? Worauf will sie hinaus? Genau darauf, auf die fehlende Emotion. Natürlich leidet Christine unter der Erkrankung ihres Mannes und dessen Tod. Natürlich ist es schwierig, allein die Kinder aufzuziehen. Aber Christine funktioniert. Irgendwie gibt es ein Leben, eine Wohnung und Fröhlichkeit. Erst ganz zum Schluss merkt man, dass es sich um eine spiegelnde Oberfläche handelt, in der etwas fehlt: Tiefe und Reflexion.

Im zweiten Abschnitt erfahren wir von Christines Kindheit, die sie mit zwei sehr gebildeten, aber trinkenden Elternteilen erlebt hat. Die Kindheit bleibt bruchstückhaft in der Erzählung. Ja, da war nicht alles schön, aber der „typische“ Trinkerhaushalt wird auch nicht geschildert mit Verwahrlosung und Schlägen. Gibt es einen typischen Trinkerhaushalt überhaupt? Ist der Alkoholismus der Eltern schon die Erklärung für den der Tochter? Nein, das wäre viel zu einfach. Denn Alkohol ist – wie gesagt - nie das Thema. Beziehungen, Gefühle und Bedürfnisse sind das Thema. Denn Sucht ist wie ein Eisberg, erfährt Christine in der Klinik. Sieben Achtel befinden sich unter der Oberfläche und müssen erst trockengelegt werden, um sie zu sehen.

„Während ich trotz Schmerz und Chardonnay alles hinzukriegen scheine und mich das immer verzweifelter macht, wird mir etwas klar. Dass ich nämlich gar nicht trinke, weil ich einen Anlass habe. Sondern dass ich der Anlass bin.“ (S. 218)

Am interessantesten fand ich den dritten Abschnitt des Buches, in dem der gesamte Rest einen Sinn bekommt. Christine bemerkt die fehlende Nähe in ihren Beziehungen zu Eltern, Männern und Kindern. Und zu sich selbst. Sie stellt sich ihren unaushaltbaren Gefühlen, die der Alkohol stets gedämpft hat. Schwierig fand ich bei der Lektüre, dass ich lange Zeit eher unberührt und ohne einen roten Faden zu sehen, durch die Lebensereignisse der Erzählerin gedümpelt bin. Da muss die Leserin diszipliniert dranbleiben an der Lektüre.

Was mich dranbleiben ließ, war der Auftritt von Christine Koschmieder auf der Frankfurter Buchmesse. Sie sprach so fesselnd und offen von ihrem Leben und davon, dass niemand sie von außen als Alkoholikerin erkannt oder benannt hatte. Sie räumt auf mit dem Klischee, dass Alkoholiker „die anderen“ sind, die besoffen auf Parkbänken vegetieren. Ich hätte mir gewünscht, mehr von dieser heute so charismatischen Frau in dem Roman vorzufinden. Aber vielleicht ist sie erst durch die Auseinandersetzung mit sich selbst zu dieser authentischen Frau geworden?

Ein interessantes Buch, das Alkoholismus mal ganz anders schildert, abseits prekärer Verhältnisse. Ein bisschen mehr Führung der Leserin, ein bisschen mehr roter Faden in den ersten beiden Teilen hätten dem Roman gutgetan, ändern aber nichts am erkennbaren Mut und der Hingabe der Autorin.

Dry, Christine Koschmieder, Kanon Verlag, Berlin, 2022, 256 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Dienstag, 8. November 2022

Tee – Geschichten zum Entspannen, ausgewählt von Kati Hertzsch

Tee – ein belebendes Getränk für alle Lebenslagen, das Abgeschlagenheit und mangelnde Inspiration sofort kuriert. Für mich jedenfalls. Ich spiele schon mein Leben lang im Team Tee, Kaffee trinke ich nie. Langsam und feinsinnig setzt das bernsteinfarbene Getränk aus Blättern seine Energie frei anstatt mit Koffeinblitzen zu protzen wie sein Konkurrent aus Bohnen. Ebenso fein blättert die vorliegende Anthologie ihre Geschichten auf und nimmt uns mit in Situationen, in denen Tee getrunken wird.

Vor allem die erste Hälfte des Buches ist ein Sinnenschmaus, da Tee in den ersten Geschichten eine wirklich tragende Rolle spielt. In manchen späteren Geschichten kommt das Getränk manchmal nur am Rande vor. Schön sind die Erzählungen aber alle.

In „Nicht die Bohne“ (S. 9 ff) spricht Jan Brandt die verbreitete Schwierigkeit der deutschen Teetrinkerin an, in der Öffentlichkeit überhaupt an eine passable Tasse des Lieblingsgetränk zu kommen. Denn oft – Friesland einmal ausgenommen – gibt es dutzende Kaffeespezialitäten in deutschen Cafés und Gaststätten, aber nur ganz unten auf der Karte den kurzen Hinweis auf schwarzen Tee. Ja, um Himmels Willen, möchte frau ausrufen, WAS für schwarzer Tee?? Darjeeling, Assam oder Ceylon? Ist er aromatisiert wie ein Earl Grey oder ein astreiner First Flush? Und was ist mit grünem Tee? Als ob Tee ein Allerweltsgesöff wäre, bei dem die Sorten austauschbar wären.

Verstanden fühle ich mich auch von Jardine Libraire und Amanda Eyre Ward, welche die wahre Poesie des Tees auszudrücken wissen in „Imperial Dragonwell“:

„Hunderte von Hand beschriftete Teekisten in den Regalen – es war Verführung am helllichten Tag. Allein die Namen – Blackwood Ceylon, Heavenly Blue Peak, Himalayan Snowflake, Volcano Flower Burst – waren so was Ähnliches wie poetische kulinarische Pornographie. (…) Beim Tee geht es ums Zeremoniell und die feinen Nuancen. Es ist himmlisch, den Dampf einzuatmen, der aus der Tasse aufsteigt. (…) Wir lieben die gläsernen Teekannen, in denen man beobachten kann, wie ein hartes, getrocknetes Jasminkügelchen langsam im heißen Wasser aufblüht und dabei aussieht wie ein wildes Herz.“ (S. 21)

Abgesehen von der Beschreibung des Tees hat mich eine Kurzgeschichte von Katherine Mansfield am meisten in ihren Bann geschlagen, sie heißt „Psychologie“ (S. 117 ff). Den Inhalt muss ich leider für mich behalten, da sie sonst ihren Zauber verlieren würde. Aber Mansfield muss eine kluge Frau gewesen sein, schon weil sie in der Geschichte anmerkt, dass mancher Kuchen, der zum Tee gereicht wird, so gut ist, dass er es verdient hätte, in der Genesis erwähnt zu werden:

„Und Gott sprach: ‚Es werde Cake!‘ Und es ward Cake. Und Gott sah, dass es gut war.“ (S. 120)

Meine absolute Lieblingsstelle! Es gibt in diesem Buch diverse berühmte Autorinnen und Autoren zu entdecken. Die Sammlung geht von George Orwell, Dorothee Parker, Erika und Klaus Mann über Doris Dörrie, Frank Berzbach bis hin zu Banana Yoshimoto. Da dürfte für jede/n etwas dabei sein.

Wer über der Lektüre einzunicken droht, dem empfehle ich den Genuss eines anregenden japanischen Gyokuro. Unnötig zu erwähnen, dass ich während des Verfassens dieser Zeilen an einer Teetasse nippe (einer dünnwandigen, weißen mit Untertasse natürlich), denn ich halte es mit Alice im Wunderland, die schon auf dem Vorsatz zu diesem Band sagt: It´s always tea time.“

Setzt den Kessel auf, spült die Kanne heiß aus und kuschelt Euch in Euren Lieblingssessel. Lasst Euch umgarnen vom feinsinnigsten Getränk der Welt, dessen Duft aus den Seiten dampft und taucht ein ins Leben, das nur mit einer guten Tasse Tee zu bewältigen ist. Es lohnt sich!

Tee – Geschichten zum Entspannen, ausgewählt von Kati Hertzsch (diverse Autor:innen und Übersetzer:innen), Diogenes Verlag, Zürich, 2022, 240 Seiten, 14,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...