Freitag, 31. Juli 2020

Die Zeit ist kaputt, Klaus Kordon

Jedes Kind kennt Erich Kästner. Seine Kinderbücher wie "Emil und die Detektive" oder "Das doppelte Lottchen" sind weiterhin beliebt und werden immer wieder verfilmt. Erich Kästner war aber weit mehr als ein Kinderbuchautor. Mit dem gesamten Leben und Werk des Erich Kästner beschäftigt sich Klaus Kordon in dieser Biografie, die mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden ist. Auch für Erwachsene ist das Buch sehr lesenswert.

Erich Kästner wurde 1899 in Dresden geboren. Er hatte eine sehr innige Beziehung zu seiner Mutter, die er in seinen diversen Büchern stets zum Vorbild seiner fiktiven Mutterfiguren heranzog. Sie war eine schwer arbeitende Frau, der ihr Sohn stets Anerkennung und Rücksicht für ihre Aufopferung schuldete. Schließlich ermöglichte sie ihm durch ihren Verdienst die Bildung. Mancher munkelt, dass es Kästners starke Mutterbindung gewesen sei, die ihm eine glückliche partnerschaftliche Beziehung zu einer Frau stets erschwert habe.

Gleich die nächste Legende rankt sich um Kästners Vater. Angeblich sei nämlich nicht der Ehemann von Kästners Mutter der leibliche Erzeuger gewesen, sondern der jüdische Hausarzt der Familie. Schriftlich bestätigt wurde dies nie. Berichtet wird nur von einer unglücklichen Ehe der Kästners und einem distanzierten Verhältnis Erichs zu seinem sozialen Vater.

Der junge Erich machte früh Bekanntschaft mit dem Militär. Er wurde während des 1. Weltkriegs zum Militärdienst einberufen und in der Kaserne derart hart gedrillt, dass er eine bleibende Herzerkrankung entwickelte und als untauglich ausgemustert werden musste. Das prägte seine Abneigung gegen blinden Gehorsam und Militarismus.

Besonders interessant sind die 1920er Jahre im Leben Kästners. Er arbeitete als kritischer linker Journalist in Berlin und war einer der wenigen, die das Erstarken des Nazionalsozialismus früh vorausgesagt und davor gewarnt hatten. Sein lyrisches und sonstiges veröffentlichtes Werk war ausreichend, um den Nazis nach 1933 ein Dorn im Auge zu sein. Seine Möglichkeit zu veröffentlichen war extrem eingeschränkt. Dennoch blieb er in Deutschland und emigrierte trotz der Möglichkeit dazu nicht, wie die meisten anderen Journalisten und Autoren in ähnlicher Lage. Warum? Damit beschäftigt sich Klaus Kordon ausführlich. Hat Kästner die Gefahr durch die Nazis unterschätzt? Wollte er die Mutter nicht allein zurücklassen? Er selbst erklärte, er müsse als Beobachter im Land bleiben. Den großen Abrechnungsroman mit dem Nazideutschland, das er erlebte, hat er jedoch nie geschrieben. Erich Kästner war der einzige der betroffenen Autoren, der der Verbrennung der eigenen Bücher persönlich beigewohnt hat. 

"Zwanzigtausend Bücher werden zu diesem Zweck gesammelt, vierzigtausend Zuschauer sind gekommen. Von den vierundzwanzig deutschen Autoren, deren Werke (neben denen ihrer ausländischen Kollegen) verbrannt werden, haben dreiundzwanzig Nazideutschland bereits verlassen, einer ist geblieben und sieht sich diese Kulturschande an: Erich Kästner.
'Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners (Goebbels, K.K.). Begräbniswetter hing über der Stadt. Der Kopf einer zerschlagenen Büste Magnus Hirschfelds stak auf einer langen Stange, die, hoch über der stummen Menschenmenge, hin und her schwankte. Es war widerlich.'" (S. 144/145)

Klaus Kordnon verwendet viele Originalzitate Kästners, sowohl aus seiner Autobiografie "Als ich ein kleiner Junge war", seinen unzähligen Briefen an die Mutter als auch aus seinen Gedichten und Büchern. So hören wir Kästner selbst, aber auch eine kritische Würdigung seiner Außendarstellung. Diese Mischung ist Kordon sehr gelungen. Er stellt Kästner nicht als den gütigen Märchenonkel dar, sondern als einen sehr politischen Journalisten, dem in Nazideutschland keine andere Wahl blieb, als harmlose kleine Geschichten zu veröffentlichen, wenn er seinen Beruf nicht vollständig aufgeben wollte. Fotos aus verschiedensten Jahren runden das Buch ab. Natürlich habe ich bei der Lektüre Lust bekommen, Kästners Kinderbücher erneut zu lesem. Die Biografie hat mich aber auch neugierig gemacht auf Kästners Roman für Erwachsene "Fabian", heute in ungekürzter Version als "Der Gang vor die Hunde" erhältlich, die 1931 niemand drucken wollte.

Klaus Kordon gelingt die facettenreiche Darstellung Erich Kästners und seine historische Einordnung. Spannend erzählt schaut er hinter die nette Facade der Kinderbücher, um der ganzen Person Kästners gerecht zu werden. Eine sehr gelungene Biografie!

Die Zeit ist kaputt - Die Lebensgeschichte des Erich Kästner, Klaus Kordon, Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel 1998, 2019, 312 Seiten, 9,95 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Sonntag, 26. Juli 2020

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar

Urlaub in Deutschland ist dieses Jahr Trend. Also habe ich mir einen langgehegten Traum erfüllt und bin zum ersten Mal nach Weimar gereist. Schon lange wollte ich die wunderschöne Herzogin Anna Amalia Bibliothek besuchen mit dem berühmten Rokokosaal. Weimar ist heute ein Städtchen mit ca. 65.000 Einwohnern. Angesichts dieser Größe ist das kulturelle Erbe dieser Stadt, das einem auf Schritt und Tritt begegnet, besonders beeindruckend. Zu Goethes Zeiten lebten sogar nur ca. 6.000 Menschen dort.

1.     Anfänge der Bibliothek

Die ersten 300 Jahre lang trug die Bibliothek noch nicht den Namen der Herzogin, die auch nicht die Gründerin der Institution ist. 1691 gilt als das Geburtsjahr der Sammlung, die zunächst im Weimarer Residenzschloss verwahrt wurde. Es handelte sich schlicht um die „herzogliche Bibliothek“. Bücher und Drucke waren nur ein Teil der Sammlung diverser Kulturgüter, zu denen auch z.B. Gemälde, Kunsthandwerk und naturkundliche Gegenstände gehörten. Erst seit 1750 beschäftigte die Bibliothek einen hauptamtlichen Bibliothekar.

Herzogin Anna Amalia übernahm die Regierung des Herzogtums Sachsen-Weimar und Eisenach im Jahr 1758, nachdem ihr Ehemann früh verstorben war. Dass sie als Frau sein Amt übernehmen konnte, war dem Umstand geschuldet, dass der gemeinsame Sohn und Thronfolger Carl August beim Tode des Vaters erst ein Jahr alt und somit bis zur Volljährigkeit nicht regierungsfähig war. Anna Amalia lagen Bildung, Literatur und Kultur sehr am Herzen. Ihr größter Verdienst um die Bibliothek bestand darin, dass sie diese aus der herzoglichen Residenz in ein eigenes Gebäude umziehen ließ und somit vom Betrieb des Hofes absonderte. 1766 zog der Buchbestand von ca. 30.000 Bänden um in das sog. Grüne Schloss. In diesem Gebäude befindet sich die Bibliothek bis heute. Der Umzug bewahrte die Bibliothek wahrscheinlich vor ihrer völligen Zerstörung, da im Jahr 1774 das Residenzschloss abbrannte. Sinn des Umzugs war vor allem, die Buchbestände einer größeren Anzahl von Menschen, nämlich der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Einrichtung einer öffentlichen Bibliothek war ein sehr moderner Gedanke, der in Weimar lange vor anderen Orten verwirklicht wurde.

2.      Der Rokokosaal

Geliebtes Herzstück der Bibliothek ist bis heute der Rokokosaal. Das Grüne Schloss war bereits 1565 erbaut worden und wurde auf Geheiß Anna Amalias 1761 bis 1766 zur Bibliothek umgebaut. August Friedrich Straßburger entwarf den Rokokosaal auf einer nur 21 x 11 m großen Grundfläche des ersten Stockwerks des Gebäudes. Innerhalb des rechteckigen Raumes gestaltete er eine Ellipse aus 12 Pfeilern. Diese Kombination aus rund und eckig macht für mich den besonderen Charme des Raumes aus. Die Räume zwischen den Pfeilern sind teilweise mit gerundeten Bücherregalen ausgefüllt, zum Teil als Sichtachse und Durchgang frei gelassen, so dass die Regale von beiden Seiten zugänglich sind. Auf den Pfeilern ruht eine Galerie, die in der Mitte offen und mit einem Geländer begrenzt ist, so dass eine zweite Ebene mit Bücherregalen an den Wänden entstand. Die Decke des Raumes oberhalb der Galerie hat wiederum eine ellipsenförmige Öffnung mit Geländer, so dass die Decke des darüber liegenden Stockwerks sichtbar wird. An dieser ist ein von unten sichtbares Gemälde angebracht. Das so entstehende hohe Raumgefühl ist fast kirchenähnlich. Die gesamte Konstruktion von Regalen und Galerie ist aus einfachem Kiefernholz gefertigt und angestrichen.

Besonders an diesem Bibliotheksraum ist neben der Konstruktion der Umstand, dass zusätzlich zu den Büchern, Karten etc. auch Büsten und Gemälde berühmter Persönlichkeiten aufgestellt und angebracht wurden. Bei den dargestellten Personen handelt es sich nicht nur um Mitglieder der herzoglichen Familie, sondern in gleicher Größe und sozusagen auf Augenhöhe auch um Dichter und Denker der Weimarer Klassik, allen voran Goethe und Schiller. Bis heute können die in der Bibliothek aufgestellten Werke zu Forschungszwecken in den Lesesaal bestellt und benutzt werden. (Leider darf man sie also nicht in der wunderbaren Atmosphäre des Rokokosaals lesen.)


3.      Goethe-Zeit in der Bibliothek

Goethe hielt sich ab 1775 in Weimar auf und freundete sich rasch an mit Herzog Carl August, dem Sohn Anna Amalias, der im selben Jahr die Regierung übernommen hatte. 1797 wurden die Geheimen Räte Goethe und Voigt zu Oberaufsehern der herzoglichen Bibliothek ernannt. Goethe blieb seiner Position in der Bibliothek bis zu seinem Tod treu. Als erstes wurde eine neue Bibliotheksordnung mit festen Ausleihtagen und -fristen erarbeitet. Inzwischen war die Bibliothek eine vom Hofe weitgehend unabhängige Einrichtung geworden, die sich sogar erlauben konnte, die vom Herzog selbst entliehenen Bände zur Rückgabe anzumahnen. Der Buchbestand wurde mit einem festen Etat jedes Jahr erweitert. Goethe muss einer der besten „Kunden“ gewesen sein: Er selbst hat zwischen 1792 und 1832 ganze 2.276 Titel ausgeliehen! 1832, in Goethes Todesjahr, war ein Gesamtbestand von 80.000 Büchern vorhanden. Die Katalogisierung nahm überwiegend Goethes Schwager Christian August Vulpius vor, der von 1797 bis 1826 auf Goethes Empfehlung hin in der Bibliothek tätig war. Um mehr Platz für die Bücher zu schaffen, wurde 1821 bis 1825 der neben dem Grünen Schloss stehende Turm zum Bibliotheksturm mit einer kunstvollen hölzernen Wendeltreppe in der Mitte umgebaut und durch ein Verbindungsgebäude an das Schlossgebäude angeschlossen.

4.      Entwicklung der Bibliothek bis heute

Seit der Abdankung des letzten Herzogs 1918 sprach man schlicht von der Thüringischen Landesbibliothek. Das Gebäude war mit ca. 400.000 Titeln überfüllt. Wechselnde politische Machthaber wünschten sich eine Bibliothek, die der Volksbildung dienen sollte. Jedoch war die Bibliothek seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zum Museum, das Menschen besichtigen wollten und Ort der Goetheverehrung geworden als zu einer Ausleihstelle für aktuelle Literatur. 1969 erfolgte die Umbenennung in Zentralbibliothek der deutschen Klassik und eine endgültige Spezialisierung auf Literatur der Zeit von 1750 bis 1850 unter Weggabe anderer Bestände z.B. an die Universitätsbibliothek Jena. Nach der deutschen Wiedervereinigung und zum 300. Bibliotheksjubiläum im Jahr 1991 erst erhielt die Einrichtung ihren heutigen Namen, Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

Seit 2000 geplant und 2005 eingeweiht wurde ein Bibliotheksneubau direkt gegenüber des Grünen Schlosses. Die dortigen historischen Gebäude, das Rote und das Gelbe Schloss wurden durch einen Kubus und ein unterirdisches Tiefmagazin ergänzt. In dem Bücherkubus befindet sich heute das sog. Studienzentrum mit einer Präsenzbibliothek von ca. 40.000 Bänden moderner Forschungsliteratur verschiedener Fachbereiche. Die Atmosphäre des lichtdurchfluteten Kubus ist modern und lädt den Leser zum Verweilen ein.

5.      Bibliotheksbrand 2004

Am Abend des 2. September 2004 brach durch ein schadhaftes Elektrokabel ein furchtbares Feuer in der Bibliothek aus. Wie viele Menschen in ganz Deutschland habe ich voll Trauer am Fernseher mitverfolgt, wie Flammen aus dem Dach schlugen und mutige Menschen mit bloßen Händen Bücher aus dem brennenden Gebäude trugen, um zu retten, was zu retten war. Der hölzerne Rokokosaal sowie 50.000 Bücher sind bei dem Feuer vollständig zerstört worden. Weitere 62.000 Bücher sind durch Feuer, Ruß und Löschwasser schwer beschädigt worden. Ersatzbeschaffung und Restaurierung der Bücher dauern bis heute an. Der Rokokosaal aber ist detailgetreu wiederaufgebaut worden! Vergleicht man den heutigen Anblick mit Fotos des Originalsaals ist kaum ein Unterschied festzustellen. Eine Meisterleistung! Die Wiedereröffnung erfolgte am 24. Oktober 2007. Seitdem kann der Rokokosaal wieder besichtigt werden.

6.      Zum Schluss

Bücherturm und Bibliothek von der Parkseite

Jeder Buchliebhaberin kann ich einen Besuch in Weimar und vor allem in der wunderschönen Herzog Anna Amalia Bibliothek nur ans Herz legen. Diese kleine Stadt ist zum Bersten angefüllt mit Kultur, viel mehr als man in ein paar Tagen erfassen kann. Vor allem im Rokokosaal spürt man, dass er einen Teil unseres kollektiven Gedächtnisses enthält, aus dem wir bis heute lernen und an dem wir uns erfreuen dürfen. Ich werde auf jeden Fall wiederkommen.

Die meisten der hier verwendeten Informationen stammen aus dem sehr empfehlenswerten Buch „Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek – Ein Portrait“ (68 Seiten mit vielen Fotos) von Michael Knoche, dem von 1991 bis 2016 amtierenden Bibliotheksdirektor, erschienen in 2. Auflage 2016 im Otto Meissner Verlag, Berlin.

Mein sehr herzlicher Dank gilt der Klassik Stiftung Weimar als Trägerin der Bibliothek, die mir freundlicherweise den kurzfristigen Zugang zum Rokokosaal ermöglicht, die kostenfreie Veröffentlichung meiner Fotos gestattet und diesen Beitrag dadurch sehr unterstützt hat.

Samstag, 25. Juli 2020

Goethe – Die Comic-Biografie – 1749-1832, Friedemann Bedürftig

Goethe hatte ein sehr langes und bewegtes Leben. Viele Biografien sind darüber geschrieben worden mit Hinweisen zu seinen Texten. Da kann man schnell den Überblick verlieren bei so viel Information. Für Einsteiger oder zum Auffrischen eignet sich daher diese Comic-Biografie, die das über achtzigjährige Leben des Genies eindampft auf etwas über 100 Comic-Seiten. Die Bilder helfen beim Verstehen und Erinnern und machen richtig Spaß.

Es handelt sich um einen durchweg farbigen Doppelband von zwei verschiedenen Zeichnern. Der erste Band „Zum Sehen geboren“ behandelt den Zeitraum seit der Geburt bis zur Begegnung Goethes mit Christiane Vulpius in Weimar im Jahr 1788. Dabei beschäftigt sich meist eine Doppelseite mit einem Zeitabschnitt, etwa mit dem Studium in Leipzig oder der Flucht nach Italien. Originalzitate sind in die Bilder eingefügt oder den Personen in einer Szene in den Mund gelegt. Am Schluss folgt eine Kurzbiografie in Jahreszahlen und kurze Werkausschnitte, nämlich das Gedicht „Das Veilchen“, die Schlussszene aus „Götz von Berlichingen“ und ein Ausschnitt aus „Die Leiden des jungen Werther“, jeweils ohne Illustrationen.

Die Zeichnungen des ersten Bandes erinnern mich an einen Kinderzeichentrickfilm. Recht unschuldig läuft Goethe als kleiner Junge umher. Die Bilder sind sehr klar und übersichtlich, alle Orte und Gebäude sind gut erkennbar und originalgetreu wiedergegeben.

Ganz anders sieht der zweite Band „Zum Schauen bestellt“ aus! Nicht nur die Illustrationen haben einen völlig anderen Stil, sind teils martialisch, voller, düsterer. Auch das Konzept ist anders. Bekanntlich hat Goethe sich über Jahrzehnte mit dem Stoff der Faust-Sage beschäftigt und auch an seinem Drama gearbeitet. Nun wird der Faust mit Goethes Leben verknüpft dargestellt, d.h. Szenen aus dem Drama wechseln sich mit Szenen aus der Lebensgeschichte ab. Es beginnt mit dem „Prolog im Himmel“ und setzt fort mit Goethes Reise in das Kriegsinferno, als die deutschen Fürsten 1789 die französischen Revolutionäre bekämpften. Immer im Wechsel geht es so bis hin zu Goethes Tod 1832 und endet mit der Schlussszene aus Faust II. Am Schluss finden sich wieder unillustrierte Werkproben, hier das Gedicht „Gefunden“, ein Ausschnitt aus „Die Wahlverwandtschaften“, eine Szene aus „Faust II“ sowie Gedanken Goethes über den Faust, geäußert gegenüber seinem Sekretär Eckermann.

Das Buch ist informativ und pointiert durch die Bilder manche Punkte in eindrucksvoller Weise. Insbesondere im zweiten Band werden Goethe und Mephisto in Stil von Superhelden dargestellt. Das dürfte bezüglich Goethe der Realität entsprechen, der bereits zu Lebzeiten sehr berühmt und beliebt war, so dass Menschen ihm vor seinem Haus auflauerten. Auch akzentuiert die genaue Ausarbeitung der Gesichter z.B. den ungeheuren Altersunterschied von Goethe und seiner letzten Liebe nach dem Tod von Christiane Vulpius. Goethe hielt 1823, also im Alter von 74, um die Hand der damals 19jährigen Ulrike von Levetzow an. Diese reagierte – sagen wir – zurückhaltend auf sein Werben. Sieht man die Szene im Bild, einen greisen, faltigen Goethe und eine blutjunge Frau, wird die Ungeheuerlichkeit des Unterfangens sehr deutlich.

Eine zugleich informative und amüsante sowie schnelle Art, sich über den Dichterfürsten Goethe zu informieren. Nicht nur seine Lebensstationen, sondern auch seine Werke werden dem Leser nähergebracht. Ein schönes Buch!

Goethe – Die Comic-Biografie – 1749-1832, Doppelband aus Band 1: Zum Sehen geboren und Band 2: Zum Schauen bestellt, Friedemann Bedürftig (Text), Zeichnungen in Band 1 von Christoph Kirsch, Zeichnungen in Band 2 von Thomas von Kummant, Kolorierung in Band 2 von Benjamin von Eckartsberg, Egmont Ehapa Verlag in Kooperation mit dem Goethe Institut, Köln 2007, 112 Seiten, 14,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Freitag, 24. Juli 2020

Die Wahrheit über das Lügen, Benedict Wells

Nachdem mir zwei Romane von Benedict Wells gut gefallen hatten, war ich neugierig auf seine Kurzgeschichten. Dieser Band enthält „Zehn Geschichten aus zehn Jahren“, wie der Untertitel verrät. Die Geschichten sind sehr unterschiedlich, mal lang, mal kurz. Viele von ihnen spielen mit der Kombination aus Realem und Übernatürlichem. Vor allem die Verschiebung der Zeitebenen hat es Wells angetan.

Am deutlichsten zeigt sich das in der namensgebenden und längsten Geschichte, „Das Franchise oder Die Wahrheit über das Lügen“. Darin geht es um einen Filmregisseur, der nach langer erfolgreicher Karriere einem Journalisten endlich die Wahrheit sagen will: Er kommt aus der Zukunft. Nur dadurch wurde es ihm möglich, die Star Wars-Filme zu drehen, und zwar erfolgreicher als die Originale. Wie? Was? Gibt es mehr als ein Original? Bis ins Detail hat Wells ausgesponnen, was sich ereignet hat, wer wem welchen Stoff geklaut hat und welche Veränderungen der Zukunft, die nun Gegenwart ist, sich daraus ergeben. Obwohl ich noch nie einen Star Wars-Film gesehen habe (was ich jetzt dringend nachholen muss!), fand ich die Geschichte sehr gut gemacht und habe mich glänzend amüsiert.

Zwei andere Geschichten sind besonders interessant, da sie Erweiterungen von Wells Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ sind, den ich sehr mochte. In „Die Nacht der Bücher“ spinnt der Autor eine Bemerkung aus dem Roman weiter aus zu einer Weihnachtsgeschichte. Im Roman wird eine Geschichte erwähnt von Büchern in einer Bibliothek, die sich nachts unterhalten. Genau diese wird hier nun erzählt, und zwar am Weihnachtsabend. Man kann die Geschichte gut verstehen, auch ohne den Roman zu kennen. Niedlich.

Die andere Geschichte hat Wells offenbar kurz vor Veröffentlichung aus dem Roman genommen, um den Schwerpunkt der Handlung nicht in eine falsche Richtung zu verschieben. „Die Entstehung der Angst“ schildert die Herkunftsgeschichte des Vaters des Protagonisten. Diese war in der Endfassung des Romans nur angedeutet und der Fantasie des Lesers überlassen. Sie überrascht nicht wirklich, ist kongruent mit der restlichen Handlung. Wer sich also das geheimnisvolle des Romans erhalten will, überspringt diese Geschichte.

Schön fand ich auch „Die Fliege“, in der das Schicksal einer Frau und die Bedeutung der geschilderten Situation anhand einer Fliege, die in ein Glas fällt, erklärt wird. Einfach, aber klug.

„Ping Pong“ empfinde ich als eine Anspielung auf Zweigs Schachnovelle. Zwei Männer sind über einen Zeitraum von mehreren Monaten in einem Raum gefangen, in dem es nichts weiter als eine Tischtennisplatte gibt. Der Sinn der Gefangenschaft bleibt unklar. Die beiden Männer spielen Tischtennis um ihr Leben, es ist die einzige Möglichkeit dem Wahnsinn zu entgehen. Ist es das wirklich?

„Wir waren uns ziemlich sicher, dass irgendwo an der Decke Kameras versteckt waren, doch sie war zu hoch, um es zu überprüfen. Noch immer reagierte niemand auf unser Rufen und Klopfen, niemand sprach zu uns, es gab auch keine Forderungen. Manchmal versuchten wir, auf unseren Tellern mit Essensresten kleine Botschaften und Fragen zu hinterlassen, doch nie erhielten wir Antwort, und die Stille setzte uns zunehmend zu. Sie wand sich immer tiefer in unser Gemüt und war der Grund all unseres Tuns, als stünden wir auf einer heißen Herdplatte und müssten uns fortwährend bewegen.“ („Ping Pong“, S. 74)

Wells Geschichten sind überwiegend sehr literarisch und unterscheiden sich durch das Übernatürliche deutlich von den Romanen. Sie lassen manches offen, was ich jedoch nicht als frustrierend empfand.  Die Geschichten haben mir Spaß gemacht. Langsam entwickle ich Geschmack und Gefallen an Kurzgeschichten (siehe die vorhergehende Rezension zu Kurzgeschichten von Bernhard Schlink). Spannend fand ich, dass den beiden Geschichten zu „Vom Ende der Einsamkeit“ jeweils eine Einordnung des Autors vorangestellt war. Durch diese Erläuterung konnte ich nachvollziehen, wie es dem Roman tatsächlich sehr zugute gekommen ist, die große hier veröffentlichte Szene herauszunehmen. Weniger ist mehr. Toll, wenn ein Autor das im eigenen Werk erkennt.

Wells macht Spaß, ob als Roman oder als Kurzgeschichte, er kann beides. Zwei weitere seiner Romane liegen schon auf meinem SuB, ich freue mich drauf!

Die Wahrheit über das Lügen, Benedict Wells, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 256 Seiten, 13,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

 

Zusatz-Info:

Meine Rezensionen zu Romanen von Benedict Wells finden sich hier:

Vom Ende der Einsamkeit

Fast genial

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...