Dienstag, 1. September 2020

Rose Royal, Nicolas Mathieu

Dieses Buch wird an vielen Stellen gefeiert und gelobt. Ich finde es fürchterlich! Warum? Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Die Novelle handelt von Gewalt gegen Frauen. Ich möchte zu Gunsten des Autors unterstellen, dass er einen positiven Beitrag zur MeToo-Debatte leisten und Gewalt gegen Frauen verurteilen wollte. Aus meiner Sicht verharmlost er sie und zeigt, dass er als männlicher Autor Teil des Problems ist und das nicht einmal bemerkt. Viele RezensentInnen scheinen es ebenfalls nicht zu bemerken. Das ärgert mich maßlos!

Zunächst zum Inhalt: Es geht um Rose, eine Frau von fast fünfzig, die allein in einer Stadt lebt. Ihre Ehe ist geschieden, ihre beiden Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Sie arbeitet als Sekretärin. Oft geht sie abends in das Lokal „Royal“ und trinkt dort zu viel. Sie hat es satt vor Männern Angst haben zu müssen und hat sich deshalb über das Internet einen Revolver mit scharfer Munition gekauft, den sie nun in der Handtasche bei sich trägt. Eines Tages lernt sie Luc im „Royal“ kennen, die beiden werden ein Paar. Dann wiederholt sich, was sie schon kennt: Luc wird gewalttätig - mit Worten, mit Schlägen und auch sexuell.

Nicolas Mathieu schreibt die Geschichte aus der Perspektive von Rose. Zu Anfang des Buches stellt er seine Hauptperson vor und suggeriert dabei, dass es sich bei der Beschreibung um die Selbstsicht von Rose handele. Schon das ist meiner Meinung nach gründlich misslungen. Was der Autor beschreibt, ist die Sicht eines Mannes auf eine Frau, nicht ihre eigene.

„Sie trug an diesem Tag einen hellen Baumwollrock und ein hübsches, schulterfreies Oberteil. Über ihrer Handtasche hing eine schwarze Jacke, ihre kirschroten Pumps stachen ins Auge. Von Weitem war ihr Alter schwer einzuschätzen, aber ihre schlanke Statur und die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen verliehen ihr ein jugendliches Aussehen. Vor allem ihre Beine waren toll.“ (S. 9)

Ihre Beine waren toll?? Es ist in etwa das, was ein vorbeigehender Mann über Rose denken würde. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass eine Frau sich in dieser Weise selbst sehen und beschreiben würde.

Immer noch zu Beginn der Geschichte erfahren wir, wie Roses Erfahrungen mit den Männern begonnen haben, als sie jung war. Sie hat bereits in frühen Jahren Gewalt erlebt, durch den Vater, grapschende Cousins und erste Männerbekanntschaften. Die Beschreibung der ersten Freunde verschlägt mir die Sprache.

„Und Riesenarschlöcher, die nicht verstehen wollten, wenn sie nein sagte. Damals hatte sie geglaubt, es sei ihre eigene Schuld. Weil sie es darauf anlegte, musste sie Lust mit Risiko bezahlen. Zweimal endete es mit einer Ohrfeige, ihr Höschen wurde heruntergerissen, und der Typ hatte sich geholt, was er haben wollte, es war schnell vorbei, flüchtig, unangenehm. (…) Als sie in ihrem Zimmer war, dachte Rose nicht, dass sie gerade vergewaltigt worden war. Sie dachte gar nichts. Sie weinte in ihr Kissen und schlief mit schwerem Kopf ein, ohne sich abzuschminken. Eine Woche später machte sie sich darüber schon keine Gedanken mehr. Aber es war immer da, wie ein Tinnitus, ein unaufhörliches Summen.“ (S.21/22)

So, die Frau, die sich mit Ende Vierzig aus Angst einen Revolver zur Verteidigung gegen die Männer kaufen muss, hat nach einer Woche bereits nicht mehr an ihre Vergewaltigung im Jugendalter gedacht, ja? Es war „unangenehm“ und die Tatsache, dass sie sich abends nicht abgeschminkt hatte, machte ihr mehr Gedanken als die gerade erlebte Misshandlung. War ja auch „schnell vorbei“ – ist klar! Realistisch an der Beschreibung ist, dass die meisten jungen Mädchen glauben, sie seien selbst schuld an der Misshandlung, weil die Täter einerseits und die Gesellschaft andererseits es so darstellen. Das Wort Vergewaltigung bringen die meisten nicht über die Lippen. Dennoch oder gerade deswegen ist das Leiden aber erheblich. Es ist mitnichten nach einer Woche vergessen und nur noch ein Summen im Hinterkopf! Zumal Rose es zweimal erlebt hat und ihr spätestens da klar werden musste, dass es immer wieder passieren kann. Die Verunsicherung, die mit diesem Erleben einhergeht, ist eine Traumatisierung, die hier aus meiner Sicht massiv bagatellisiert wird. Das reale Erleben einer Frau fühlt sich deutlich anders an, selbst wenn sie das Geschehen als eigene Schuld einstuft.

Realistisch am weiteren Verlauf der Geschichte ist, dass Rose den Kreislauf der wiederkehrenden Gewalt nicht durchbrechen kann. Sie gerät wieder und wieder an solche Typen, kann sich im Vorwege nicht schützen und oft den Mann auch nicht direkt danach zum Teufel schicken. Ansonsten ist die Schilderung dieser Frauenfigur jedoch schräg.

Es gibt eine Szene, in der jemand einen angefahrenen, schwer verletzten Hund ins „Royal“ bringt. Es ist klar, dass dem Hund nicht mehr zu helfen ist, dass er sterben wird und sich gerade sehr quält. Der Autor lässt Rose ihren Revolver aus der Handtasche holen und mitten im Lokal dem Hund den Gnadenschuss geben. Das passt aus meiner Sicht gar nicht zu dieser Figur. Eine Frau mit Angst würde ihren Revolver nicht mitten in der Kneipe herausholen und damit aller Welt zeigen, dass sie eine Schusswaffe hat. Der wesentliche Vorteil einer Waffe (wenn es denn ein Vorteil ist, was ich bezweifle) ist der Überraschungseffekt. Damit geht man nicht hausieren. Und das Bild einer Frau auf roten Stöckelschuhen mit einer Knarre in der Hand, die sie scheinbar eiskalt auch noch benutzt, ist eine Männerphantasie! Es gibt eine Sorte Mann, der es besonderen Spaß macht, eine solche scheinbar toughe Frau zu unterwerfen. (Was in der Geschichte dann ja auch geschieht.)

Ich frage mich, warum ich diese Kritik auch in Rezensionen von Frauen bisher nicht gelesen habe. Haben wir Frauen uns schon so sehr daran gewöhnt, uns wie durch die Augen von Männern selbst zu sehen? Uns nach unserem „Marktwert“ im Rennen um einen Partner zu beurteilen, um Männer, die sich im Alter von fünfzig meist deutlich weniger Mühe machen als wir, um halbwegs passabel und gepflegt auszusehen? Ja, Gewalt gegen Frauen ist Alltag, jede von uns kennt das Catcalling an der Baustelle, den nächtlichen Heimweg mit dem Schlüsselbund in der Faust und die ungebetenen Hände an allen möglichen Körperstellen. Und die drängenden Männer, die sagen, wir sollten uns „nicht so anstellen“, es sei doch „nichts dabei“, Männer, von denen wir dachten, wir könnten ihnen vertrauen. Aber ist das alles schon so normal, dass wir derart schräge Beschreibungen nicht mehr bemerken und kritisch kommentieren können?

Wieso schreibt ein männlicher Autor dieses Buch aus der Perspektive einer Frau? Ich will nicht sagen, dass ein Mann das grundsätzlich nicht könnte oder sollte. Bevor er es tut, sollte er dann aber vielleicht eine größere Anzahl von Frauen dazu befragen, wie sie diese Situationen erleben, das eigene Älterwerden und ihren Körper wahrnehmen. Das scheint mir hier nicht in ausreichendem Maße geschehen zu sein. Interessant hätte dieses Buch sein können, wenn es aus der Perspektive eines Mannes geschrieben worden wäre. Denn was ich schon immer einmal wissen wollte ist: Was denken sich die Kerle eigentlich dabei?!

Ich rate ausdrücklich von der Lektüre dieses Buches ab! Geschichten über Gewalt gegen Frauen gibt es bereits genug, und zwar solche, die das wirkliche Erleben und Leiden der Frauen realistisch darstellen. Diese Männerphantasie hier hat die Welt nicht gebraucht!

Rose Royal, Nicolas Mathieu, aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller und André Hansen, Verlag Hanser Berlin, München 2020, 96 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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