Donnerstag, 30. April 2020

Die Ladenhüterin, Sayaka Murata


Keiko Furukura ist eine Ladenhüterin im doppelten Sinne. Sie ist 36 Jahre alt, unverheiratet und arbeitet seit 18 Jahren als Aushilfe in einem Laden, genauer gesagt in einem 24 Stunden-Convenience Store, der in Japan „Konbini“ genannt wird. Der Laden ist Keikos Leben. Dort fühlt sie sich wohl und nützlich. Nur scheinen alle anderen ein Problem mit ihrem Leben zu haben. Ständig muss sie sich dafür rechtfertigen, dass sie in ihrem Alter nicht längst einen der gesellschaftlich erwarteten Wege eingeschlagen hat: Karriere oder Familiengründung, oder beides.

Keiko ist eine Außenseiterin. Schon in ihrer Kindheit hat sie erfahren, dass sie anders als alle anderen reagiert und niemand dies versteht. Die meisten Dinge sind ihr egal. Sie empfindet wenig. Aber auffallen und den Eltern Verdruss bereiten, das möchte sie nicht. Also passt sie sich an. Da sie die gesellschaftlichen Regeln nicht instinktiv versteht, ist sie froh, dass es bei der Arbeit im Konbini feste Regeln für alles gibt. In einer Schulung lernt sie, wie sie Kunden zu begrüßen, zu bedienen und zu antworten hat. Sie liebt es, in ihrem Job in eine Uniform schlüpfen zu können, in der alle Angestellten gleich aussehen. So ist sie endlich Teil einer Gruppe und keine Außenstehende mehr. Sie kann den Tonfall und den privaten Kleidungsstil der Kolleginnen unauffällig nachahmen. Niemand bemerkt mehr, wie anders Keiko ist, wenn sie diese Maske überstreift. Nach ihrem Studium behält sie ihren Aushilfsjob einfach bei und übt ihn in Vollzeit aus.

„Als Erstes übten wir die Begrüßung und den dazu passenden Gesichtsausdruck. Laut Anweisung mussten wir die Mundwinkel zu einem Lächeln hochziehen und mit geradem Rücken in einer Reihe stehend „Herzlich willkommen!“ rufen. (…)
Im Hinterzimmer zeigte man uns ein Video, und es gelang mir problemlos, die dargestellten Verhaltensweisen zu imitieren. Zum ersten Mal wurden mir ein „normaler Gesichtsausdruck“ und eine „normale Art zu sprechen“ beigebracht.“ (S. 17/18)

Doch irgendwann ist Keiko zu alt für dieses Leben, das die japanische Gesellschaft nur als Übergangsstadium akzeptiert. Würde man sie endlich in Ruhe lassen, wenn sie einen Mann heiraten würde? Das kann doch nicht so schwer sein, so einen bürokratischen Akt zu vollziehen. Es scheint ohnehin niemand zu bemerken, dass Keikos öffentliches Leben nur eine Maske ist und nicht ihr wahres Selbst. Hat sie überhaupt ein wahres Selbst?

Dieser vergnügliche und absurde Roman nimmt die oft starren gesellschaftlichen Regeln Japans ins Visier. In kaum einem anderen Land sind die Höflichkeitsformen so ausgefeilt und die Verhaltenserwartungen so detailliert. In ähnlicher Weise wäre die Geschichte aber auch in jeder anderen Gesellschaft denkbar. Keiko ist anders als die Norm, möglicherweise ist sie im autistischen Spektrum, jedenfalls kann sie ungeschriebene gesellschaftliche Codes nicht entschlüsseln. Dennoch versucht sie ihnen zu genügen, um nicht anzuecken. Sie macht die Erfahrung, dass Menschen, die nicht ins Raster passen, von den anderen abgelehnt und schließlich beseitigt werden. Keiko fühlt sich nie wirklich zugehörig. Man redet ihr sogar ein, sie sei kein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft, da sie keiner „richtigen Arbeit“ nachgehe und als Kinderlose nicht zur Erhaltung der Art beitrage. Ihre Familie versucht, sie zu „heilen“, obwohl sie selbst gar nicht leidet – nur unter der Ablehnung der anderen.

In der Geschichte lotet Keiko aus, inwieweit sie gesellschaftlichen Normen entsprechen kann und will. Sie bekommt zu spüren, dass Frauen einer deutlich anderen Erwartung ausgesetzt sind als Männer. Die Gesellschaft schreibt klare Geschlechterrollen vor. Keiko wird getrieben von der Angst, auch noch ihren jetzigen Halt zu verlieren, als zu seltsam ausgemustert zu werden und ihre Arbeit zu verlieren. Wer wäre sie noch ohne ihre Arbeit, ohne die von dort geliehene Identität? Sie weiß es nicht, weshalb es ihr so schwerfällt, sich selber treu zu bleiben.

Ein leichter, gesellschaftskritischer, absurd-lustiger Japan-Roman, der durch seine Überzeichnung viel Anlass zum Nachdenken auch über unsere westlichen Rollenerwartungen gibt. Leihen nicht auch wir uns Identitäten von Influenzern, Werbung und anderen Vorbildern aus?

Die Ladenhüterin, Sayaka Murata, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Aufbau Verlag, Berlin 2018, 160 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info:
Der Roman ist inzwischen beim Aufbau Verlag auch als Taschenbuch zum Preis von 10,00 EUR erschienen.

Mittwoch, 29. April 2020

Die Pest, Albert Camus


Alle Welt liest in der Corona-Krise „Die Pest“ – die Franzosen sowieso, aber auch in Deutschland musste der Verlag in den letzten Wochen gleich mehrere Auflagen nachdrucken. Wieso?, wundern sich manche. Warum von Krankheit lesen, wo man doch sowieso nichts anderes den ganzen Tag in den Nachrichten hört. Meine Antwort ist: Um sich verbunden zu fühlen, um sich als Teil eines großen Ganzen zu verstehen. Mit der halben Welt zur gleichen Zeit dasselbe Buch zu lesen wie in einem globalen Buchclub, ist bereits ein Gemeinschaftserlebnis. Aber auch die Geschichte selbst hilft bei der kognitiven Verarbeitung der heutigen Pandemie.

Camus‘ Roman wurde erstmals 1947 veröffentlicht und spielt in den 1940er Jahren in Oran, einem Ort an der algerischen Küste. Beschrieben wird eine (fiktive) Pest-Epidemie. Man kann das Buch jedoch auch allgemein als einen Bericht über einen Prozess der geistigen und körperlichen Zerstörung in einer absurden Situation lesen, da Camus darin seine Erfahrungen des 2. Weltkriegs verarbeitet. Beschrieben wird die Epidemie in fünf Teilen, die den Stadien der Epidemie zugeordnet sind, von ihrer Entstehung bis hin zu ihrem Ende. Der Erzähler beschreibt, wie verschiedene Menschen und damit auch verschiedene Teile der Gesellschaft mit der Epidemie umgehen.

Der Erzähler ist Dr. Bernard Rieux, ein Arzt in Oran, dessen Ehefrau kurz vor Ausbruch der Epidemie zur Kur in einen entfernten Ort gefahren ist. Nach Abriegelung der Stadt (Quarantäne) bleibt das Ehepaar daher für den Verlauf der Geschichte getrennt. Dr. Rieux ist einer der ersten, der die seltsame Erkrankung, die plötzlich auftritt, als die Pest identifiziert.

Wir begegnen dem Geistlichen Pater Paneloux, der flammende Predigten hält und zur Buße mahnt. Er hält die Epidemie für eine Strafe Gottes und wirft elementare Fragen des Glaubens und der Existenz Gottes im Angesicht des täglichen Elends auf.

Cottard ist ein Rentner, der zu Beginn der Geschichte so verzweifelt ist, dass sein Selbstmordversuch nur knapp durch einen Nachbarn verhindert werden kann. Seine Verzweiflung verliert sich während der Epidemie.

Tarrou, der Nachbar Rieux‘ gründet eine Schutztruppe aus Zivilisten während der Epidemie, die z.B. beim Abtransport der Leichen hilft. Und dann gibt es noch den französischen Journalisten Rambert, der die Stadt nicht mehr rechtzeitig vor deren Abriegelung verlassen konnte, einen Richter und einige Schmuggler und Menschenschieber.

Die eigentliche Geschichte wird jedem bekannt vorkommen. Ein Arzt sieht mehrere Patienten sterben, berät sich mit Berufskollegen und erkennt die gefährliche Pest. Als er den Politikern vorschlägt, Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung zu ergreifen, versucht man ihn mundtot zu machen. Man wisse doch noch viel zu wenig über die Erkrankung, er würde Panik verbreiten. Niemand in der örtlichen Stadtverwaltung möchte derartige Maßnahmen verantworten. Man wartet lieber auf Anweisungen von oben. Das dauert.

Schließlich wird die Stadt abgeriegelt (allerdings ohne Ausgangssperre), was einerseits zur Trennung der Bewohner von geliebten Menschen führt, die sich außerhalb der Stadt aufhalten und zu denen der Kontakt schwierig ist. Dies ist vergleichbar mit der Trennung von Familie und Freunden aufgrund der jetzigen Kontaktbeschränkungen. Natürlich bilden sich Schlepperbanden, die Menschen illegal ein- und ausschleusen. Andererseits führt die Abriegelung zu einem größer werdenden Versorgungsproblem, weil bestimmte Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter knapp werden. Die ersten Profiteure der Krise sind die Schwarzmarkthändler, die plötzlich Kleinigkeiten zu horrenden Preisen verkaufen können. Aber warum werden ausgerechnet Pfefferminzpastillen knapp? Nun, jemand hat das Gerücht verbreitet, dass diese Pastillen vor der Pest schützen würden. Wundermittel sind in jeder Krise gefragt.

Aber nicht nur die Schwarzhändler profitieren von der Ausnahmesituation. Die öffentliche Verwaltung hat alle Hände voll zu tun, um den Aufbau von Isolierlagern und Behelfskrankenhäusern zu organisieren. Da bleibt für das Tagesgeschäft keine Zeit mehr, so dass Cottard aufatmen kann, der seine Verhaftung wegen früherer Verbrechen jedenfalls während der Epidemie nicht mehr befürchten muss.

Einen wirklich wirksamen Impfstoff gibt es nicht. Zwar wird nach einem Serum geschickt, das erst aus Paris hergeschafft werden muss. Aber wirklich wirksam scheint es gegen diesen Erreger auch nicht zu sein. Ein Arzt forscht fieberhaft an seinem eigenen Serum.

In der Ausnahmesituation muss mit alten Konventionen gebrochen werden. Bei der Masse von Toten kann das Beerdigungsritual nicht mehr wie gewohnt vollzogen werden. Die Angehörigen der Verstorbenen sind längst in Quarantäne und können keine Trauerfeier ausrichten. Die Särge müssen mit der Straßenbahn abtransportiert und in Massengräbern beigesetzt werden. Erinnert uns das nicht an Bilder von italienischen Militärlastwagen in den letzten Wochen? All dies wirft die Frage auf, ob es einen Gott geben kann, der all dieses Leid geschehen und sogar unschuldige Kinder jämmerlich sterben lässt.

Aber es gibt auch die Uneigennützigen, die ihrer Arbeit derzeit nicht nachgehen können, wie etwa der Journalist Rambert, oder den politisch aktiven Tarrou, die nicht untätig herumsitzen wollen, sondern zivile Hilfstrupps bilden, um den überforderten Behörden und Krankenpflegern bei der Bewältigung der Krise zu helfen.

Vor allem die unabsehbare Dauer der Epidemie zerrt an den Nerven aller. So sagt der alte Hotelportier:

„Ach, wenn es doch ein Erdbeben wäre! Ein ordentlicher Stoß, und damit hat es sich… Man zählt die Toten, die Lebenden, und dann ist die Sache erledigt. Aber diese Saukrankheit! Selbst die, die sie nicht haben, tragen sie im Herzen.“ (S. 131)

Was mich an diesem Roman fasziniert hat, ist die ungeheure Parallelität der Ereignisse mit der Corona-Pandemie. Es wurde mir klar, dass eine menschliche Gesellschaft wahrscheinlich zu allen Zeiten ähnlich auf eine Epidemie reagiert, also auch die Pest-Epidemien im Mittelalter nicht wesentlich anders abgelaufen sind. Das Tröstliche daran ist, dass zwar das Coronavirus, das uns heute bedrängt, neu sein mag. Die Erfahrung des Ausnahmezustands angesichts einer unbeherrschbaren Krankheit ist es aber nicht. Der Stand der Technik unterscheidet uns vom Mittelalter, in dem es noch kein Internet gab. Die menschlichen Erfahrungen werden aber sehr ähnlich gewesen sein, etwa das Gefühl der Trennung von geliebten Menschen, die Angst, dass man selbst oder die Familie erkranken und sterben könnte, der Mangel an manchen Gütern, das Ausgeliefertsein und die Ungewissheit, die wirtschaftlichen Folgen der Krise und die Erfahrung, dass es in jeder Krise auch Profiteure und uneigennützige Solidarität gibt. So sind wir heute Teil einer universellen Menschheitserfahrung, nicht nur weil die Pandemie weltumspannend ist, sondern auch weil wir durch die Jahrhunderte mit allen Menschen verbunden sind, die andere Epidemien durchgemacht haben. Eine Gewissheit gibt es: Es wird vorbeigehen.

Dieser Klassiker hat mich getröstet und mir ein System hinter der chaotischen Krise gezeigt. Menschen haben zu allen Zeiten Epidemien durchlebt. Das Buch verbindet mich mit ihnen allen.

Die Pest, Albert Camus, Deutsch von Uli Aumüller, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2020, 352 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Montag, 27. April 2020

Wenn das Schicksal anklopft, mach auf, Marie-Sabine Roger


In diesem französischen Roman haben zwei Frauen eine Schraube locker. Die übergewichtige Fleur ist 76, lebt mit ihrem überfütterten Hündchen Mylord zusammen und verlässt meist nur einmal wöchentlich das Haus. Sie hat eine faustdicke Angststörung mit Sozialphobie und Agoraphobie. Harmonie ist erst 26 und ihr Leben entspricht so gar nicht ihrem Vornamen. Sie leidet am Tourette-Syndrom, einer unheilbaren neurologischen Erkrankung, die sie ständig unwillkürliche Bewegungen machen und Schimpfwörter ausstoßen lässt. Die beiden Frauen lernen sich durch Zufall kennen, schon ihre erste Begegnung gipfelt in einer Katastrophe. Doch dann entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden – hauptsächlich weil Fleur zu ängstlich ist, um nein zu sagen.

„Die junge Frau hat mich angeschaut und Sachen zu mir gesagt, oder vielmehr geschrien, die so vulgär waren, dass ich sie nicht wiedergeben kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie noch weiß.
Fette H…, Schl…! Glaube ich. Und das Schlimmste ist, dass sie mich danach angelächelt hat, als wäre nichts.
Ich war so schockiert, dass ich ihr die Tür vor der Nase zugeknallt habe, gegen alle Regeln der Höflichkeit, und umso schneller, als sie in dem Moment versucht hat, mir mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Mit dem Ergebnis, dass meine gepanzerte Tür ihren rechten Arm eingeklemmt hat.“ (S. 56/57)

Beide Frauen werden durch ihre Erkrankungen und ihr Anderssein daran gehindert ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Fleur versteckt sich vor dem Leben und wirft ständig Beruhigungspillen ein. Harmonie ist auf die Hilfe ihres Freundes angewiesen, da sie mit ihrer Erkrankung keinen Job findet. Der Roman wird abwechselnd von den beiden Charakteren erzählt. Zuerst fand ich vor allem Fleur ungeheuer nervig. Sie ist überempfindlich, kommt beim Erzählen von Hölzchen auf Stöckchen und lässt sich von ihrer blasierten Freundin herunterputzen. Außerdem ist sie in ihren russischen Arzt verknallt. Dagegen ist Harmonie eine erfrischend zupackende Frau ohne jedes Selbstmitleid. Ihre Tics und unwillkürlichen Laute werden im Text mitgeschrieben („Wu-Hu-Ha-Ha“).

Interessant wird die Geschichte, als beide Frauen miteinander in eine Entwicklung kommen. Fleur muss sich damit arrangieren, dass Harmonie ständig etwas herunterfällt. Harmonie bekommt durch Fleur ein neues Betätigungsfeld jenseits des Lebens mit ihrem Freund, der sie zwar beschützt, sie aber dadurch auch einengt. Wir treffen weitere, teilweise ungewöhnliche Menschen aus dem Viertel. Irgendein Päckchen hat ja jeder zu tragen. Mit viel Situationskomik bewältigen sie alle ihren Alltag und kommen ihren Träumen ein bisschen näher. Auch wenn es am Schluss ein bisschen rosarot wird, hat mir die Geschichte doch viel Spaß gemacht. Es ist einfach schön zu sehen, wie Menschen sich entwickeln und ihre Komfortzone verlassen, um zu wachsen.

Ein humorvolles Buch über ungewöhnliche Menschen, das uns zeigt, dass jeder aus seinem Leben mehr machen kann, wenn er seine Eigenarten nicht als Limit begreift.

Wenn das Schicksal anklopft, mach auf, Marie-Sabine Roger, aus dem Französischen von Claudia Kalscheur, Atlantik im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020, 304 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Sonntag, 26. April 2020

Schachnovelle, Stefan Zweig


Stefan Zweigs Schachnovelle ist ein Klassiker, den ich endlich einmal lesen wollte. Der aus Wien stammende jüdische Autor schrieb ihn im Exil und nahm sich noch vor Erscheinen des Buches im Jahr 1942 das Leben.

Der Ich-Erzähler dieser kurzen Novelle (ohne Kommentar ca. 65 Seiten lang) hat Ähnlichkeit mit dem Autor. Die Geschichte spielt zur Zeit des 2. Weltkriegs auf einem Passagierdampfer während der Überfahrt von New York nach Buenos Aires. Mit an Bord und von den Medien beachtet ist Marko Czentovic, der amtierende Schachweltmeister. Von diesem erzählt man sich manche Anekdote, da er eine ausgesprochen seltsame Persönlichkeit zu sein scheint. Er stammt aus der Provinz, wirkt sehr ungebildet und teilnahmslos, hat aber eine außergewöhnliche Begabung für das Schachspiel. Durch seine Turniersiege ist er zu frühem Reichtum gekommen.

Der Erzähler ist nur ein mäßiger Freizeit-Schachspieler, möchte das Schachgenie jedoch gern kennenlernen. Durch Zufall begegnet er einem anderen österreichischen Passagier, Dr. B. Dessen Geschichte stellt einen längeren Einschub innerhalb der Haupthandlung dar (oder ist vielleicht selbst die Haupthandlung?). Dr. B. war von der Gestapo in Isolationshaft genommen und verhört worden. Um dem Wahnsinn zu entfliehen, hat er sich im Kopf mit Schachpartien beschäftigt, sich dabei jedoch eine „Schachvergiftung“ zugezogen, wie er sagt. Es kommt zu zwei Schachpartien zwischen dem Weltmeister und Dr. B. mit überraschendem Ausgang.

„Dieser eigentlich unbeschreibbare Zustand dauerte vier Monate. Nun – vier Monate, das schreibt sich leicht hin: just ein Dutzend Buchstaben! (…) Aber niemand kann schildern, kann messen, kann veranschaulichen, nicht einem andern, nicht sich selbst, wie lange eine Zeit im Raumlosen, im Zeitlosen währt, und keinem kann man erklären, wie es einen zerfrißt und zerstört, dieses Nichts und Nichts und Nichts um einen, dies immer nur Tisch und Bett und Waschschüssel und Tapete, und immer das Schweigen, immer derselbe Wärter, der, ohne einen anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer dieselben Gedanken, die im Nichts um das eine kreisen, bis man irre wird. (S. 43/44)

Über die Bedeutung der Novelle ist viel spekuliert worden. So kann man die Gegensätze zwischen dem roboterhaft spielenden Weltmeister Czentovic und dem spielerischen Dr. B. als das Aufeinanderprallen zweier Systeme, etwa des Faschismus mit dem einem anderen politischen System verstehen. Das Schachspiel wird zum Sinnbild des Krieges. Außer dem Ich-Erzähler, Czentovic und Dr. B. sind noch andere Passagiere in die Schachspiele eingebunden. Ein Wettbewerb entbrennt, Ehre muss verteidigt werden, das Gewinnen wird immer wichtiger.

Insgesamt beschäftigt sich die Novelle mit der Bedeutung der menschlichen Geisteshaltung, wie man sie manipulieren und für sich selbst kontrollieren kann – oder eben nicht. Schach passt als Sinnbild für die Bildung und Schulung des Geistes hervorragend, da das Spiel keine Glückskomponente hat, sondern strategisches Vorausplanen und das Erraten der gegnerischen Vorhaben erfordert. Dennoch zeigt diese Parabel, welchen Einfluss daneben die Emotionen auf das Spielgeschehen haben.

Ich mag Zweigs pointierte, präzise Sprache. In der Novelle hat mir die Passage am besten gefallen, in der Jurist Dr. B. seine Lebensgeschichte erzählt und wie er vor dem „Anschluss“ Österreichs in die Fänge der Nazis geraten ist. Seine Schilderung der Einzelhaft in einem Hotel ist sehr nachvollziehbar. Man spürt die geistige Leere, die immer gleichen Tage, die Gedanken, die um nichts rotieren, weil sie keine Anregung und Nahrung erhalten. Gerade in der jetzigen Corona-Krise kann jeder von uns besonders gut nachfühlen, wie es sich anfühlt, im immer gleichen Zimmer eingesperrt zu sein, jedoch im Falle des Dr. B. ohne Telefon, Fernsehen oder Bücher zur Ablenkung. Es wird deutlich, wie sehr der Mensch als soziales Wesen auf den ständigen Kontakt zu anderen Menschen angewiesen ist, um geistig gesund zu bleiben.

Die Schachnovelle liest sich schnell, beleuchtet interessant die Bedeutung des menschlichen Bewusstseins und dessen Lenkung, und ist gerade jetzt sehr lesenswert.

Schachnovelle (Text und Kommentar), Stefan Zweig, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 124 Seiten, 6,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...