Mittwoch, 3. Februar 2021

Als Anneliese dreizehn war…., Tove Ditlevsen

Die dänische Autorin Tove Ditlevsen (1917-1976) ist gerade in aller Munde, da ihre Kopenhagen-Trilogie erstmals vollständig auf Deutsch veröffentlicht wurde (siehe meine Rezension zu „Kindheit“). Ihre autofiktionalen Kindheitserinnerungen wurden erstmals 1967 veröffentlicht. Bereits 1959 erschien der vorliegende Jugendroman. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu lesen, wie die Autorin das Leben der Romanheldin Anneliese darstellt.

Die dreizehnjährige Anneliese wächst mit ihrer verwitweten Mutter und ihrem neunjährigen Bruder Jens in Kopenhagen auf. Die Mutter geht einer Büroarbeit nach, um die Familie auf bescheidenem Niveau zu ernähren. Als die Mutter an Gelbsucht erkrankt und für mehrere Wochen ins Krankenhaus muss, werden die beiden Kinder bei der ihnen unbekannten Halbschwester des Vaters einquartiert. Tante und Onkel sind kinderlos und leben in Vesterbro, dem ärmsten Arbeiterviertel von Kopenhagen. Während die Kinder geordnete Verhältnisse und Fürsorge von der Mutter gewöhnt sind, herrschen bei der Tante abenteuerliche Zustände. Diese plappert den ganzen Tag, kann nicht mit Geld umgehen und hat keine Vorstellung von den Bedürfnissen der Kinder. Sie schläft morgens lange, obwohl die Kinder zur Schule müssen und hat nicht einmal ein Frühstück für diese im Hause. Viel schlimmer aber ist, dass der Onkel Alkoholiker ist und seinen Wochenlohn oft schon am Zahltag vertrinkt. Auch wird er im Suff gewalttätig gegen seine Frau. Um der Mutter die Genesung nicht zu erschweren, nimmt Anneliese sich vor, diese Schwierigkeiten vor ihrem kleinen Bruder zu verbergen. Er soll die Geborgenheit nicht missen und weiterhin unbeschwert sein. Auch die Mutter soll nicht wissen, in welchen Umständen die Kinder sich befinden und dass die anstehende Auszahlung des Lohns der Mutter Begehrlichkeiten bei Onkel und Tante geweckt hat. Anneliese freundet sich mit dem 15jährigen Nachbarsjungen Jan an, der mit allen Wassern gewaschen ist. Dieser hilft ihr eine kostenlose Milchquelle für das Frühstück aufzutun und mit einer List den Monatslohn der Mutter selbst abzuholen und vor Tante und Onkel zu verstecken.

„Im Grunde ist er die verkörperte Anständigkeit“, erklärte sie. „Ihr müßt euch nur an ihn gewöhnen. In der Fabrik trinken sie alle, mußt du wissen. Bei dieser Arbeit geht das nicht anders. Dein Onkel ist weder besser noch schlechter als die anderen. (…)“

Doch als die Tante ihr das Kämmerchen zeigte, in dem sie zusammen mit Jens schlafen sollte, empfand sie keine Erleichterung, sondern fühlte sich mit einem Mal grenzenlos verlassen. Die Kammer roch nach Staub, sie war muffig, dunkel und verwahrlost. An der einen Wand stand ein altes Sofa, an der anderen ein aufgeschlagenes Klappbett. Annelieses erster Gedanke war, in den Kleidern zu schlafen. (S. 34)

Es handelt sich um einen typischen Mädchenroman der 50er Jahre, wie es sie auch aus der Feder deutscher Autorinnen gegeben hat. Der erzieherische Ton, der die junge Leserin formen soll, ist unverkennbar. Im Klappentext der deutschen Ausgabe heißt es: „ALS ANNELIESE DREIZEHN WAR gehört zur wertvollsten Jugendliteratur, die die Welt zeigt, wie sie ist, und sich ernsthaft auch mit den Schattenseiten des Lebens auseinandersetzt.“

Besonders interessant ist die Schilderung der Geschlechterrollen aus heutiger Sicht. Während Tove Ditlevsen in „Kindheit“ berichtet, dass ihr älterer Bruder stets bevorzugt wurde, z.B. Geldgeschenke oder besseres Essen und mehr Bildung bekommt und sie dies als ungerecht empfand, geschieht exakt dies unreflektiert in Annelieses Geschichte. Obwohl im Roman der Bruder sogar der jüngere der beiden Geschwister ist, ist es selbstverständlich, dass er von der Mutter besondere Leckerbissen bekommt und die Schwester als Mädchen für ihn sorgen muss. Es ist ausschließlich und selbstverständlich Anneliese, die sowohl im Haushalt der Mutter als auch in dem der Tante zu Haushaltstätigkeiten herangezogen wird. Annelieses praktische Fähigkeiten bei Blumenpflege, sparsamem Einkaufen und Ordnung werden als tugendhaft und wünschenswert hingestellt, während die flatterhafte Tante, die Geld in einen neumodischen Regenschirm und einen seltsamen Hut investiert, als „Schlampe“ angesehen werden muss. Die Tante ist den Kindern ebenso wenig mütterlich zugewandt wie Tove Ditlevsens Mutter.

Der verstorbene Vater war ein tugendhafter Polizist in „schneidiger Uniform“, während im Kontrast der Onkel nur Heizer in einer Fabrik ist (wie Tove Ditlevsens eigener Vater). Dass er ein gewalttätiger Alkoholiker ist, wird als selbstverständlich hingenommen, da dies auf einen Großteil der Männer des Milieus zutrifft. Zwar regt sich die Tante sehr darüber auf, jedoch begehrt sie nicht dagegen auf. Sie versucht die für alle Nachbarn offensichtliche Alkoholsucht ihres Mannes zu verbergen und äußert diese anderen gegenüber nur „im Vertrauen“. Ferner bemüht sie sich darum, dass ihr Mann nie zu wenig oder zu viel getrunken hat, sondern immer den richtigen Pegel hat, indem sie ihm von sich aus stets Bier anbietet. Den Lohn rettet sie vor ihm, indem sie diesen am Zahltag möglichst selbst sofort ausgibt – wegen der gebotenen Eile oft in unüberlegter Weise. Nur einen kärglichen Rest verschließt sie in einer Schublade. Es verwundert nicht, dass die Autorin in „Kindheit“ lobend erwähnt, dass ihr eigener Vater im Gegensatz zu großen Bevölkerungsteilen kein Alkoholiker war, der das Geld vertrank oder die Familie schlug. Tove Ditlevsens Mutter hingegen schlug die Tochter gelegentlich, was die Autorin in „Kindheit“ als schrecklich und willkürlich erinnert. Dass Ehemänner Frauen und Kinder schlagen, wird in dem Jugendroman zwar als unschön, aber eher natürlich dargestellt.

Das von der Elterngeneration vorgelebte Geschlechterverhältnis wird in der Kindergeneration des Romans fortgesetzt. Zwar wird Anneliese als patentes Mädchen dargestellt, die die vielen Schwierigkeiten meistert und sich viel vernünftiger als Onkel und Tante verhält. Der wahre Held aber ist der redliche Nachbarsjunge Jan. Der Verdacht der Brandstiftung fällt auf den Onkel. Es ist Jan, der es mutig und beherzt schafft, den wahren Schuldigen zu überführen und der eine Belohnung von der Polizei dafür bekommt. Obgleich auch Anneliese mit windigen Gestalten durch die Kneipen zieht, um den Onkel vor der Polizei zu warnen und am Ort des Geschehens Wache steht, spielt sie ihren eigenen Beitrag herunter und findet es gerecht, dass sie nichts von der Belohnung abbekommt. Jan ist der geschickte Kerl, dem sie den Lohn der Mutter anvertraut (obwohl sie Jan gerade erst kennengelernt hat) und der ein Versteck dafür findet. Die Frau wird auf ihren Platz verwiesen, den sie dankbar annimmt. Anneliese hat selbstlos zurückzustehen mit ihren eigenen Bedürfnissen, damit sie Mutter und Tante keine Umstände macht und der Bruder unbeschwert Kind sein darf.

Ich frage mich, aus welchem Grund Tove Ditlevsen diesen Roman geschrieben hat. (Es gibt sogar noch eine Fortsetzung, die aber wohl nie auf Deutsch übersetzt wurde.) War das ein Auftrag, um Geld zu verdienen? Oder hat sie die gesellschaftlichen Verhältnisse erst Jahre später für sich reflektiert? Hatte sie das Gefühl, die ihr zugewiesene Rolle bereits zu verlassen, indem sie die Romanheldin als so patent und selbständig darstellte? Der Roman entspricht den gesellschaftlichen Verhältnissen und Rollenerwartungen seiner Zeit genau. Jedoch scheint Tove Ditlevsens sonstiges Werk eher davon geprägt zu sein, dass sie ohne Rücksicht auf Konventionen immer genau das geschrieben hat, was sie wollte. So hat sie bereits als Kind romantische Liebesgedichte verfasst, was von anderen als anstößig wahrgenommen wurde. Ferner hat sie brisante Themen wie Abtreibung oder psychische Erkrankung intensiv dargestellt, was die (männliche) literarische Welt von einer Frau absolut nicht hören wollte. Ich bin gespannt darauf, weitere Bücher von Tove Ditlevsen zu entdecken, ihre Entwicklung im Schreiben zu erforschen und sie mit den autofiktionalen Büchern der Kopenhagen-Trilogie zu vergleichen. Einige ihrer Romane sind immerhin antiquarisch auf Deutsch erhältlich.

Haltet diesen Roman von heutigen jungen Mädchen fern! Aber schaut ihn Euch mit historisch geschärftem Blick an und entdeckt eine weitere Facette dieser interessanten Autorin Tove Ditlevsen.

Als Anneliese dreizehn war…., Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Elsbeth Schneidler, Boje-Verlag, Stuttgart 1965, 136 Seiten (antiquarisch)

(Die Rechte am Coverbild liegen beim Verlag.)

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