Donnerstag, 30. Mai 2019

Auf der Strecke, Claus-Ulrich Bielefeld, Petra Hartlieb

Dies ist der erste Band der vierteiligen Krimiserie „Ein Fall für Berlin und Wien“ des Autorenteams Bielefeld und Hartlieb. Bielefeld lebt in Berlin und versieht den Text mit Berliner Schnauze, Hartlieb lebt in Wien und steuert wienerischen Akzent bei. Die Handlung vollzieht sich in beiden Städten, die in der Geschichte mit viel Lokalkolorit geschildert werden, von Straßenzügen und Plätzen bis hin zu Kneipen und Cafes.

Wie von der leidenschaftlichen Buchhändlerin Petra Hartlieb („Meine wundervolle Buchhandlung“) nicht anders zu erwarten, spielt dieser Krimi in der Buchbranche. Der Tote, welcher in einem Zug gefunden wird, ist ein Autor. Da er von Wien nach Berlin unterwegs war, müssen die Wiener Kommissarin Anna Habel und der Berliner Kommissar Thomas Bernhardt wohl oder übel zusammen arbeiten. Das geht nicht ohne Reibungsverluste ab, denn der bärbeißige Berliner hält Anna Habel für eine „K.u.K. Zicke“, während diese den Kollegen Bernhardt einen „Piefke“ nennt. Man ist nicht sonderlich begeistert von den Ermittlungsmethoden und –erfolgen des jeweils anderen. Aber im Laufe der Zeit raufen sich die beiden zusammen.

„Und was ist mit diesem Berliner Kommissar?“
„Was soll mit dem sein?!“
In Annas Stimme war ein scharfer Unterton zu hören.
„Warum denn so empfindlich? Stehst auf den oder was?“
„Ich steh auf überhaupt niemanden, (…) Er macht mich nervös, mit seiner deutschen Art, mit seiner korrekten Sprache, mit seiner Gelassenheit. Neben dem fühl ich mich immer ein wenig wie der Provinztrampel, der nicht mal richtig Deutsch kann.“ (S. 278/279)

Es ist ein harmloser Krimi, geschrieben für empfindsame Menschen wie mich, denen detaillierte Schilderungen von Bluttaten und Gewalt zuwider sind. Natürlich gibt es die eine oder andere Leiche, aber es geht mehr um das Entschlüsseln von Hinweisen und widersprüchlichen Spuren als um Blut. Das finde ich gut so. Spannend ist die Geschichte trotzdem. Hat das Kokain im Koffer des Mordopfers etwas mit dem Tatmotiv zu tun? Wissen die beiden hübschen jungen Damen in seinem Umfeld eigentlich von der jeweils anderen? Verbirgt sein Literaturagent ein Geheimnis? Anna Habel kann mit ihrem literarischen Wissen punkten, weil sie aus Texten des Autors einiges herauslesen kann. Und sogar die Frankfurter Buchmesse wird zum Ort des Geschehens. Aber ist das vielleicht nur ein Deckmantel für eine größere politische Ebene des Falls?

Ein unterhaltsamer Krimi mit sympathischen Charakteren und mehr Köpfchen als Blut. Geeignet als leichte Lektüre für eine Zugfahrt.

Auf der Strecke, Claus-Ulrich Bielefeld, Petra Hartlieb, Diogenes Verlag, Zürich 2011, 360 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Samstag, 25. Mai 2019

Tschick, Wolfgang Herrndorf


Mir war aufgefallen, dass ich eine Bildungslücke hatte: Ich hatte Tschick noch nicht gelesen! Bereits 2010 erschienen, schnell zum Bestseller, Kinofilm und inzwischen zur Schullektüre aufgestiegen, war er mir irgendwie durchgerutscht. Nun habe ich mein Versäumnis nachgeholt und bin begeistert.

Der Roman kommt in herrlich schnodderiger Jugendsprache daher, die mir viel Spaß gemacht hat. Ob sie authentisch ist, kann wohl nur jemand beurteilen, der im Jahr 2010 14 Jahre alt war. Es gibt „okaye Ermahnungen“ von jemandem, der „nicht gerade endbescheuert“ ist. (S. 236) Aussprüche wie „Hast du jetzt endgültig den Arsch offen?“ (S. 82) sind da noch das Wenigste.

Der Ich-Erzähler Maik Klingenberg geht in die 8. Klasse in Berlin-Marzahn. Seine Vater ist Bauunternehmer und sehr reich, seine Mutter Alkoholikerin. Beide haben ihre eigenen Sorgen. Maik empfindet sich als feigen Langweiler und wird in der Schule von niemandem beachtet. 

In seine Klasse kommt ein neuer Schüler, ein Russland-Deutscher, dessen Nachnamen Tschichatschow keiner aussprechen kann, weswegen er Tschick genannt wird. Alle finden, Tschick sieht wie ein Asi aus mit seinen Billigklamotten. Und eine Alkoholfahne hat er in der Schule auch. Aber dumm ist er nicht.

Kern der Geschichte ist ein Roadtrip, den Maik zusammen mit Tschick in einem geklauten, kurzgeschlossenen Lada macht. Zwar wissen sie, dass sie in die Walachei wollen (Gibt’s die wirklich?, fragt sich Maik.) Ohne Straßenkarte und unter dem Radar der Polizei, also auf kleinen Landstraßen und Feldwegen unterwegs, gurken die Jungs kreuz und quer durch die ostdeutsche Provinz, manchmal auch quer feldein. Wer wollte nicht mal seinen Namen mit dem Auto in ein Kornfeld schreiben?

Beide lockt das Abenteuer, sie wollen Neues erleben. Das verbotene Autofahren, das Tschick auch Maik beibringt, reizt. Und auf einmal ist das Leben gar nicht mehr so langweilig, wie es zuvor in Marzahn gewesen ist. Eine Menge skurriler Menschen begegnet ihnen, sie machen jede Menge gefährliche Dummheiten – was man als 14-jähriger eben so macht, wenn keiner hinschaut. Und obwohl sie nur einige Tage unterwegs sind, kommen sie verändert – und mit einigen Blessuren – von ihrer Reise zurück. Haben sie nun Mist gebaut oder etwas Tolles erlebt?

„Soll ich’s ihnen noch zeigen?“, fragte er.
„Mach, was du willst!“, schrie ich. Ich war so erleichtert.
Tschick raste auf das Ende der Sackgasse zu, riss das Steuer kurz nach rechts und dann nach links, zog an der Handbremse und machte mitten auf der Straße eine 180˚-Drehung. Ich flog fast aus dem Fenster.
„Klappt nicht immer“, sagte Tschick stolz. „Klappt nicht immer.“ (S. 93)

Der Roman hat Tempo, nicht nur durch die diversen Verfolgungsjagden, sondern auch durch die Gedanken, die Maik durch den Kopf rasen. Man fühlt beim Lesen das Herzklopfen, die Unsicherheit und den Glücksrausch der Geschwindigkeit. Das Buch liest sich schneller, als der verrostete Lada auf der Autobahn beschleunigen kann. Manches in dieser Geschichte tut echt weh. Insgesamt aber ist sie voll positiver Energie und schelmischem Grinsen. Nicht nur für Jugendliche zu empfehlen.

Ein rasanter Roadtrip, der zu Recht Kultstatus erlangt hat. Gib Gas und lies es!

Tschick, Wolfgang Herrndorf, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012, 254 Seiten, 10,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Freitag, 24. Mai 2019

The Library, Stuart Kells


Stuart Kells ist ein „book-trade historian“, also ein Historiker mit dem Spezialgebiet Buchgewerbe. Ich wusste gar nicht, dass es so einen Beruf gibt, bevor ich dieses Buch in die Hände bekam. Der Untertitel „A Catalogue of Wonders“ klingt vielversprechend. Ich stelle mir den australischen Autor vor, wie er mit glänzenden Augen durch die Bibliotheken streift, die er beschreibt. Leider ist der Inhalt dieses Buches weniger glänzend, sondern zuweilen staubtrocken und viel zu zahlenlastig.

Das Buch widmet sich in 15 Kapiteln jeweils einem historischen Spezialthema aus dem Gebiet der Bibliotheken. Ungewöhnlich und daher besonders interessant ist gleich das erste Kapitel, „A Library with No Books – Oral traditions and the songlines“. Hier wird der Begriff der Bibliothek besonders weit verstanden als Sammlung von Texten, Geschichten und Traditionen. Diese Sammlungen haben eine Tradition, die bedeutend älter ist als die Schrift. Die Ureinwohner Australiens, die Aborigines, haben ihre Texte über Jahrtausende mündlich überliefert in den sog. Songlines, das sind Gesänge, deren Texte eng mit dem Land, das ein Stamm bewohnte, verknüpft war. Auch andere Völker blicken auf ähnliche mündliche Überlieferungen zurück. Dieses Verständnis einer Bibliothek finde ich sehr originell.

„If a library can be something as simple as an organsied collection of texts, then libraries massively pre-date books in the history of culture. Every country has a tradition of legends, parables, riddles, myths and chants that existed long before they were written down. Warehoused as memories, these texts passed from generation to generation through dance, gesture and word of mouth. (…) Perhaps the oldest oral library in the world was formed over a span of tens of thousands of years in the arid lands of central Australia.” (S. 11/12)

Mehrere weitere Kapitel beschäftigen sich mit der Geschichte einzelner bedeutender Bibliotheken, beispielsweise der sagenumwobenen Bibliothek von Alexandria, der Vatikanbibliothek, der Pierpont Morgan Library und der Folger Shakespeare Library. Insbesondere die letzten beiden waren mir zuvor nicht bekannt (beide in den USA). Die Kapitel befassen sich damit, wie deren Bestand im Einzelnen erworben und finanziert wurde. Spätestens da bin ich ausgestiegen. Leider verfügt das Buch über keinerlei Abbildungen der wunderschönen Bibliotheken, von denen im Text die Rede ist.

Es gibt ferner Kapitel über skurrile Bibliothekare, Bibliotheken, die dem Feuer zum Opfer gefallen sind, den verbreiteten Diebstahl aus Bibliotheken und die Historie des Buchdrucks – von der Tontafel mit Keilschrift über Schriftrollen bis hin zum Taschenbuch. Ein Kapitel befasst sich mit der Architektur von Bibliotheken und eines mit fiktionalen Bibliotheken, etwa der Klosterbibliothek in Umberto Ecos „Der Name der Rose“ oder den Hobbit-Bibliotheken in „Der Herr der Ringe“.

Das Thema dieses Buches ist zweifellos interessant. Der Stil ist leider wenig unterhaltsam. Alberto Manguel hat diverse Bücher zu ähnlich speziellen Themen verfasst. Ihm gelingt es jedoch, historische Details im Anekdotenstil locker zu erzählen, während das vorliegende Buch zu detailverliebt und trocken daher kommt. Man muss schon ein „book-trade historian“ sein, damit einen interessiert, welcher namentlich genannte Herr bei welcher Auktion in welchem Jahr welche exakt genannte Zahl von Büchern oder Manuskripten (getrennt gezählt nach verschiedenen Sprachen) zu welchem Preis erworben hat und welche seltenen Exemplare in welcher Ausgabe in welchem Zustand darunter waren. Mit derlei Daten wird der Leser leider allzu oft beglückt, was das Lesen beschwerlich macht.

Ein streckenweise interessantes Buch, das jedoch nur wirklich detailverliebten Buchhistorikern mit Vorwissen Freude machen wird. So trocken wie der Staub eines seit hundert Jahren ungelesenen Buches.

The Library, Stuart Kells (englischsprachige Ausgabe), The Text Publishing Company, Melbourne/Australien 2017, 278 Seiten

Mittwoch, 22. Mai 2019

Sommer in Wien, Petra Hartlieb


Ganz frisch erschienen ist der dritte Teil von Petra Hartliebs Reihe über das Kindermädchen Marie, das im Haushalt des Schriftstellers Arthur Schnitzler in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeitet. Zwar ist die Figur der Marie fiktiv, das Umfeld von Arthur Schnitzler und der Stadt Wien ist indes gut recherchiert und authentisch.

Dieser Roman beginnt im Sommer 1912. Die Schnitzlers fahren in die Sommerfrische. Marie darf zur Betreuung der beiden Kinder Heinrich und Lili mitfahren auf die Insel Brioni, die zum damaligen Zeitpunkt in österreichischer Hand und ein beliebtes Urlaubsziel der bürgerlichen Gesellschaft war. Marie hat noch nie zuvor das Meer gesehen und ist sehr beeindruckt.

Daheim in Wien bleibt allerdings der junge Buchhändler Oskar zurück, den Marie recht gern hat. Oskar ist inzwischen Teilhaber der Buchhandlung des Herrn Stock in der Währinger Strasse. Passenderweise handelt es sich bei der Buchhandlung Stock um ein Vorgängergeschäft des Buchladens der Autorin. (Wie Petra Hartlieb mit ihrem Mann „Hartliebs Bücher“ in Wien gegründet hat, ist nachzulesen in ihrem Bestseller „Meine wundervolle Buchhandlung“, erschienen im DuMont Verlag 2014.)

Oskar ist ein ernstafter junger Mann. Er macht sich Gedanken, was aus seiner Beziehung zu Marie werden soll, da er selbst verwaist ist und nur ein schmales Einkommen hat, während Marie im Haushalt der Schnitzlers lebt, die es gar nicht gern sehen, wenn Oskar auch nur etwas an der Tür abgeben möchte. Eine unerwartete Wendung ergibt sich, die hier nicht verraten werden soll.


"Was ist jetzt eigentlich mit euch zwei? Seid ihr schon verlobt?"
"Nein, das wär ein bisschen früh, oder? So lange kennen wir uns noch gar nicht."
"Schaust noch, ob was Besseres kommt?" Stock lachte und Oskar wurde rot.
"Nein, aber man kann sich doch nur verloben, wenn man eine Familie gründen kann", sagte Oskar und war froh, dass ein Kunde das Geschäft betrat. Solche Gespräche waren ihm unangenehm. (...)
"Vielleicht war es doch ein Fehler, dass du Teilhaber geworden bist. Jetzt kannst nicht mehr weggehen."
Oskar war inzwischen auf eine der hohen Leitern geklettert und versuchte, ein Lexikon in einem der oberen Regale zu verstauen. Mitten in der Bewegung hielt er inne und sagte erschrocken: "Weggehen? Wo soll ich denn hingehen?"
"Na ja, in eine andere Buchhandlung. Wo du mehr verdienst. Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest beim Jakob Gold angeheuert. Der sucht doch immer Mitarbeiter. (...)" (S. 67/68)


Eingestreut in den Roman sind Personen und Umstände der Zeitgeschichte. So begegnet Marie auf Brioni Frau Amalie Zuckerkandl. Diese Dame der Wiener Gesellschaft wurde einst von Gustav Klimt im Gemälde verewigt. Erst kürzlich war das Eigentum an diesem Bild Gegenstand einer Gerichtsentscheidung in Bezug auf eine eventuelle Enteignung unter den Nazis. Ferner spielt die junge Fanni Gold eine Rolle, die bereits im zweiten Band der Reihe aufgetaucht war. Sie hat den Untergang der Titanic nur knapp überlebt und kämpft nun mit den psychischen Folgen des Unglücks.

Das Buch liest sich – wie schon die beiden ersten Teile – sehr flüssig und spannend. Wir betrachten die Wiener Klassengesellschaft des Kaiserreichs durch die Augen der Angestellten und Dienstboten. Marie ist bäuerlicher Herkunft und sich ihrer mangelnden Bildung bewusst. Im Verlauf der Geschichte stellt sich die Frage, welche Bedeutung sie im Haushalt der Schnitzlers hat. Schuldet sie diesen Treue und Dankbarkeit als eine Art Familienmitglied oder ist sie doch nur eine austauschbare Angestellte, deren Namen man schnell vergessen wird? Welchen gesellschaftlichen Platz nimmt eine unverheiratete junge Frau ein, eine Frau überhaupt, in einer Zeit, in der um das Frauenwahlrecht gestritten wird?

Trotz dieser gesellschaftlichen Fragen handelt es sich um einen leichten (aber nicht trivialen) Unterhaltungsroman mit einer schönen Liebesgeschichte, der Lust aufs Reisen macht. Vielleicht auf eine Sommerreise nach Wien?

Eine herrlich leichte Sommerlektüre mit Buchhandlungsambiente. Macht einfach Spaß!

Sommer in Wien, Petra Hartlieb, DuMont Buchverlag, Köln 2019, 176 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)


Zusatz-Info:
Die ersten beiden Bände der Reihe sind unter den Titeln „Ein Winter in Wien“ (Kindler Verlag 2016) und „Wenn es Frühling wird in Wien“ (DuMont Verlag 2018) erschienen.

Wer mehr über Arthur Schnitzler erfahren möchte, dem sei Volker Hages Roman „Des Lebens fünfter Akt“ ans Herz gelegt, vgl. meine verlinkte Rezension.

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