Sonntag, 30. Mai 2021

Vom Aufstehen, Helga Schubert

Helga Schubert ist eine weise alte Frau, inzwischen 81 Jahre alt. Sie erlebte als Kind den 2. Weltkrieg, dann die DDR, arbeitete als Psychotherapeutin und hat ihr Leben lang geschrieben. Sie hat viel erlebt, auch viel Schweres, aber sie beschreibt das alles ohne Bitterkeit. Ihr Buch ist keine chronologische Autobiographie, sondern einzelne Geschichten zu Themen oder Episoden ihres Lebens, erzählt mit einem liebevollen Blick auf die Welt. Heute lebt Helga Schubert in einem kleinen Dorf in Mecklenburg, zusammen mit ihrem Mann. Im Alter von 80 Jahren gewann sie als älteste Teilnehmerin aller Zeiten den Ingeborg Bachmann-Preis für die Geschichte „Vom Aufstehen“, die in diesem Band enthalten ist. Das Buch war nominiert für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse.

Die erste Geschichte beschreibt Helga Schuberts Sehnsuchtsort, der ihr ein Leben lang schöne Erinnerungen schenkte. Nachdem ihr Vater im Krieg gefallen war, ohne dass sie ihn kennengelernt hatte, verbrachte sie ab 1947 viele Sommerferien in Greifswald bei ihrer Großmutter väterlicherseits. Sie hatte einen großen Obstgarten. Dort konnte man in einer Hängematte träumen und lesen. Dies erlaubte Helgas Mutter, obwohl ihr die Schwiegermutter und auch Helgas große Ähnlichkeit zu dieser verhasst war.

In vielen Geschichten taucht die schwierige Beziehung zur Mutter auf. Diese lässt in über 100 Lebensjahren keinen Zweifel daran, dass sie kein Kind haben wollte, Helga ihr fremd und unverständlich ist und sie keine wirkliche Liebe zu ihr empfinden konnte. Eine Beziehung voller Übergriffigkeiten und schlimmen Kränkungen ist die Folge. Dennoch wird Helga Schubert selbst Mutter.

Helga Schubert hat über Jahrzehnte in Ost-Berlin gelebt und gearbeitet. Als Mitglied des Schriftstellerverbands der DDR genießt sie Privilegien, darf ins westliche Ausland reisen. Dennoch hat sie schon früh mit einer Übersiedlung in den Westen geliebäugelt. Aber immer kam etwas dazwischen, so dass sie bis zur friedlichen Revolution im Osten bleibt.

„Andere mussten beim Fluchtversuch sterben oder nach ihrem Ausreiseantrag Demütigungen hinnehmen, wir Schriftsteller durften uns Gründe für unsere Anträge auf ein Dienstvisum mit Rückkehrerlaubnis am selben Abend ausdenken:

Ein Kollege wollte sich genau den Ort ansehen, an dem sich Heinrich von Kleist am Wannsee erschoss, ich wollte in der Westberliner Staatsbibliothek, obwohl ich sie vielleicht auch irgendwo im Osten in einer Unibibliothek gefunden hätte, die Akten von Denunziantinnen der NS-Zeit vor den Nachkriegsgerichten lesen.“ (S. 28)

Einige ihrer Bücher dürfen nur im Westen, nicht aber in der DDR erscheinen, Preise darf sie nicht annehmen, die Stasi beobachtet sie. All das und noch viel mehr beschreibt Helga Schubert in ihren einzelnen Geschichten, die in der Zusammenschau ein Kaleidoskop ihres Lebens ergeben.

Menschlich, nachvollziehbar und sympathisch schreibt Helga Schubert. Ich bin ihr gern durch ihre Gedanken gefolgt, die manchmal mit Alltäglichem wie dem Aufstehen beginnen und dabei doch die großen Themen des Lebens miteinschließen. Unaufgeregt und leise sind die Geschichten dieses langen Lebens. Ich wünsche mir, dass ich in der letzten Phase meines Lebens so im Frieden mit mir sein werde wie die Autorin es zu sein scheint. Ich kann nur hoffen, dass ihre früheren Werke alsbald wieder aufgelegt werden. (Bei dtv ist schon etwas in Planung für den Herbst.) Von dieser weisen Frau möchte ich gern noch mehr lesen.

Ein Leben in Geschichten lasse ich mit gern von Helga Schubert erzählen, die so reflektiert und nachdenklich ist. Weder die lieblose Mutter, noch zwei Diktaturen haben diese weise Frau brechen können. Wunderschön.

Vom Aufstehen, Helga Schubert, dtv Verlag, München 2021, 224 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Dienstag, 18. Mai 2021

Richtung Süden, Nils Trede

Was ist los mit dieser Welt? Das fragt sich der namenlose Erzähler dieses kurzen Romans. Er betrachtet den alltäglichen Wahnsinn um sich herum und kann diesen nicht normal finden. Der Vater zweier Kinder fühlt Unheil heraufziehen, blickt besorgt auf die Rolle Russlands, auf die im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge, aber auch auf die mangelnde Chancengleichheit der Kinder und die wachsende Aggressivität der Menschen. Stehen manche nicht schon am Rande? Hat sich der Blick des Fleischers nicht irgendwie verändert? Und die Kassiererin im Supermarkt – hat sie sich vielleicht auch schon aufgegeben? Sind diese Menschen suizidal und benötigen seine Hilfe?

Wir lauschen dem Gedankenfluss des Erzählers 80 Seiten lang, unterbrochen nur von kurzen Dialogen, denn er kann sich nur seiner Ehefrau wirklich mitteilen. Er berichtet ihr und schließlich einem Arzt von seinen Befürchtungen, aber sie nehmen ihn nicht ernst. Er spricht von der moralischen Verpflichtung, die uns alle trifft, in das Weltgeschehen einzugreifen – und tut es selbst doch nicht.

„Die Kinder dort: Sie sind alle gleich. Sie sind von der Natur alle gleich gut gemacht. Und das denken die auch von sich selbst, gegenseitig: Wir sind alle gleich. (…) Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Weil ich weiß, welche Eltern zu welchem Kind gehören. Und deshalb weiß ich auch, wer von denen einmal in den Chefetagen ein- und ausgehen und wer von ihnen öffentliche Toiletten reinigen wird. (…) Und es treibt mich um. (…) Höre auf, deshalb gleich von Sozialismus zu sprechen! (…) Kannst du das nicht einfach mal so stehenlassen? Als Abfolge von Wörtern so stehenlassen, ohne sie sogleich unter dem Schutt deiner Lebensgeschichte wieder verschwinden zu lassen? Hör zu: Da braut sich was zusammen.“ (S. 16)

Zu Anfang dieses sehr handlungsarmen Romans legt der Erzähler den Finger in manche gesellschaftliche Wunde. Uns alle sollte das Schicksal anderer Menschen mehr kümmern, unserer Nachbarn im Haus genauso wie das der Mitmenschen in anderen Erdteilen. Aber mehr und mehr scheint der Erzähler irre zu werden an sich selbst. Er formuliert Handlungspflichten, möchte andere auf die Misere aufmerksam machen, und hält sich doch immer wieder selbst zurück mit dem Gedanken, was denn die Leute denken sollen, wenn man als Fremder sie einfach anspräche. Schlimme Dinge geschehen, manchmal im direkten Umfeld des Erzählers, manchmal in den Nachrichten. Er ringt mit sich, gerät dabei aber immer mehr in redundante Gedankenschleifen. Das ist manchmal anstrengend zu lesen.

Der Text regt zum Nachdenken an, aber die Sorgen des Erzählers ernst zu nehmen, fiel mir zunehmend schwer. Von Anfang an war ich nicht sicher, ob hier ein Verrückter zu mir spricht. Das möge jeder Leser selbst entscheiden. Sicher ist aber, dass es uns allen in diesen Zeiten immer schwerer fällt, am komplizierten globalen Alltag mit seinen massiven Widersprüchen nicht irre zu werden. Dieses Zeitgefühl spiegelt der Roman eindrücklich wider.

Ein Roman, der den Stream of Conciousness dieser Tage widerspiegelt, den alltäglichen Wahnsinn, den wir alle jeden Tag hinnehmen.

Richtung Süden, Nils Trede, Secession Verlag, Zürich 2021, 80 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Montag, 17. Mai 2021

Der große Sommer, Ewald Arenz

Bereits Ewald Arenz‘ letztes Buch „Alte Sorten“ habe ich sehr gemocht. Deshalb habe ich mich sehr gern an einer Leserunde des Verlags auf Instagram zu seinem aktuellen Roman beteiligt. „Der große Sommer“ ist ein Coming of age-Roman, der offensichtlich autobiografische Züge trägt. Wie der Autor ist die Hauptfigur Friedrich Jahrgang 1965. Der Roman spielt ca. 1980 und nimmt uns mit in die Zeit, als man noch vom Münztelefon aus anrief und eine Adresse auf dem Stadtplan statt im Handy nachschlagen musste.

Friedrich stammt aus einer großen Familie, darf jedoch nicht mit Eltern und Geschwistern in den Sommerurlaub fahren, sondern wird bei den Großeltern einquartiert, um für seine Nachprüfungen in Mathe und Latein zu lernen. Was wie die Hölle klingt, entwickelt sich dennoch zu einem bemerkenswerten Sommer. Zusammen mit seiner Schwester Alma und seinem besten Freund Johann kann Friedrich schwimmen gehen oder den Sonnenuntergang bewundern. Beate, die Friedrich im Schwimmbad kennenlernt, wird seine erste große Liebe.

Es sind die Beziehungen zwischen den einzelnen Charakteren, die diese Geschichte besonders machen. Da ist zum einen die Freundschaft zwischen Friedrich und Johann. Beide lehnen sich gegen spießige Erwachsene und spätfaschistische Lehrer auf. Johann erlebt im Sommer einen Schicksalsschlag. Die Geschwisterbeziehung zwischen Frieder und Alma ist ausgesprochen eng und herzlich. Die beiden verstehen sich ohne Worte. Das kann ein Einzelkind manchmal kaum nachvollziehen.

Von besonderem Schlag sind Frieders Großeltern. Die Großmutter ist Künstlerin und eine warmherzige, verständnisvolle Frau. So eine Oma hätte jeder gerne! Ihr Mann ist nicht der Vater von Frieders Mutter, sondern der Stiefvater. Für seine strenge, verschlossene Art wird er von vielen Familienmitgliedern gefürchtet. Er ist ein Ausbund an Pflichtbewusstsein und Bildungsbürgertum. Beiden Großeltern kommt Frieder durch seinen Ferienaufenthalt näher und erfährt dabei viel Neues über die Familiengeschichte.

Der Roman ist geprägt von der Sehnsucht, die so typisch ist für die Teenagerjahre. Frieders Gedanken kreisen um die Themen Brasilien, Beate und Berühmtheit. Brasilien steht für die große weite Welt, die Frieder bereisen möchte. Von Beate möchte er geliebt und begehrt werden, erlebt aber die Unsicherheit, die mit allen ersten Malen verbunden ist. Und wer würde nicht gern berühmt werden, z.B. als Rocksänger?

„Das Sri Sri der Mauersegler schnitt das Licht dieses Sommertags in hellgelbe, aufregend saure Zitronenscheiben und ich dachte, man müsste draußen sein und nicht hier drin neben dem Fenster sitzen. Draußen, jenseits des Flusses sein, und dann würde man nach Norden gehen, wo das Meer lag und man sich nach Südamerika einschiffen konnte.“ (S. 5)

Wie schon der Vorgängerroman überzeugt auch dieser durch seine atmosphärische Sprache. Originelle Naturbeschreibungen und Hinweise auf das Alltagsgefühl der 1980er Jahre lassen die Leserin eintauchen in Frieders Welt. Meine eigene Schulzeit in den 80ern stand mir sofort wieder vor Augen. Ich hatte den leicht muffigen Geruch von Telefonbüchern aus der gelben Zelle in der Nase. Feinfühlich beschreibt Ewald Arenz seine Figuren, die er alle sehr gern zu haben scheint, und gibt ihnen dadurch viel Tiefe und Authentizität. Es ist ein Wohlfühlbuch über den Sommer, dessen Handlung aber weder vorhersehbar, noch platt ist. Ich würde gerne noch viele weitere Bücher dieses sensiblen Autors lesen!

Ein Sommerroman für alle Jahreszeiten mit sympathischen Charakteren, Liebe und Lebensweisheit, erzählt in wunderschönen Worten, die einen beim Lesen streicheln wie ein Sommerwind.

Der große Sommer, Ewald Arenz, DuMont Verlag, Köln 2021, 320 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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