Es ist Herbst - hier bei uns und ebenso in diesem Buch, das an einem 1. September beginnt, Erntezeit. Doch ganz so romantisch, wie das Cover mit den altmodisch anmutenden Birnen vermuten lässt, geht es im Roman nicht zu.
Sally heißt eigentlich Sarah. Genauso wie ihren Namen möchte die 17jährige am liebsten auch den Rest ihres bisherigen Lebens ablegen, denn es ist unerträglich. So unerträglich, dass ihre Eltern sie für krank halten und in eine Klinik gebracht haben. Aber dort will Sally ebenso wenig bleiben wie zuhause. Sie haut ab. Außerhalb eines kleinen Dorfes auf einem Weinberg begegnet ihr Liss, die dort ganz allein arbeitet. Liss ist anders als andere Erwachsene, findet Sally, denn sie stellt keine unnötigen Fragen. Sie fragt nur das, was jetzt im Augenblick gerade wichtig ist, z.B. ob Sally ihr kurz helfen könnte. Das tut Liss ohne Erwartungen. Sally merkt, dass sie ohne weiteres nein sagen könnte. Es ist eine echte Frage, auf die sie antworten kann wie sie will. Das ist neu.
Wenn man nicht weiß wohin, zählt nur der Augenblick. Einen Moment nach dem anderen nehmen Sally und Liss diesen Herbsttag, dann den nächsten und wieder den nächsten. Eine Verbindung im Schweigen entsteht. Auch Liss möchte keine unnötigen Fragen gestellt bekommen. Sie ist ruhig und handelt, arbeitet, erntet, versorgt einen Hof. Das erdet. Liss scheint ohne Worte zu verstehen. Ist das nun gut oder schlecht? Sally weiß es nicht so recht. Ganz allmählich beginnen die beiden ungleichen Frauen zu sprechen - nachdenklich, verletzt, misstrauisch.
„Sie hatte nie Heimweh gehabt, wenn sie im Schullandheim oder auf Freizeit oder im Sommercamp war. Es war wahrscheinlich Heimweh nach dem Ort, wo man eigentlich sein sollte. Nach einem Zuhause, das man noch gar nicht kannte, aber das auf einen wartete. Sally hatte Angst, dass es nicht für immer warten würde und sie irgendwann kaputtging, weil es so stark an ihr zog, dass sie irgendwann umgestülpt sein würde, und dann wäre ihr ganzes empfindliches Inneres außen, und dann würde es zu spät sein, weil man nicht leben konnte, wenn man umgestülpt war.“ (S. 80)
Sally und Liss sind innerlich unbehaust, stehen außen vor, fühlen sich unverstanden. Beide fühlen sich vereinnahmt von einer Welt, die nicht die richtige für sie ist, in der sie nicht gedeihen können. Beide sehnen sich nach innerlicher und äußerlicher Freiheit, die beiden unerreichbar erscheint. Zwar verstehen sie einander zunächst nicht, weil sie nichts voneinander wissen. Sie verstehen aber, wie unglücklich die andere sein muss, und das ist bereits mehr als alle anderen verstehen.
Es ist ein nachdenklicher Roman in seinem ganz eigenen Rhythmus. Leise und doch auch voller explosiver Emotionen begleiten wir die beiden Frauen durch Tage, die von der landwirtschaftlichen Arbeit geprägt sind, von Handgriffen, die schon viele Generationen auf Höfen vor ihnen getan haben. Routine kann vieles verdecken. Aber einmal holt einen die Realität doch ein. Beide Frauen wissen noch nicht, ob sie den Mut haben werden, ihr ins Auge zu sehen. Es könnte zu schmerzlich und zu sinnlos sein.
Ich habe die Geschichte gern gelesen. Sie fragt den Leser, wie man wohl zu sich selbst finden kann. Wie findet man den Platz, an den man gehört und wirklich gern ist, nicht nur zufällig. Der Roman zeigt, wie wichtig es ist, dass es wenigstens einen Menschen gibt, der einen versteht.
Eine wunderbare Freundschaft, die mehr aus Gesten besteht als aus Worten und doch so kraftvoll ist. Ein wirklich schönes Herbstbuch.
Alte Sorten, Ewald Arenz, DuMont Verlag, Köln 2020, 256 Seiten, 10,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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