Als Undine nach der Türklinke des weißen Hauses greifen
wollte, prallte sie zurück. Beiderseits der Tür starrten ihr zwei leere Fratzen
entgegen, die sie aufspießen zu wollen schienen. Abschreckend, diese mannshohen
Nixenfiguren, die dem Namen der Buchhandlung Hohn lachten – Inselzauber. Oder
hatte sie sich in der Adresse geirrt? Nein, vor ihrer Abreise auf die kleine Insel
hatte Undine sich versichert, dass es dort zumindest diesen einen Buchladen
gab, eine Voraussetzung für ihre Wahl des Urlaubsorts. Sie schob ihre Brille
zurecht und drückte beherzt die Klinke. Die Tür schien verschlossen.
Ärgerlich, dachte Undine, die das einzige von ihr
mitgeführte Buch bereits auf der Anreise ausgelesen hatte. Das Einladen neuer
Bücher in ihre geliebte Sammlung stellte stets einen Höhepunkt jedes Urlaubs
dar, da das Entdecken neuer Buchschätze in unbekannten Läden fern von Zuhause
ihr stets besondere Freude machte. Empfehlungen örtlicher Buchhändlerinnen
folgte sie gern. Einen Tag gänzlich ohne Lesen zu verbringen, kam für Undine
nicht in Frage und war seit ihrem fünften Lebensjahr nicht vorgekommen.
Eine Bewegung im Inneren des Ladens veranlasste Undine zu
einem erneuten Versuch an der Tür, die sich nach kräftigem Rütteln schließlich
knarrend öffnete. Erleichtert betrat Undine das Geschäft. Ihr erwartungsvolles
Lächeln erlosch jedoch schlagartig, als sie die Buchhändlerin hinter dem eine
Barriere bildenden Kassentresen erblickte. Die blasse Frau undefinierbaren Alters
mit strähnigen mausblonden Haaren lehnte gelangweilt an einem unordentlichen
Regal. Ihr Blick war so leer, als sei sie halb erblindet. Sie reagierte nicht
auf das Eintreten ihrer Kundin. Das sollte eine Buchhändlerin sein?! Verwundert
erinnerte Undine sich an die vor Lesefreude sprühenden Augen und eifrig auf Gedrucktes
weisenden Hände anderer Büchermenschen, denen sie sonst in den Geschäften begegnete.
Verlegen räuspernd grüße sie und wollte gerade zu einer höflichen Frage
ansetzen, da krächzte die Frau hinter dem Tresen „Nehmen Sie das hier. Das
nehmen alle.“ und schob ihr ein zerfleddertes Taschenbuch mit grellbuntem Einband
hin, dessen Buchrücken bereits Rillen aufwies. Ihren angewiderten Blick mühsam
verbergend bat Undine, sich im Laden einmal umsehen zu dürfen. Die Frau hinter
der Kasse zuckte kaum sichtbar die Achseln.
Zwar war der Laden alles andere als einladend, schien im
hinteren Teil aber einige unordentliche Bücherstapel zu enthalten. Undine war
es gewöhnt, auch im größten Buch-Chaos noch Schätze zu finden. Staub wirbelte
durch den ungelüfteten Raum, als sie sich zu einem seltsam geformten Buchpodest
vortastete. Die lieblos darauf geworfenen Druckwerke schienen schon länger ein
klägliches, ungelesenes Dasein zu fristen.
Langsam wurde Undine mulmig. Die Aussicht, diesen ungepflegten
Ort ohne neuen Lesestoff verlassen zu müssen, beängstigte sie. Was sollte sie
ohne Buch machen, wie ihre einsamen Tage füllen? Sie war für mindestens eine
Woche auf dieser Insel gestrandet, bis das nächste Schiff zum Festland ging.
Nicht einmal eine Bibliothek gab es in diesem intellektuellen Ödland!
Auf der Suche nach lesenswerter Lektüre, von der sie die
aufgestapelten Groschenromane ausschloss, umrundete sie das weiße halbhohe
Podest und stellte fest, dass es die Form einer liegenden Sanduhr hatte. Ganz
oben auf der schimmernden Oberfläche lag kein einziges Buch. Beim Darüberbeugen
erschrak sie, als sie in ihr eigenes Spiegelbild sah. Hinter dem Bild ihrer
selbst erkannte sie, dass das Podest hohl war und den Zugang zum
wassergefüllten Untergeschoss des merkwürdigen Hauses darstellte. Undine
schüttelte sich. Wasser und Bücher passten nun wirklich nicht zusammen! Kein Wunder,
dass manches Exemplar schon ganz wellige Seiten aufwies.
Aus der Tiefe des Wassers stieg ein schwacher Lichtschein
herauf, der von der Stehlampe einer alten Frau im Untergeschoß ausging, die
dort zwischen Bücherregalen saß und las. Undine begann an ihrer Wahrnehmung zu
zweifeln, berührte die feuchte Oberfläche vorsichtig mit der Hand und wurde
augenblicklich in das Bassin hineingesogen. Perplex, jedoch völlig trocken, kam
sie auf ihren wackligen Stöckelschuhen neben der alten Frau im Untergeschoß zum
Stehen. Die Greisin sah mit weisen, freundlichen Augen von ihrer Lektüre auf.
„Ich – ich suche ein Buch…“; stotterte Undine verwirrt, „Zum
Lesen. Es ist wichtig!“
„Ja, natürlich ist es das.“ Die weißhaarige Dame lächelte
wissend. „Wir lesen, um uns selbst zu finden.“
Gespannt erwiderte Undine deren Blick und meinte für einen
Moment, ihr eigenes Gesicht in dem der alten Frau wiederzuerkennen. Auf die Regale
weisend gestattete die Frau Undine sich umzusehen. Interessiert zog Undine Band
um Band heraus, nur um festzustellen, dass alle Bücher von derselben Autorin
verfasst worden waren und es sich ausnahmslos um Romane handelte, die von
derselben weiblichen Hauptfigur erzählten, allerdings in unterschiedlichen
Lebenszusammenhängen. Interessant und lesenswert erschienen sie alle, doch zog
es Undine zu keinem Exemplar im Speziellen. Das hatte sie noch nie erlebt.
Ratlos blickte sie umher.
Hinter sich hörte Undine die weise alte Frau sprechen: „Alles
was du brauchst, ist in dir.“
Die Worte klangen nicht nur in Undines Ohren, sondern
formten sich nun auch vor ihren Augen, wie in die Luft projiziert. Verwundert
fuhr sich Undine mit dem Ärmel über die Brille, als könne sie die Buchstaben
wegwischen. Sogleich konnte sie auch diese Handlung vor ihren Augen schwebend in
Worten beschrieben sehen. Eine Sekunde noch zauderte sie, suchte den Blick der
Alten und nickte ihr dankbar zu. Dann kickte sie entschlossen die Pumps von
ihren Füßen und setzte barfüßig einen Schritt auf das letzte Wort vor sich. Auf
bunt bedruckten Linien spazierte sie nach oben durch den wässrigen Vorhang, an
den Bücherstapeln vorbei aus dem Laden in Richtung Meer und blätterte ihre
eigene Geschichte auf.
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Anka Willamowius, geschrieben im August 2022 im Rahmen eines
Workshops zum kreativen Schreiben, Fotos von der Autorin