Mittwoch, 31. Mai 2023

Böses Glück, Tove Ditlevsen

Endlich liegen einige von Tove Ditlevsens Kurzgeschichten erstmals in deutscher Übersetzung vor! Die englische Version hatte ich bereits hier vorgestellt (The Trouble with Happiness), in der phantastischen Übersetzung von Ursel Allenstein fließt der Text aber noch ein bisschen schöner.

Die Geschichten wurden im dänischen Original erstmals 1952 und 1963 veröffentlicht, spiegeln also auch den Zeitgeist dieser Jahre wieder. Liest man die zumeist aus weiblicher Perspektive geschriebenen Erzählungen, wird deutlich, dass ein Frauenleben damals ohne die Ehe nicht vollständig sein konnte. Wert und Selbstwert der Frau wurden an ihren Heiratschancen gemessen. Auch wirtschaftlich war ein Auskommen außerhalb des elterlichen Hauses ohne Mann kaum denkbar. Auch war jede Frau ganz selbstverständlich mit der Erwartung konfrontiert Kinder zu bekommen.

Welch hohen Preis die Frauen für die Heirat und Absicherung zu bezahlen hatten, wird in den Geschichten augenfällig. Denn auch wenn eine Ehe unglücklich war, der Mann trank und gewalttätig war, war das kein Trennungsgrund. Auch das lag im Bereich des Normalen, so scheint es. Frauen hatten keine hohen Erwartungen an ein erfülltes Leben zu stellen. Sie hatten froh zu sein, wenn einer sie zur Frau nahm.

Besonders auffällig wird dies in der Geschichte „Der Regenschirm“. Das Eheleben ist eintönig und langweilig, die erste Verliebtheit verflogen, die eheliche Wohnung praktisch eingerichtet, aber das Geld knapp. (Ditlevsens Geschichten spielen in der Regel im Arbeitermilieu.) Da Helga als Kind einmal eine elegante Dame mit einem Regenschirm gesehen hatte, wurde diese Luxusgegenstand zum Inbegriff ihrer Träume von einem schönen Leben. Hätte sie nur auch so ein Ding, wäre das Leben elegant und glamourös! Sie schafft es tatsächlich, sich einen Schirm zusammenzusparen. Doch das Ende lässt sich erahnen: Er hat nicht den gewünschten Effekt.

„Ich sah ihn nicht an, als ich mich verabschiedete. Ich fragte nicht, mit wem er sich verlobt hatte. Ich wusste, dass er sie nie zu uns nach Hause einladen könnte. Diese Familie eignete sich nicht dazu, neue Mitglieder aufzunehmen.

Drei Tage nach dem Tod meiner Tante zog ich in ein Zimmer zur Untermiete. Meine Mutter war zu sehr am Boden zerstört, um es wirklich zu verstehen. Ich nutzte ihren Zustand aus, um ihr zu erzählen, dass ich bald heiraten würde. Da sagte sie etwas Merkwürdiges. ‚Es ist egal, wen man heiratet.‘ Ich habe nie verstanden, was sie damit meinte.“ (aus „Böses Glück“, S. 171)

Ein weiteres Merkmal der Ehe in den 50er Jahren scheint außer der Ärmlichkeit des Lebens auch zu sein, dass Mann und Frau nicht miteinander über Herzensdinge reden. So beleuchtet die Story „Meine Frau tanzt nicht“ den inneren Monolog einer Ehefrau, die nicht wagt, über ihre körperliche Behinderung mit ihrem Man zu sprechen, obwohl diese für jeden ersichtlich ist. Die Scham ist zu groß. Dennoch macht sie sich stundenlang Gedanken darüber, wie ihr Mann wohl in Wahrheit darüber denken mag und was dieser Makel mit ihrem Wert als Ehefrau macht. Dabei wird eine so große innere Distanz des Paares offenbar, dass einem kalt wird.

Auch die Rolle der Kinder in einer Familie wird angesprochen. Dabei könnte man zuweilen glauben, Kinder seien Manövriermasse wie Möbelstücke. Was geschieht mit ihnen im Falle der Trennung? Wer kommt für sie auf, wenn der Ehemann sich eine Neue sucht? Sind sie manchmal nur der Blitzableiter für die Launen des Vaters?

Die besondere Stärke der Geschichten ist ihre menschliche Authentizität. Man fühlt die gesellschaftliche  Atmosphäre der Nachkriegsjahre, die Sehnsucht nach ein bisschen Glück und Glanz im von harter Arbeit geprägten Leben. Dabei werden ganz alltägliche Begebenheiten geschildert, die jede von uns erlebt haben könnte, eine Trennung, ein Hauskauf, ein mitgehörtes Telefonat oder Gespräch. Zumeist bleibt das Augenmerk auf der weiblichen Lebenswirklichkeit, indem auch Themen wie Fehlgeburt und Abtreibung als Teil des Alltags von Frauen geschildert werden. Tove Ditlevsen macht diese Stimmungen erlebbar, indem sie gerade die Gedanken oder scheinbar belanglosen Sätze des Alltags aufschreibt, über die wir uns oft keine Gedanken machen.

Tove Ditlevsens Kurzgeschichten sind vom gleichen hohen literarischen Wert wie ihre Romane. Mit wenigen Worten schildert sie durch Alltagsbegebenheiten die Stimmung einer ganzen Generation, die bis heute in unserer Gesellschaft nachwirkt. Sie stellt das Erleben von Frauen in den Mittelpunkt, wie es zu ihrer Zeit in dieser realistischen Art und Weise wohl kaum jemand getan hat. Unbedingt lesen!

Böses Glück, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Ursel Allenstein, Aufbau Verlag, Berlin, 2023, 176 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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Zusatzinfo:

Weitere Rezensionen zu Titeln von Tove Ditlevnsen findet Ihr hier: 

Kindheit

Jugend

Abhängigkeit

Gesichter

Wilhelms Zimmer

Straße der KIndheit

Als Anneliese dreizehn war...

Sonntag, 21. Mai 2023

Der Traum von einem Baum, Maja Lunde

Gerade ist der vierte und letzte Band von Maja Lundes Klimaquartett erschienen. Nach Bienen, Wasser und Artensterben spielen diesmal ein Baum und Pflanzensamen eine Rolle. Der vierte Band lässt sich – wie die anderen drei auch – unabhängig von den anderen Bänden lesen. (Hier geht es zur Rezension des dritten Bandes, Die letzten ihrer Art.)

Anders als in den Vorgängerbänden bleibt die Geschichte diesmal auf einer einzigen Zeitebene, größtenteils im Jahr 2110, also mehr als 110 Jahre in der Zukunft. Haupthandlungsort ist Spitzbergen, eine Inselgruppe nördlich des Polarkreises (gehört heute zu Norwegen). Die wenigen dort lebenden Menschen haben sich von allen anderen Menschen der Welt isoliert, Hafen und Flughafen demontiert, große Teile von zivilisatorischen Eingriffen in die Natur zurückgebaut und versuchen im Einklang mit der Natur zu leben. Aber Bäume wachsen dort schon lange nicht mehr. Auf der Insel befindet sich eine Saatgutsammlung mit Millionen Arten aus aller Welt.

Bereits zu Beginn der Geschichte erfahren wir, dass ein großes Unglück geschehen sein muss, so dass nur eine Handvoll Kinder auf der Insel übriggeblieben und nun auf sich allein gestellt sind. Mittels eines Funkgeräts haben sie Kontakt aufgenommen zu Menschen in Sichuan, die sich auf den Weg nach Spitzbergen gemacht haben. Sie haben großes Interesse an der Saatgutbank. Aber etwas geht schief.

Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive von Tommy und Tao erzählt. Tommy ist 17 Jahre alt und der älteste von mehreren Brüdern. Seine Großmutter ist die Hüterin der Saatgutsammlung. Tao lebt in Sichuan und gehört zu der Gruppe von Menschen, die zu den Kindern nach Spitzbergen unterwegs ist. Die Lebenswirklichkeit in beiden Ländern wird sehr unterschiedlich geschildert. Die Welt ist geprägt von den verheerenden Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels, Menschen müssen auf vieles verzichten, was uns heute selbstverständlich ist. Es wird die Frage aufgeworfen, wie Menschen in diesen Zeiten leben sollten. Dass die Natur nicht auf den Menschen angewiesen ist und durch dessen Aussterben nicht bedroht wird, ist allen klar. Darf also der Mensch Dinge tun, die nur seinem eigenen Überleben dienen? Was soll mit der wohl einzigen noch existierenden Saatgutbank der Welt geschehen? Dürfen Menschen sie jetzt zur Aussaat nutzen? Wenn ja, wer und wo? Was passiert, wenn die Aussaat nicht gedeihen sollte? Sollten Menschen versuchen möglichst autark in kleinen Gruppen zu leben oder sollten sie sich weltweit zusammenschließen?

„Was sollen wir mit der Welt da draußen, pflegte seine Großmutter zu sagen, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung. (…) Wir bringen hier etwas zustande, was der Mensch früher nicht geschafft hat, konnte sie sagen. Wir können stolz darauf sein, dass es uns gelingt, etwas zu bewahren, obwohl es uns gibt. (…) Wir können stolz darauf sein, dass es uns gelingt, die große Liebe über die kleine Liebe zu stellen, die wir uns selbst und den wenigen Individuen, deren Gene wir teilen, entgegenbringen.“ (S. 116/117)

Der dystopische Roman stellt die moralischen Fragen, die sich nach dem Eintritt des Klimawandels stellen, wenn große Teile der Tier- und Pflanzenwelt bereits zerstört sind. Er ist aber auch eine spannende Geschichte, in der wir nur nach und nach erfahren, was in Spitzbergen eigentlich passiert ist und wie es zur Ausgangssituation des Romans gekommen ist. Gefühle der Isolierung, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit werden geschildert, die uns an unsere Erfahrungen der Coronapandemie erinnern. Trotz der Melancholie hat mich das düstere Szenario bald in seinen Bann gezogen. Ich musste gespannt weiterlesen und einfach wissen, was mit den Menschen passiert.

Ein würdiger Abschluss des Klimaquartetts! Mich hat die Geschichte gefesselt.

Der Traum von einem Baum, Maja Lunde, aus dem Norwegischen übersetzt von Ursel Allenstein, btb Verlag, München, 2023, 560 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...