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Montag, 6. November 2023

Tove Ditlevsen – Ihr Leben, Jens Andersen

Wie habe ich auf dieses Buch gewartet! Die erste Biografie über Tove Ditlevsen auf Deutsch! Seit ich die Kopenhagen-Trilogie sowie alle anderen auf Deutsch verfügbaren Bücher von Tove Ditlevsen gelesen bzw. verschlungen habe, will ich unbedingt mehr über diese ungewöhnliche Frau wissen. Aber es gab auch online nur Quellen auf Dänisch.

Braucht es überhaupt eine Biografie über diese Frau, die doch in so viele ihrer Werke ihre Biografie hat einfließen lassen? Wissen wir nicht schon alles über Kindheit, Jugend und Eheleben, insbesondere aus der Trilogie? Oh nein! Wissen wir nicht! Denn natürlich hat Tove Ditlevsen ihre eigenen Erlebnisse in ihren Roman verfremdet, sehr subjektiv dargestellt und auch bestimmte Bereiche vollkommen ausgespart, etwa große Teile ihrer eigenen Mutterrolle.

Jens Andersen ist als phantastischer Biograf bekannt (z.B. seine Biografie über Astrid Lindgren ist hervorrangend!). Er ist selbst Däne und hatte bereits 1997 eine Biografie über Tove Ditlevsen veröffentlicht. Das vorliegende Buch ist sein zweites Buch über die Schriftstellerin, das 2022 auf Dänisch erschienen und nun auch übersetzt worden ist. Offenbar bedurfte die Lebensgeschichte dieser komplizierten Frau einer Neubetrachtung im 21. Jahrhundert. Denn der weltweite Erfolg der Neuübersetzungen von Ditlevsens Büchern zeigt das inzwischen stark gestiegene Interesse an (weiblicher) Autofiktion. Ditlevsen war eine der Vorreiterinnen dieses Genres und ihre Bedeutung für die Literatur allgemein wird aus heutiger Sicht wohl deutlich höher einzuschätzen sein als noch vor einigen Jahren.

Ich habe in der Biografie viel Neues über Tove Ditlevsen erfahren, zumal viele externe Quellen eine Außensicht auf sie ermöglichen, und das Buch sehr schnell durchgelesen. Der Text ist allerdings so dicht, dass ich das Buch zeitweise kurz schließen und das Gelesene verarbeiten musste. Einziges Manko des Buches ist seine zu sparsame Gliederung. Es gibt acht Kapitel ohne Überschriften, in denen das Leben der Schriftstellerin nicht chronologisch erzählt wird. Auch gibt es kein Personen- oder Schlagwortregister, so dass man einzelne Informationen schlecht wieder auffinden kann. Allein das Quellenverzeichnis ist aber eine Fundgrube! Mir war bekannt, dass keines von Ditlevsens Kindern sich je öffentlich zum Leben mit ihrer Mutter geäußert hatte. Es kann nicht leicht gewesen sein, ihr Kind zu sein. In 2023 ist jedoch auf Dänisch ein Buch ihrer Enkelin Lise Munk Thygesen erschienen, in der diese den sexuellen Missbrauch ihrer Mutter durch den Stiefvater, Tove Ditlevsens vierten Ehemann, beschreibt. Diese Enthüllung hat in Dänemark offenbar große Wellen geschlagen. Das Buch trägt weiter zur Ambivalenz der Figur Ditlevsen bei, die offenbar von dem Missbrauch gewusst hat und eher mit Eifersucht auf die eigene Tochter reagiert hatte, anstatt diese zu schützen. Tatsächlich ist in mehreren Büchern Ditlevsens zu lesen, dass sie ein „Verhältnis“ im Sinne einer Liebesbeziehung zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter im Teenageralter vermutete, etwa in „Gesichter“. Dass diese Anspielung keine Wahnvorstellung, sondern ein realer Umstand war, war mir nicht bewusst, auch wenn Ditlevsen den Missbrauchscharakter anscheinend nicht gesehen hat.

Weiter lässt sich der Biografie und dem Quellenverzeichnis entnehmen, dass Tove Ditlevsen zu Lebzeiten selbst eine Autobiografie verfasst hatte, diesmal nicht in Romanform. Auch ist der Briefwechsel zwischen ihr und ihrem vierten Ehemann auf Dänisch erschienen. Wie gern würde ich alle diese Bücher lesen können! Und wie gern auch die weiteren von Tove Ditlevsen verfassten Bücher. Dies ist ein dringlicher Appell an den Aufbau Verlag!

Noch ein Wort zur Übersetzung. Die bisher bei Aufbau erschienen Romane und Kurzgeschichten Ditlevsens wurden von Ursel Allenstein übersetzt, das vorliegende Sachbuch jedoch von Ulrich Sonnenberg. In der Biografie werden zur Veranschaulichung Gedichtverse von Ditlevsen zitiert. Die Übersetzung in der Biografie sah sich offenbar der möglichst wortgetreuen Übertragung verpflichtet, wodurch die Gedichte jedoch ihren Rhythmus verlieren. In den Übersetzungen von Ursel Allenstein etwa in „Kindheit“ wurde eine Nachdichtung vorgenommen, die den charakteristischen lyrischen Ton der Dichterin erhält, dafür aber wohl teilweise vom dänischen Wortlaut etwas abweicht. Umso deutlicher wird daran, dass es dringend einer lyrischen Übersetzung von Ditlevsens Gedichten ins Deutsche bedarf, um diese wirklich wahrnehmen zu können.

Bitte, gebt mir mehr von dieser Frau auf Deutsch zu lesen, es gibt noch so viel zu entdecken! Tove Ditlevsen wird interessanter und vielschichtiger, je mehr man von ihr erfährt!

 

Tove Ditlevsen – Ihr Leben, Jens Andersen, aus dem Dänischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg, Aufbau Verlag, Berlin, 2023, 224 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Donnerstag, 22. Juni 2023

Die Kälte, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

In „Die Kälte – Eine Isolation“ beschreibt Thomas Bernhard, wie er Anfang der 1950er Jahre mit Tuberkulose für mehrere Monate in die öffentliche Lungenheilanstalt Grafenhof eingewiesen wurde. Er schildert die dortigen menschenverachtenden Zustände, die Massenabfertigung der Kranken und die brachialen Methoden, mit denen man zu dieser Zeit versuchte, die Tuberkulose zu behandeln. Es erscheint wie ein Déja-Vu, dass der Primarius der Anstalt ein Nazi ist, der nach Kriegsende nicht von seinem Posten enthoben worden war. Wieder einmal wird der junge Thomas von einem gefühllosen Menschenschlächter in einer Masseninstitution drangsaliert. Ihm wird der Brustkorb durchstoßen und ein Pneu eingesetzt. Er ist umgeben von jämmerlichen Gestalten, von denen viele die Erholungseinrichtung nicht lebend verlassen werden.

„Warum sollte gerade ich, der Unsinnigste, der Überflüssigste, der Wertloseste in der Geschichte, glauben oder auch nur einen Augenblick lang in Anspruch nehmen dürfen, die Ausnahme von der Regel zu sein, davonzukommen, wo Millionen ganz einfach nicht davongekommen waren?“ (S. 24)

Lukas Kummers Zeichnungen sind wie in den drei Vorgängerbänden durch sich wiederholende Bildsequenzen gekennzeichnet, Figuren ohne Gesichter, Grau in Grau. Gespenstisch wirkt die als „Prozession“ benannte Menge der ausgemergelten Männer in Anstaltsnachthemden, die braune Glasspuckflaschen vor sich hertragen. Mit einfachen Strichen gelingt es Kummer, den Ekel der Situation real werden zu lassen, die Kälte der militärisch anmutenden Aufseher bzw. Ärzte ist mit Händen zu greifen.

Zum Schluss des Bandes sehen wir den zukünftigen Schriftsteller Thomas Bernhard hervorblitzen, der beginnt, Dinge auf kleine Zettel aufzuschreiben, der sich nach innen wendet und seine Herkunft zu beleuchten beginnt. Er begehrt auf gegen die Institution, entlässt sich auf eigene Gefahr und geht seiner Zukunft als Sänger entgegen, seiner Lungenkrankheit zum Trotz. Der vierte Band der Comicreihe zeigt den vielleicht schlimmsten Teil dieser herzzerreißenden Jugend, aber auch den Beginn der Befreiung aus den Fängen einer Gesellschaft, die dem einzelnen nichts schenkt, nicht einmal das nackte Leben.

Zwar sind die im Buch geschilderten Nachkriegszustände extrem. Sie sind aber gleichwohl insoweit aktuell, dass sie eine Klassenmedizin zeigen, in denen nur der Selbstzahler eine ausreichende Menge an Medizin erhält. Zur Gesundung braucht es mehr als ein Krankenhaus, es braucht auch Wohlbefinden, seelische Erbauung und menschliche Wärme. Dies wird mit Händen greifbar durch die erneut sehr gelungene Kombination aus Bernhards Text und Kummers Bildern dieser berührenden Graphic Novel.  

Die Kälte, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2023, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 21. Juni 2023

Der Atem, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

Im dritten Band der von Lukas Kummer gestalteten Graphic Novels zu Thomas Bernhards autobiografischem Werk erleben wir den ca. achtzehnjährigen Thomas erneut in einer ihm verhassten Institution. Eine verschleppte Erkältung bringt ihm eine nasse Rippenfellentzündung ein. Dem Tode nahe wird er ins Krankenhaus eingeliefert, einer „Todesproduktionsstätte“ (S. 36). Dort findet er sich im „Sterbezimmer“ (S. 36) wieder, einem Raum mit sechsundzwanzig Betten, das so gut wie niemand lebend verlässt. Eines nachts wacht er im Badezimmer auf, in das die drei Kranken geschoben werden, deren Ableben als nächstes erwartet wird.

Thomas ist (wie schon in seiner Internatszeit im Krieg) überall vom Tod umgeben. Die letzte Ölung wird ihm erteilt, Särge werden aus dem Raum getragen, es röchelt und hustet um ihn herum. Doch dann kommt es zu einem Wendepunkt:

„Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden.“ (S. 21)

Der geliebte Großvater, der ebenfalls im Krankenhaus liegt, besucht den Jungen täglich und malt ihm seine Zukunft in den rosigsten Farben aus. Er versucht ein Gegengewicht zu schaffen zu dem Grauen von Tod und Verzweiflung, das im Sterbezimmer nur verwaltet wird. Wie schon im Internat beschreibt Bernhard eine unrühmliche Rolle der katholischen Kirche, einen Geistlichen, der die letzte Ölung am Fließband in abstoßender Weise erteilt und niemandem nützt.

Die Bilder dieser Graphic Novel sind faszinierend. Grau in Grau liegt das Krankenzimmer da, ein Patient gleicht dem anderen, alle sind ihrer Individualität beraubt durch die unmenschlichen Zustände in dieser Anstalt. Sicher nicht zufällig sieht der Ständer für die Infusionslösungen neben jedem Bett aus wie ein christliches Kreuz, ein vorweggenommenes Grab. Wenn man denn überhaupt so weit sehen kann. Thomas´ Deliriumszustände werden effektvoll dargestellt durch verschwommene Linien und Umrisse der Figuren, denn mehr kann der Junge nicht erkennen in seinem Fieber. Ungeahnte Wärme kommt in die Geschichte durch die Darstellung der sich verändernden Beziehung des jungen Thomas zu seiner ihn besuchenden Mutter. Diese ist plötzlich zugewandt, wird bildlich nicht mehr geistig abwesend am Rande, sondern in echtem Kontakt mit dem Sohn dargestellt, und das alles, ohne der gezeichneten Figur ein Gesicht zu geben.

Eine meisterhafte Graphic Novel über das Leben als Akt des Willens und eine menschenverachtende Krankenpflege, in der jeder sich allein zur Genesung kämpfen muss. Durch die Coronapandemie haben diese Bilder von massenhaft Kranken und Toten eine neue Aktualität bekommen. Ein empfehlenswertes Buch zum Tiefdurchatmen!

Der Atem, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2021, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Dienstag, 20. Juni 2023

Der Keller, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

Der spätere Autor Thomas Bernhard war ein unglückliches Kind. In seinem Buch „Die Ursache“ schildert er die Grausamkeiten, denen er im Internat ausgesetzt gewesen war. In dem ebenfalls autobiografischen Werk „Der Keller“ erfahren wir, wie Thomas als Jugendlicher sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Entgegen der Meinung seiner Familie, dass höhere Bildung zum Lebenserfolg gehöre, weiß Thomas, dass für ihn nur die entgegengesetzte Richtung die Lösung sein kann!

In Lukas Kummers eindrücklichen Zeichnungen sehen wir, dass Thomas die Richtung zunächst in geografischer Richtung meint, also vom Stadtzentrum Salzburgs, in dem sich das Gymnasium befindet, wegläuft in Richtung Stadtrand. Sein Weg führt über das Arbeitsamt direkt in die berüchtigte Scherzhauserfeldsiedlung, „das Salzburger Schreckensviertel“ (S. 24). Bei dem Kaufmann Podlaha beginnt er eine Lehre in dessen im Keller liegenden Lebensmittelgeschäft. Wo andere die Vorhölle sehen, fühlt Thomas zum ersten Mal eine Zukunft aufkeimen. Denn so nützlich wie in einem Lebensmittelgeschäft, und mag es auch in einem Keller sein, ist man so kurz nach dem Krieg in einem armen Wohnviertel nur selten. Endlich ist Thomas in der Schule des Lebens angekommen.

„Mein Großvater hatte mich im Alleinsein und Fürsichsein geschult, der Podlaha im Zusammensein mit Menschen, und zwar im Zusammensein mit vielen und mit den verschiedensten Menschen. (…) Mein Großvater hatte mich die Menschen aus großer Distanz beobachten gelehrt, der Podlaha konfrontierte mich direkt mit ihnen.“ (S. 64)

Im Gegensatz zum Vorgängerband herrscht ein heiterer, fast optimistischer Erzählton, gespiegelt in lockeren Bildern, die Thomas zum Teil beim Bergwandern mit dem geliebten Großvater zeigen. Die Enge der großbürgerlichen Innenstadt taucht nur als Kontrast zum geräumigen Kellergeschäft auf. Wie auf Schwarzweißfotografien in einem Familienalbum gehen wir Thomas´ Weg in die Zukunft mit.

Lukas Kummer trifft erneut den Nerv des Textes mit seinen Zeichnungen. Da möchte man am liebsten auch gleich zum Einkaufen in den Keller des Podlaha laufen. Eine schöne Fortsetzung der Comicreihe zu Bernhards autobiografischem Werk!

Der Keller, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2019, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 17. Juni 2023

Die Ursache, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

Der Autor Thomas Bernhard ist nicht gerade als Menschenfreund bekannt. Er grantelte auch permanent über seine Heimat Österreich. Nach der Lektüre von „Die Ursache“ wundert mich beides nicht mehr. Bernhard berichtet darin autobiographisch über seine Internatszeit in Salzburg in den 1940er Jahren. (Der Text erschien erstmals 1975.) Lukas Kummer hat daraus eine Graphic Novel mit großer Wucht gemacht.

Die in Grauschattierungen gehaltenen Zeichnungen schleudern der Leserin die Einförmigkeit des Alltags, die Gewalt und die Verzweiflung eines Kindes wie einen Schlag ins Gesicht entgegen. Ich habe das Buch in einem Zug gelesen und musste es danach erstmal sacken lassen. Der Teenager Thomas ergeht sich über Jahre in permanenten Selbstmordgedanken – und wer könnte es ihm verdenken. Er kann nicht begreifen, dass Menschen, die ihn lieben, ihn einer solchen grausamen Umgebung wie dem Internat ausliefern. Er wird grundlos geschlagen von einem SA-Offizier, gemobbt von stärkeren Schülern, gedrillt wie auf einem Kasernenhof. Dazu kommt der Bombenterror zwischen 1943 und 1944, vor dem die Schüler Schutz in Stollen unter der Erde suchen, die jedoch so eng sind, dass Menschen darin ersticken. Der Kriegsalltag ist buchstäblich mit Leichen gepflastert, die nach den Angriffen überall sichtbar herumliegen.

Als der Krieg vorbei und das Internat geschlossen ist, hofft Thomas auf eine Verbesserung. Vergeblich, denn das Nazi-Internat wird von der katholischen Kirche übernommen. Das Erschreckende ist, dass sich der Alltag in der Schule dadurch so gut wie gar nicht verändert. Es wird nur einem anderen Herrn gehuldigt. Die Gewalt bleibt. Der Junge ist gebrochen und kommt zu einem nachvollziehbaren Schluss:

„… betrachtete die Schule bald nurmehr noch instinktiv als das, was sie heute bei klarem Verstand für mich ist, eine Geistesvernichtungsanstalt.“ (S. 96/97)

Bernhards Urteil über die Natur des Menschen, das er sich in seiner Schulzeit bildete, fällt vernichtend aus:

„Zuerst wird der Mensch, und der Vorgang ist ein tierischer, erzeugt und geboren wie ein Tier und immer animalisch behandelt, (…), von den durch und durch stumpfsinnigen, unaufgeklärten, ihre egoistischen Zwecke verfolgenden Erzeugern als Eltern oder ihren Stellvertretern aus ihrem eigenen Mangel an tatsächlicher Liebe und Erziehungskenntnis und -bereitschaft stumpfsinnig und egoistisch wie ein Tier gefüttert und behandelt und nach und nach in seinen hauptsächlichen Gefühls- und Nervenzentren eingeebnet und gestört und zerstört, und dann (…) übernimmt die Kirche (…) die Vernichtung der Seele des neuen Menschen, und die Schulen begehen im Auftrag und auf Befehl der Regierungen (…) den Geistesmord.“ (S. 67/68)

Unterlegt ist der eben zitierte Satz von Bildern eines Mannes, der ein Kind schlägt, über viele Bilderfolgen lang einfach schlägt.

Die Graphic Novel von Lukas Kummer erleichtert die Lektüre von Thomas Bernhards sonst schwer zu lesendem Text und fügt ihm eine enorme Tiefe und Erlebbarkeit durch die einfachen, aber extrem eindrucksvollen Zeichnungen hinzu. Das Thema der Traumatisierung durch Gewalt und Institutionen ist nach wie vor aktuell. Das Buch ist schnell zu lesen, um lange nachzuwirken!

Die Ursache, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2018, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 16. März 2022

Nach den Tagebuch, Bas von Benda-Beckmann

Seit ich mit etwa 10 Jahren zum ersten Mal das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatte, habe ich mich gefragt: Was ist mit Anne passiert, nachdem das Versteck im Hinterhaus entdeckt worden ist? Ich wusste, dass sie im KZ Bergen-Belsen gestorben ist. Aber wie, wann und unter welchen Umständen?

Das vorliegende Buch schließt die große Lücke, die diese Frage bisher hinterlassen hat, und zwar nicht nur bezüglich Anne Frank selbst, sondern bezüglich aller acht Untergetauchten aus dem Amsterdamer Hinterhaus, nämlich ihrer Eltern Edith und Otto Frank sowie ihrer Schwester Margot, dem Ehepaar Auguste und Hermann van Pels nebst Sohn Peter und dem Zahnarzt Dr. Fritz Pfeffer.

Anne Frank muss etwa Mitte Februar 1945 im KZ gestorben sein, also vor etwa 77 Jahren. Wie kann ein Buch nach so langer Zeit ihre letzten Lebensmonate nachzeichnen? Dieses Werk ist das Ergebnis jahrelanger Forschung vieler Personen. Einige Zeitzeugenberichte lagen bereits kurz nach dem Krieg vor. Aber erst jetzt wurden diese systematisch zusammengetragen und durch andere Indizien ergänzt. Viele Unterlagen wie etwa Lager- und Transportlisten wurden von den Nazis vor Kriegsende vernichtet, viele Menschen, mit denen die acht Untergetauchten zusammen interniert waren, sind ermordet worden, konnten nach dem Krieg aufgrund ihrer Traumatisierung nicht detailliert berichten oder sind inzwischen verstorben. Dennoch ist es Wissenschaftlern gelungen, die Umstände der einzelnen Stationen zu rekonstruieren, indem sie ermittelten, wie es zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen ist, auch wenn kein Zeuge konkrete Angaben zum Schicksal von Anne oder ihrer Familie machen konnte. Dieses Buch widmet der Methodik dieser Aufklärung viel Platz, um die Ergebnisse besonders glaubhaft zu machen. Jede Quelle wird einzeln benannt und verifiziert, verbleibende Lücken deutlich gemacht. Es wird sogar die Frage behandelt, inwiefern sich Erinnerungen von Zeitzeugen mit der Zeit, durch die Art der Befragung oder aufgrund der erlittenen Traumatisierung verändert haben können.

Dieses Buch ist keine einfache Lektüre. Wer „nur mal schnell wissen will, was mit Anne war“, sollte die Finger davon lassen. Das Werk ist sehr wissenschaftlich mit hunderten von Fußnoten und Abbildungen. Es begnügt sich nicht damit, Ergebnisse mitzuteilen. Sehr konzentriertes Lesen ist erforderlich, um nicht den roten Faden zu verlieren. Das Buch ist nicht nach den einzelnen Personen gegliedert, sondern nach den Stationen / Orten, durch die die Gruppe und später die einzelnen gegangen sind. Jedem Kapitel ist eine ausführliche Einordnung des Ortes und seiner Umstände vorangestellt. Die Gruppe der Acht ist gemeinsam nach Auschwitz gekommen. Das Werk stellt dezidiert die Entstehung und Entwicklung des KZs Auschwitz dar, um zu erläutern, dass es einen entscheidenden Unterschied für die Überlebenschance gemacht hat, zu welchem Zeitpunkt ein Häftling dort angekommen ist. Erst danach wird berichtet, was über das konkrete Schicksal der Person herausgefunden werden konnte.

Vor der Lektüre war mit nicht bewusst gewesen, an wie vielen unterschiedlichen Orten Anne vor ihrem Tod interniert gewesen ist. Immerhin lagen nur ca. 7 Monate zwischen der Entdeckung des Verstecks am 4. August 1944 und ihrem Tod im Februar 1945. Zuerst ging es in das Untersuchungsgefängnis Huis de Bewaring in Amsterdam, dann in das niederländische Durchgangslager Westerbork. Ebenfalls nicht bewusst war mir, dass das KZ Auschwitz eine Art Drehkreuz zur Weiterverteilung von Häftlingen auf andere Lager gewesen ist. Anne und Margot sind erst nach mehreren Wochen von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht worden. Auguste van Pels wurde hingegen nach Raguhn deportiert, Peter van Pels nach Mauthausen und Melk, Fritz Pfeffer nach Neuengamme. Überlebt hat nur Annes Vater Otto Frank.

Nicht nur die detailreiche Darstellung macht das Lesen anspruchsvoll, sondern vor allem die wörtlich wiedergegebenen Zeitzeugenberichte, welche die sinnlose Grausamkeit in den Lagern und den Sadismus der Aufseher schildern. Annes Gesicht, das mir von Fotos bekannt ist, sah ich vor mir und wusste, dass ihr dies alles angetan worden ist, nicht einer unbekannten Gruppe von Menschen. Ich konnte das Buch nur in kurzen Abschnitten lesen und musste es immer wieder zur Seite legen, um damit umgehen zu können.

„Eine andere Zeugin des Schicksals von Edith, Anne und Margot ist Rosa de Winter-Levy. Sie erinnert sich, dass Anne mit dem Leid und dem Schmerz ihrer Mitgefangenen mitfühlte und über das, was sie sah, weinen musste:

Und sie war es auch, die bis zuletzt sah, was ringsum geschah. Wir sahen schon längst nichts mehr. (…) Aber Anne war ohne Schutz, bis zuletzt. (…) Sie weinte. Und Sie können nicht wissen, wie früh schon die meisten von uns mit ihren Tränen am Ende waren.“ (S. 164)

 

Es ist ein wichtiges Buch, auf das ich – ohne es zu wissen – seit Jahrzehnten gewartet habe. Vielleicht könnte man eine abgespeckte Version erstellen, damit das Werk mehr Leserinnen und Leser erreicht. Die wissenschaftliche Komplexität ist eine Herausforderung, lohnt aber die Mühe.

Nach den Tagebuch, Bas von Benda-Beckmann, aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas, Secession Verlag, Zürich 2021, 384 Seiten, 28,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Freitag, 19. Februar 2021

Abhängigkeit, Tove Ditlevsen

Der dritte Band der Kopenhagen-Trilogie erschien auf Dänisch erstmals 1971 und ist der einzige Teil der Trilogie, der früher schon einmal auf Deutsch übersetzt wurde (1980 unter dem Titel „Sucht“ beim Suhrkamp Verlag erschienen). Interessant ist der Originaltitel „Gift“ – dieser kann auf Dänisch sowohl „Gift“ als auch „verheiratet“ bedeuten. Beides lag in Tove Ditlevsens Leben eng beieinander.

Der Band beginnt mit Toves erster Ehe. Sie heiratete 1939 den über 30 Jahre älteren Viggo F. Møller. Er war Schriftsteller und Journalist und half Tove bei der Veröffentlichung ihrer ersten Werke. Zum ersten Mal findet sich Tove als eine Art schreibende Hausfrau wieder. Die Beschreibung dieser Ehe passt so gar nicht zu der Frau, die wir in den beiden vorigen Bänden der Trilogie kennengelernt haben. Morgens am Frühstückstisch liest der Ehemann die Zeitung. Tove darf ihn dabei nicht ansprechen. Abends kommt er oft übellaunig aus dem Büro nach Hause. An Sexualität scheint er kein Interesse zu haben. Die vor der Ehe genossene Zweisamkeit mit Gesprächen über Literatur findet kaum noch statt. Mehr und mehr nimmt Tove aber eine eigene Rolle im Literaturbetrieb ein. Sie gründet einen Club für junge Literaten und findet literaturaffine Freunde.

Die Ehe hält nicht lange. Als Tove bereits eine erfolgreiche Autorin ist, heiratet sie den Studenten Ebbe Munk, vor allem da sie bereits von ihm schwanger ist. 1943 kommt die Tochter Helle zur Welt. Allerdings ist Tove nicht die typische Mutter, wie sie im Buche steht. Das Schreiben bleibt in ihrem Leben stets an erster Stelle. Da kommen weder Männer noch Kinder mit. Die deutsche Besatzung in den 1940er Jahren nebst Faschismus und Widerstand in Dänemark am Rande tauchen auf.

Die Autorin spricht Eheprobleme in einer Weise an, die für die Zeit absolut ungewöhnlich ist. Sie beschreibt, wie ihre zuvor leidenschaftliche Beziehung zu Ebbe darunter leidet, dass sie in der Stillzeit keine Lust auf Sex hat. Dies empfindet dies als persönlichen Makel, er nennt sie frigide und sucht sein Vergnügen bei anderen. Dass dies ein natürlicher Umstand sein könnte, auf den ein Mann Rücksicht zu nehmen hat, scheint niemandem in den Sinn zu kommen. Tove fühlt sich schuldig. Als sie zum zweiten Mal schwanger wird, weiß sie, dass ihre Ehe dies nicht überstehen würde. Sie entscheidet sich zur Abtreibung, was in Dänemark jedoch legal nicht möglich ist. Sie beschreibt die entwürdigende, scheinheilige und gefährliche Prozedur, durch die sie das Kind schließlich loswird.

Kurze Zeit später lernt sie den Arzt Carl Ryberg kennen, den sie bald heiratet und von dem sie ein weiteres Kind bekommt. Eine in jeder Hinsicht toxische Beziehung beginnt. Carl macht Tove mit dem Schmerzmittel Penithidin bekannt. Sie erlebt einen nie zuvor gekannten Rausch. Ist es der Mann oder der Rausch, in den sie sich verliebt? Die Abhängigkeit von beiden beginnt von Stund an. Carl hält sie von ihren Freunden fern und beteuert, wer künstlerisch arbeite wie sie, dürfe nicht so viel Umgang mit anderen Menschen haben. Doch bald sind Tove ohnehin alle anderen egal. Sie schützt nicht existierende Schmerzen vor, um weiter Medikamente zu bekommen.

„Er tätschelte mir die Wange: „Armes Kleines, jetzt bekommst du erst mal eine Spritze.“ Ich lächelte ihn dankbar an, während sich die Flüssigkeit in meiner Blutbahn verteilte und mich in die einzigen Höhen versetzte, in denen ich leben wollte. Dann schlief er mit mir, wie immer, wenn die Wirkung ihren Höhepunkt erreichte. Er tat es seltsam hastig und brutal, ohne Vorspiel, ohne Zärtlichkeit, und ich empfand rein gar nichts dabei. Leichte, sanfte, unbeschwerte Gedanken schwebten durch meinen Kopf. Ich dachte voller Wärme an all meine Freunde, die ich so gut wie nie sah, und führte imaginäre Gespräche mit ihnen.“ (S. 111/112)

Das Erleben der Sucht, des Entzugs und der Erfahrung, dass der Entzug nicht das Ende der Sucht ist, ist der intensivste Teil des Buches. Hautnah ist die Leserin bei diesem Todeskampf dabei. Da geht es ans Eingemachte. Ganz zum Schluss des Buches deutet sich die vierte Ehe der Autorin mit Victor an, die jedoch keinen Eingang mehr in die autofiktionale Erzählung gefunden hat. Seltsam eigentlich, denn Tove Ditlevsen heiratete ihn bereits 1951. Nach der Trennung von ihrem vierten Ehemann widmete die Autorin der 22jährigen Ehe ein eigenes Buch, nämlich „Wilhelms Zimmer“.

„Abhängigkeit“ ist ein sehr intensives Buch und unterscheidet sich von den beiden ersten Bänden dadurch, dass es sehr plotgetrieben ist. So viel passiert, Männer und Kinder rasen durch ihr Leben, sie wird als Schriftstellerin immer bekannter und kann längst sich und die ganze Familie von ihrem Schreiben ernähren. Tove strebte seit ihrer Kindheit stets nach Selbständigkeit und endete doch in Abhängigkeit. Tragisch.

Ein starkes Buch, das die Zerrissenheit der Autorin zwischen der fiktionalen und der realen Welt offenbart. Es ist eine beeindruckende Innenschau dieser ungewöhnlichen Frau. Unbedingt lesenswert!

Abhängigkeit, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Ursel Allenstein, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 176 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info:

"Abhängigkeit" ist Teil der Kopenhagen-Trilogie, deren ersten Band "Kindheit" und zweiten Band "Jugend" ich ebenfalls rezensiert habe.

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...