Ohne Bitterkeit beschreibt die namenlose Protagonistin, was ihre Realität war, wie sie ihr versuchte zu entfliehen und was es mit dem Bildungsmythos Deutschlands auf sich hat. Man muss es sich bildlich vorstellen, es auch schmecken, dann spürt man sofort die dauernde Beklemmung des Umfelds. Die Gegend im Speckgürtel einer größeren Stadt ist den Bedürfnissen des Industrieparks angepasst, in dem die Menschen schnell zur Arbeit gelangen müssen. Aus den kleinen Gärten geht die Aussicht auf Schornsteine, im Winter fällt Industrieschnee, die dickliche Luft schmeckt nach Säure.
Der Vater ist Arbeiter, die Mutter aus der Türkei zugewandert. Vater und Großvater haben den Krieg und die Zeit danach erlebt, was sich im Nichts-wegwerfen-können manifestiert. Und in dem Bedürfnis, bloß nicht aufzufallen. Lieber die Rollläden geschlossen halten, von draußen kommt selten etwas Gutes herein. Die Tochter will das alles nicht, sie sieht die sperrmüllreifen Möbel, das Aufsparen schöner Dinge „für gut“, den Dreck im Haus und davor. Sie will weg, raus aus dem Ort, aus den Gewohnheiten, aus der Sackgasse. In Deutschland gelingt der Aufstieg durch Bildung, sagt man. Sie ist klug. Dennoch klappt es in der Schule nicht so. Kann ja auch nicht, bei einem Kind aus einem bildungsfernen Haushalt. Wieso will so eine überhaupt Abitur machen? Es nützt nichts, ihren türkischen Vornamen zu verschweigen. Die Lehrer, die Mitschüler und das System sehen nur ein Migratenmädchen aus dem Arbeiterviertel.
Wir gehen mit der Heldin des Romans durch viele Brüche, erstaunliche Neuanfänge und dann Erfolge. Dennoch scheint es, als ob sie nie ankommt. Es bleibt Sprachlosigkeit.
„Das bildest du dir ein“, sagte Sophia. Es gäbe keine feindliche Gruppe, keine feindliche Umgebung. „Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich“, sagt sie, und alle Anfeindungen glitten mir aus den Händen, glitten an der verspiegelten Scheibe herab und rutschten langsam zu Boden, wo sie kleben blieben wie ein Stück zerkautes Zellophan. Jede Anfeindung spielte sich zwischen den Zeilen ab und war immer schon wieder verschwunden, wenn ich sie ansprechen wollte. (S. 124)
Deniz Ohde spricht eine sehr anschauliche Sprache, die ihre Erzählung körperlich spürbar macht. Sprachlosigkeit und Leugnung wirken erdrückend. Selbst die Mutter der Protagonistin kann ihrer Tochter nicht beibringen mit dem Rassismus umzugehen, da sie ihn wegschiebt mit der Erklärung, die Tochter sei doch Deutsche und könne nicht gemeint sein. So tief ist die Einsamkeit dieser jungen Frau, die alles in der Welt selbst lernen muss, da beide Eltern eher Last als Hilfe sind. Dabei geht es nicht nur um formale Bildung, sondern vor allem um die Spielregeln des Systems, aus dem sie sich so gern befreien will.
Deniz Ohde beschreibt eine beeindruckende, mutige junge Frau, die sich aus der Einöde der Kleinbürgerlichkeit und dem Industriedreck befreit. Man fragt sich, wo sie diese Kraft hernimmt. Es ist gut, dass jemand darüber schreibt, wie es sich anfühlt, in diesem Sumpf zu leben. Das Buch wirft die Frage auf, ob das eigentlich im 21. Jahrhundert noch sein muss.
Streulicht, Deniz Ohde, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 286 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)