Sonntag, 22. November 2020

Streulicht, Deniz Ohde

Dieser sehr gelungene Debütroman hat es dieses Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft und den Aspekte-Literaturpreis gewonnen. Zu Recht. Die 1988 geborene Autorin schreibt fiktiv, jedoch mit autobiografischen Anklängen vom Aufwachsen in einem Industriegebiet, in einer Arbeiterfamilie mit Migrationshintergrund.

Ohne Bitterkeit beschreibt die namenlose Protagonistin, was ihre Realität war, wie sie ihr versuchte zu entfliehen und was es mit dem Bildungsmythos Deutschlands auf sich hat. Man muss es sich bildlich vorstellen, es auch schmecken, dann spürt man sofort die dauernde Beklemmung des Umfelds. Die Gegend im Speckgürtel einer größeren Stadt ist den Bedürfnissen des Industrieparks angepasst, in dem die Menschen schnell zur Arbeit gelangen müssen. Aus den kleinen Gärten geht die Aussicht auf Schornsteine, im Winter fällt Industrieschnee, die dickliche Luft schmeckt nach Säure.

Der Vater ist Arbeiter, die Mutter aus der Türkei zugewandert. Vater und Großvater haben den Krieg und die Zeit danach erlebt, was sich im Nichts-wegwerfen-können manifestiert. Und in dem Bedürfnis, bloß nicht aufzufallen. Lieber die Rollläden geschlossen halten, von draußen kommt selten etwas Gutes herein. Die Tochter will das alles nicht, sie sieht die sperrmüllreifen Möbel, das Aufsparen schöner Dinge „für gut“, den Dreck im Haus und davor. Sie will weg, raus aus dem Ort, aus den Gewohnheiten, aus der Sackgasse. In Deutschland gelingt der Aufstieg durch Bildung, sagt man. Sie ist klug. Dennoch klappt es in der Schule nicht so. Kann ja auch nicht, bei einem Kind aus einem bildungsfernen Haushalt. Wieso will so eine überhaupt Abitur machen? Es nützt nichts, ihren türkischen Vornamen zu verschweigen. Die Lehrer, die Mitschüler und das System sehen nur ein Migratenmädchen aus dem Arbeiterviertel.

Wir gehen mit der Heldin des Romans durch viele Brüche, erstaunliche Neuanfänge und dann Erfolge. Dennoch scheint es, als ob sie nie ankommt. Es bleibt Sprachlosigkeit.

„Das bildest du dir ein“, sagte Sophia. Es gäbe keine feindliche Gruppe, keine feindliche Umgebung. „Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich“, sagt sie, und alle Anfeindungen glitten mir aus den Händen, glitten an der verspiegelten Scheibe herab und rutschten langsam zu Boden, wo sie kleben blieben wie ein Stück zerkautes Zellophan. Jede Anfeindung spielte sich zwischen den Zeilen ab und war immer schon wieder verschwunden, wenn ich sie ansprechen wollte. (S. 124)

Deniz Ohde spricht eine sehr anschauliche Sprache, die ihre Erzählung körperlich spürbar macht. Sprachlosigkeit und Leugnung wirken erdrückend. Selbst die Mutter der Protagonistin kann ihrer Tochter nicht beibringen mit dem Rassismus umzugehen, da sie ihn wegschiebt mit der Erklärung, die Tochter sei doch Deutsche und könne nicht gemeint sein. So tief ist die Einsamkeit dieser jungen Frau, die alles in der Welt selbst lernen muss, da beide Eltern eher Last als Hilfe sind. Dabei geht es nicht nur um formale Bildung, sondern vor allem um die Spielregeln des Systems, aus dem sie sich so gern befreien will.

Deniz Ohde beschreibt eine beeindruckende, mutige junge Frau, die sich aus der Einöde der Kleinbürgerlichkeit und dem Industriedreck befreit. Man fragt sich, wo sie diese Kraft hernimmt. Es ist gut, dass jemand darüber schreibt, wie es sich anfühlt, in diesem Sumpf zu leben. Das Buch wirft die Frage auf, ob das eigentlich im 21. Jahrhundert noch sein muss.

Streulicht, Deniz Ohde, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 286 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Samstag, 21. November 2020

Das Geburtstagsfest, Judith W. Taschler

Dieser Titel kommt so unschuldig daher – Das Geburtstagsfest. Und auch das Cover drückt nicht annähernd aus, dass dies kein seichter Unterhaltungsroman im Familienkreise ist. Aber tatsächlich ist Ausgangspunkt der gesamten Handlung eine Überraschungsparty zum 50. Geburtstag von Kim.

Kim ist mit Ines verheiratet, sie haben drei Kinder und leben in Österreich. Sein 12jähriger Sohn Jonas hat sich eine ganz besondere Überraschung ausgedacht: Ohne Wissen seiner Eltern lädt Jonas zu dem Geburtstagsfest, von dem Kim gar nicht weiß, dass es stattfinden soll, Tevi ein. Jonas weiß nicht viel über die Vergangenheit seines Vaters. Er weiß aber, dass Kim als Jugendlicher aus Kambodscha geflohen und von dort zusammen mit Tevi nach Österreich gekommen ist. Hier hatte Ines‘ Mutter die beiden Flüchtlingskinder aufgenommen, als Ines noch ein Kind war. Kim hat Tevi seit über 20 Jahren nicht gesehen.

Tevis Besuch gestaltet sich nicht als reine Wiedersehensfreude, wie Jonas gehofft hatte. Denn nun brechen bei allen Beteiligten Erinnerungen auf. In Rückblenden aus wechselnden Perspektiven erfahren wir nach und nach, wie die Beteiligten aufgewachsen sind und ihre Lebenswege sich schließlich gekreuzt haben. Kim und Tevi haben in Kambodscha den Terror der Roten Khmer miterlebt. Dessen Auswirkungen werden intensiv geschildert (Vorsicht, es gibt heftige Gewaltdarstellungen!) , so dass nicht verwunderlich ist, dass insbesondere Kim am liebsten nie wieder daran denken wollte. Die Unmenschlichkeit dieses Regimes, das hauptsächlich Kinder zu Soldaten ausgebildet und willkürlich unzählige Menschen grausam ermordet hat, wirft Fragen auf, nach Verantwortung und Wahrheit, von denen jeder sich sein eigenes Bild gemacht hat.

„Wenn jemand nach der Zeit der Roten Khmer fragte, antwortete ich jedes Mal, dass ich das Glück gehabt hatte, nach dem Tod meines Vaters auf einer Entenfarm eingesetzt worden zu sein. Alleine – das war mein zweites Glück, betonte ich immer wieder -, keiner war da, der mich bespitzelte. Ich musste die Tiere betreuen, schlachten und in das nahe gelegen Arbeitslager bringen, wo sie gebraten wurden, um das Essen der Wachmannschaft aufzubessern. Sie liebten meine Enten, sagte ich abschließend immer, lachte dabei und schämte mich innerlich.“ (S. 15)

Der Roman setzt sich intensiv damit auseinander, wie verschiedene Menschen sich innerhalb eines Terrorregimes verhalten, um zu überleben, und wie sie später mit den traumatischen Wunden umgehen. Die Fragen, die der Roman aufwirft, entstehen allein durch das Kontrastieren der unterschiedlichen Charaktere, die allesamt sehr authentisch wirken. Die Handlung spitzt sich immer mehr zu, ein spannender Sog entsteht dadurch, dass sich Rückblenden und der Fortlauf der gegenwärtigen Handlung bei der Geburtstagsfeier so abwechseln, dass erst ganz zum Schluss klar wird, warum das Verhältnis der Personen heute so ist wie es ist. Dabei habe ich viel über Kambodscha gelernt, ein Land, von dem ich zuvor nicht viel gewusst habe.  

Ein ausgesprochen gelungenes Buch über einen historischen Hintergrund, spannend und stringent erzählt, mit authentischen, sympathischen Charakteren. Ohne moralisierende Kommentare regt das Buch zum Nachdenken über Diktatur und Gewalt an. Toll!

Das Geburtstagsfest, Judith W. Taschler, Droemer Verlag, München 2020, 352 Seiten, 10,99 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Mittwoch, 18. November 2020

Faust (Graphic Novel), Flix

Goethes Faust ist mein Lieblingsbuch seit Schultagen. Da ich es derzeit mit meinem Neffen erneut lese und versuche, es in „Jugendsprache“ verständlich zu machen, bin ich auf diese Comic-Version aufmerksam geworden. Ich habe so gelacht und musste sie einfach kaufen!

Die Geschichte beginnt natürlich mit dem Prolog im Himmel, bei dem der Teufel mit Gott seine Wette ausheckt. Mephisto stolpert in Gotts Büro und bringt dabei auf dem PC dessen neues „Schöpfungsprogramm“ zum Absturz. Leider macht Gott keine regelmäßigen Backups. Mithilfe eines überdimensionalen Fernrohrs wird Faust vom Himmel aus ausgesucht. Mephisto will ihn auf die schiefe Bahn bringen.

Faust ist ein chaotischer Berliner Taxifahrer, der im Suff seinen Wagen zu Schrott gefahren hat. Mit seinem Mitbewohner Wagner, einem neurotischen Rollstuhlfahrer, hat er sich verkracht, weil dieser meint, Faust habe seinen Pudel umgebracht. Total begeistert ist Faust von Margarete, der Tochter eines türkischen Ladenbesitzers in Berlin, der gerne Schreinemakers im Fernsehen gekuckt hat. Ihrer kopftuchtragenden Mutter wäre es lieber, sie hieße Özlem. Und das Rumhängen mit nichtmuslimischen Männern geht natürlich gar nicht. Margaretes Mutter und Bruder werden durch seltsame Verwicklungen um die Ecke gebracht, Allahs Telefonzentrale, in der die Gebete eingehen, wird von Mephisto gekapert und selbst Gott muss hier und da mal schummeln, ähm, die Gegenwart gestalten, um seine Wette zu gewinnen.

Comiczeichner Felix "Flix" Görmann verarbeitet das Original hinreißend komisch und doch exakt. Aus allen Details der rasanten schwarz-weiß Zeichnungen sprechen Anspielungen, so ist etwa „des Pudels Kern“ sehr lustig gemacht. Insgesamt ist der Comic modern und temporeich, zeigt dabei aber alle wichtigen Gegenstände der Goethe-Tragödie.

Wer das Original kennt, wird sich über dessen intelligente Verfremdung höllisch freuen und himmlisch lachen können. Und bei wem die Goethelektüre schon etwas länger her ist, den wird die skurrile Story zwischen Himmel und Erde auch sehr gut unterhalten. Eine der besten Graphic Novels, die ich kenne!

Faust – Der Tragödie erster Teil (Graphic Novel), Flix, Carlsen Verlag, Hamburg 2010, 96 Seiten, 14,90 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info:

Die Graphic Novel ist beim gleichen Verlag auch als Taschenbuchausgabe erschienen und kostet 7,99 EUR.

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...