Mittwoch, 31. Mai 2023

Böses Glück, Tove Ditlevsen

Endlich liegen einige von Tove Ditlevsens Kurzgeschichten erstmals in deutscher Übersetzung vor! Die englische Version hatte ich bereits hier vorgestellt (The Trouble with Happiness), in der phantastischen Übersetzung von Ursel Allenstein fließt der Text aber noch ein bisschen schöner.

Die Geschichten wurden im dänischen Original erstmals 1952 und 1963 veröffentlicht, spiegeln also auch den Zeitgeist dieser Jahre wieder. Liest man die zumeist aus weiblicher Perspektive geschriebenen Erzählungen, wird deutlich, dass ein Frauenleben damals ohne die Ehe nicht vollständig sein konnte. Wert und Selbstwert der Frau wurden an ihren Heiratschancen gemessen. Auch wirtschaftlich war ein Auskommen außerhalb des elterlichen Hauses ohne Mann kaum denkbar. Auch war jede Frau ganz selbstverständlich mit der Erwartung konfrontiert Kinder zu bekommen.

Welch hohen Preis die Frauen für die Heirat und Absicherung zu bezahlen hatten, wird in den Geschichten augenfällig. Denn auch wenn eine Ehe unglücklich war, der Mann trank und gewalttätig war, war das kein Trennungsgrund. Auch das lag im Bereich des Normalen, so scheint es. Frauen hatten keine hohen Erwartungen an ein erfülltes Leben zu stellen. Sie hatten froh zu sein, wenn einer sie zur Frau nahm.

Besonders auffällig wird dies in der Geschichte „Der Regenschirm“. Das Eheleben ist eintönig und langweilig, die erste Verliebtheit verflogen, die eheliche Wohnung praktisch eingerichtet, aber das Geld knapp. (Ditlevsens Geschichten spielen in der Regel im Arbeitermilieu.) Da Helga als Kind einmal eine elegante Dame mit einem Regenschirm gesehen hatte, wurde diese Luxusgegenstand zum Inbegriff ihrer Träume von einem schönen Leben. Hätte sie nur auch so ein Ding, wäre das Leben elegant und glamourös! Sie schafft es tatsächlich, sich einen Schirm zusammenzusparen. Doch das Ende lässt sich erahnen: Er hat nicht den gewünschten Effekt.

„Ich sah ihn nicht an, als ich mich verabschiedete. Ich fragte nicht, mit wem er sich verlobt hatte. Ich wusste, dass er sie nie zu uns nach Hause einladen könnte. Diese Familie eignete sich nicht dazu, neue Mitglieder aufzunehmen.

Drei Tage nach dem Tod meiner Tante zog ich in ein Zimmer zur Untermiete. Meine Mutter war zu sehr am Boden zerstört, um es wirklich zu verstehen. Ich nutzte ihren Zustand aus, um ihr zu erzählen, dass ich bald heiraten würde. Da sagte sie etwas Merkwürdiges. ‚Es ist egal, wen man heiratet.‘ Ich habe nie verstanden, was sie damit meinte.“ (aus „Böses Glück“, S. 171)

Ein weiteres Merkmal der Ehe in den 50er Jahren scheint außer der Ärmlichkeit des Lebens auch zu sein, dass Mann und Frau nicht miteinander über Herzensdinge reden. So beleuchtet die Story „Meine Frau tanzt nicht“ den inneren Monolog einer Ehefrau, die nicht wagt, über ihre körperliche Behinderung mit ihrem Man zu sprechen, obwohl diese für jeden ersichtlich ist. Die Scham ist zu groß. Dennoch macht sie sich stundenlang Gedanken darüber, wie ihr Mann wohl in Wahrheit darüber denken mag und was dieser Makel mit ihrem Wert als Ehefrau macht. Dabei wird eine so große innere Distanz des Paares offenbar, dass einem kalt wird.

Auch die Rolle der Kinder in einer Familie wird angesprochen. Dabei könnte man zuweilen glauben, Kinder seien Manövriermasse wie Möbelstücke. Was geschieht mit ihnen im Falle der Trennung? Wer kommt für sie auf, wenn der Ehemann sich eine Neue sucht? Sind sie manchmal nur der Blitzableiter für die Launen des Vaters?

Die besondere Stärke der Geschichten ist ihre menschliche Authentizität. Man fühlt die gesellschaftliche  Atmosphäre der Nachkriegsjahre, die Sehnsucht nach ein bisschen Glück und Glanz im von harter Arbeit geprägten Leben. Dabei werden ganz alltägliche Begebenheiten geschildert, die jede von uns erlebt haben könnte, eine Trennung, ein Hauskauf, ein mitgehörtes Telefonat oder Gespräch. Zumeist bleibt das Augenmerk auf der weiblichen Lebenswirklichkeit, indem auch Themen wie Fehlgeburt und Abtreibung als Teil des Alltags von Frauen geschildert werden. Tove Ditlevsen macht diese Stimmungen erlebbar, indem sie gerade die Gedanken oder scheinbar belanglosen Sätze des Alltags aufschreibt, über die wir uns oft keine Gedanken machen.

Tove Ditlevsens Kurzgeschichten sind vom gleichen hohen literarischen Wert wie ihre Romane. Mit wenigen Worten schildert sie durch Alltagsbegebenheiten die Stimmung einer ganzen Generation, die bis heute in unserer Gesellschaft nachwirkt. Sie stellt das Erleben von Frauen in den Mittelpunkt, wie es zu ihrer Zeit in dieser realistischen Art und Weise wohl kaum jemand getan hat. Unbedingt lesen!

Böses Glück, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Ursel Allenstein, Aufbau Verlag, Berlin, 2023, 176 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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Zusatzinfo:

Weitere Rezensionen zu Titeln von Tove Ditlevnsen findet Ihr hier: 

Kindheit

Jugend

Abhängigkeit

Gesichter

Wilhelms Zimmer

Straße der KIndheit

Als Anneliese dreizehn war...

Sonntag, 21. Mai 2023

Der Traum von einem Baum, Maja Lunde

Gerade ist der vierte und letzte Band von Maja Lundes Klimaquartett erschienen. Nach Bienen, Wasser und Artensterben spielen diesmal ein Baum und Pflanzensamen eine Rolle. Der vierte Band lässt sich – wie die anderen drei auch – unabhängig von den anderen Bänden lesen. (Hier geht es zur Rezension des dritten Bandes, Die letzten ihrer Art.)

Anders als in den Vorgängerbänden bleibt die Geschichte diesmal auf einer einzigen Zeitebene, größtenteils im Jahr 2110, also mehr als 110 Jahre in der Zukunft. Haupthandlungsort ist Spitzbergen, eine Inselgruppe nördlich des Polarkreises (gehört heute zu Norwegen). Die wenigen dort lebenden Menschen haben sich von allen anderen Menschen der Welt isoliert, Hafen und Flughafen demontiert, große Teile von zivilisatorischen Eingriffen in die Natur zurückgebaut und versuchen im Einklang mit der Natur zu leben. Aber Bäume wachsen dort schon lange nicht mehr. Auf der Insel befindet sich eine Saatgutsammlung mit Millionen Arten aus aller Welt.

Bereits zu Beginn der Geschichte erfahren wir, dass ein großes Unglück geschehen sein muss, so dass nur eine Handvoll Kinder auf der Insel übriggeblieben und nun auf sich allein gestellt sind. Mittels eines Funkgeräts haben sie Kontakt aufgenommen zu Menschen in Sichuan, die sich auf den Weg nach Spitzbergen gemacht haben. Sie haben großes Interesse an der Saatgutbank. Aber etwas geht schief.

Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive von Tommy und Tao erzählt. Tommy ist 17 Jahre alt und der älteste von mehreren Brüdern. Seine Großmutter ist die Hüterin der Saatgutsammlung. Tao lebt in Sichuan und gehört zu der Gruppe von Menschen, die zu den Kindern nach Spitzbergen unterwegs ist. Die Lebenswirklichkeit in beiden Ländern wird sehr unterschiedlich geschildert. Die Welt ist geprägt von den verheerenden Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels, Menschen müssen auf vieles verzichten, was uns heute selbstverständlich ist. Es wird die Frage aufgeworfen, wie Menschen in diesen Zeiten leben sollten. Dass die Natur nicht auf den Menschen angewiesen ist und durch dessen Aussterben nicht bedroht wird, ist allen klar. Darf also der Mensch Dinge tun, die nur seinem eigenen Überleben dienen? Was soll mit der wohl einzigen noch existierenden Saatgutbank der Welt geschehen? Dürfen Menschen sie jetzt zur Aussaat nutzen? Wenn ja, wer und wo? Was passiert, wenn die Aussaat nicht gedeihen sollte? Sollten Menschen versuchen möglichst autark in kleinen Gruppen zu leben oder sollten sie sich weltweit zusammenschließen?

„Was sollen wir mit der Welt da draußen, pflegte seine Großmutter zu sagen, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung. (…) Wir bringen hier etwas zustande, was der Mensch früher nicht geschafft hat, konnte sie sagen. Wir können stolz darauf sein, dass es uns gelingt, etwas zu bewahren, obwohl es uns gibt. (…) Wir können stolz darauf sein, dass es uns gelingt, die große Liebe über die kleine Liebe zu stellen, die wir uns selbst und den wenigen Individuen, deren Gene wir teilen, entgegenbringen.“ (S. 116/117)

Der dystopische Roman stellt die moralischen Fragen, die sich nach dem Eintritt des Klimawandels stellen, wenn große Teile der Tier- und Pflanzenwelt bereits zerstört sind. Er ist aber auch eine spannende Geschichte, in der wir nur nach und nach erfahren, was in Spitzbergen eigentlich passiert ist und wie es zur Ausgangssituation des Romans gekommen ist. Gefühle der Isolierung, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit werden geschildert, die uns an unsere Erfahrungen der Coronapandemie erinnern. Trotz der Melancholie hat mich das düstere Szenario bald in seinen Bann gezogen. Ich musste gespannt weiterlesen und einfach wissen, was mit den Menschen passiert.

Ein würdiger Abschluss des Klimaquartetts! Mich hat die Geschichte gefesselt.

Der Traum von einem Baum, Maja Lunde, aus dem Norwegischen übersetzt von Ursel Allenstein, btb Verlag, München, 2023, 560 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Donnerstag, 9. Februar 2023

Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Irene Vallejo (Gastrezension von Rainer Kolbe)

"Einige der faszinierendsten Gebäude der zeitgenössischen Architektur sind Bibliotheken, also offene Räume für das Experimentieren und das Spiel mit dem Licht." (S. 84)
Ich gestehe, dass ich das Buch von Irene Vallejo nicht gelesen habe. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne, von vorn nach hinten. Sehr wohl aber habe ich in dem Buch von Vallejo gelesen – und meistens habe ich die Lektüre hinten im Buch begonnen: im Register. Wer hier seinen Blick schweifen lässt, bekommt sofort einen Eindruck von der Vielfalt und der Tiefe des Buches und vom umfassenden Wissen der Autorin: Demokrit, Demosthenes, De Niro, Descartes, Dickens, Dickinson. Oder Jenkins, Jesus, Jiménez, Jobs (Steve!), Johannes (Evangelist). Oder Kratinos, Kubrick, Kundera, Kurosawa. Wen das nicht zur Lektüre reizt, zum Stöbern, zum Vagabundieren, der hat das Buch – gut 750 Seiten – ohnehin nicht zur Hand genommen.
 
Umfassendes Wissen ist das eine. Die Kunst besteht darin, das Wissen auch an den Lesenden zu bringen – in diesem Sinne ist die Autorin eine Künstlerin. In jedem Abschnitt ist ihre Leidenschaft für Bücher und das Lesen zu spüren, mitunter zu genießen, in jedem Fall ist die Leidenschaft ansteckend, macht Spaß, macht Leselust. Die Lektüre einer einzigen Passage reicht schon: Es war mir trotz vieler Versuche nicht möglich, mich nicht festzulesen an der Stelle, auf die mich mein Blick ins Register geworfen hatte.
 
Dabei geht es grundsätzlich um die Antike, auch wenn der deutsche Titel zunächst anderes vermuten lässt. Nun ist es nicht jedem gegeben, sich für die Antike zu interessieren, und der Lateinunterricht an der Schule trug zumindest bei mir auch nicht gerade dazu bei. Dass es so eine Leselust bereiten kann, das Sachbuch einer Altphilologin zu lesen, hätte ich vor Papyrus nicht für möglich gehalten. Vallejo verknüpft das Damals sehr geschickt mit allem, was danach und bis heute passierte (ja, inklusive E-Book), sie zeigt uns die Parallelen zwischen damals und heute und tut all das auf wunderbar erzählerische Weise. Man kann vergessen, ein Sachbuch vor sich zu haben.
 
Das Zitat oben soll ein Hinweis sein, was dieses Buch ist: Eine bunte Schatztruhe. Als „offene Räume für das Experimentieren und das Spiel mit dem Licht“ habe ich Bibliotheken bisher noch nicht gesehen. Jetzt schon.
 
Die 750 Seiten kurz zusammengefasst: Die Geschichte der Schrift, die Geschichte des Buches, die Geschichte der Bibliotheken und die Geschichte der Literatur und des Lesens.

Zurück zum Register. Nach En-hedu-anna hätte ich dort nicht gesucht, über diese sumerische Dichterin bin ich beim Mich-fest-Lesen gestolpert. Was für ein Erkenntnisgewinn! „Der erste Schriftsteller, der einen Text mit eigenem Namen unterschreibt, ist eine Frau. 1500 Jahre vor Homer.“
 
Jetzt lese ich das Buch doch lieber noch einmal ganz herkömmlich, von vorn nach hinten. Wer weiß, was mir bei meinem bisherigen Vagabundieren noch so alles entgangen ist!

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Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Irene Vallejo, aus dem Spanischen übersetzt von Maria Meinel und Luis Ruby, Diogenes Verlag, Zürich, 2022, 752 Seiten, 28,00 EUR
 
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
 
Die Buch-Lady dankt Rainer Kolbe herzlich für seine Gastrezension!

Dienstag, 10. Januar 2023

MTTR, Julia Friese

Dieses Buch ist schmerzhaft! Es ist authentisch, obwohl es ausgedacht ist, denn so kann Mutterschaft sein. So muss sie nicht sein, Göttin sei Dank! Aber in Aspekten dieser Geschichte werden sich viele Menschen wiedererkennen.

MTTR ist ein doppeldeutiger Titel. Er deutet natürlich das Wort MUTTER an, verweist aber auch auf die technische Abkürzung für „Mean Time To Recover“, also die mittlere Reparaturzeit nach einem Ausfall des Systems. Die Mutter als System?

Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt: Teresa und Erk, ein unverheiratetes Paar in den Dreißigern, bekommen ein gemeinsames Kind. Aus. Das soll eine Romanhandlung sein?! Ja! Dieser simpel erscheinende Vorgang, millionenfach auf der Welt passiert, hat es in sich, wenn frau genauer hinsieht.

Genau darum geht es. Kinder bekommen ist keineswegs simpel für den einzelnen Menschen. Der Roman behandelt aus Sicht von Teresa alle möglichen Konfliktlagen, über die öffentlich kaum gesprochen wird. Zu groß ist das Tabu, im Zusammenhang mit Mutterschaft von anderem zu sprechen, als von überschwänglicher Freude über das neue Leben.

Da ist zunächst einmal die grundsätzliche Frage, ob jemand überhaupt ein Kind haben möchte. Irgendwie schon, gehört ja dazu. Aber später. Wann genau ist später? Was ist, wenn frau dann doch Muffensausen bekommt und sich umentscheidet? Und wie fühlt sich ein Mann, der letztlich nicht entscheiden kann, dass er ein Kind behalten möchte, das die Partnerin nicht bekommen will?

Die Schwangerschaft, dieser ach, so natürlich Vorgang, ist mit vielen Unsicherheiten behaftet. Sicher sehr individuell, aber schwankend irgendwo zwischen naivem „Das geht schon von allein - oder?“ bis hin zum woken „Ich will eine Hausgeburt und Stoffwindeln!“. Wie viele Gedanken soll frau sich nun machen? Wie soll frau wissen, was richtig ist, wenn sie noch nie zuvor geboren hat?

„Ich liege unter einem Gurt. Festgeschnallt auf einer Liege. Die Schuhsohlen zum Fenster, während ich mit etwas in mich hineinhöre, das auf Rollen steht. Aussieht wie ein Faxgerät. Mein Körper gibt Daten aus. Über den Menschen, der in ihm lebt. Es ist ein unbekannter Mensch. Niemand auf der Welt kennt ihn. Hat ihn je gesehen. Er ist fremd. Wildfremd, hat meine Mutter immer gesagt. Wildfremden Leuten ist nicht zu trauen.“ (S. 183)

Unsere oft einzigen Rollenvorbilder für die Elternschaft sind unsere eigenen Eltern. Es verwundert nicht, dass einer Schwangeren bei jedem Ereignis und jeder Zukunftsfrage in den Kopf kommt, wie die eigenen Eltern diese Umstände gehandhabt haben. Die Protagonistin Teresa ist geschlagen mit einer toxischen, schwierigen Beziehung zu ihren Eltern. Auch die Eltern ihres Partners machen die Sache nicht leichter. Denn alle scheinen eigene Erwartungen an diese Schwangerschaft und Teresa als Mutter zu haben, ohne auf Teresas Vorstellungen einzugehen. Die Autorin deckt die nicht unbeträchtlichen faschistischen Überbleibsel in der Erziehung auf, die sich in unserer Gesellschaft gehalten haben. Da wird erwartet, dass Kinder „parieren“, den Teller leer essen, den Erwachsenen keine Schwierigkeiten machen und das Familienleben nicht nach außen tragen. Teresa möchte eine ganz andere Mutter sein, als ihre Mutter es war. Aber das ist gar nicht so leicht. Wie macht frau es denn konkret besser? Wie verträgt sich ein weniger autoritärer Stil mit den Notwendigkeiten einer berufstätigen Mutter? Wie vermeidet frau, in Stresssituationen automatisch so zu reagieren, wie sie es von der eigenen Mutter kannte?

Die eigenwillige Sprache dieses Romans trägt wesentlich zum Verständnis bei. Die unfertigen Sätze, die Teresa sich gar nicht zu Ende zu denken traut, die Verwirrung der vielen Gefühle, die gleichzeitig auf eine Schwangere einstürzen, sie machen die extreme Zerrissenheit und Atemlosigkeit einer modernen Mutter so greifbar, dass es wehtut. Sicher erlebt nicht jede werdende Mutter diese geballte Ladung an Schwierigkeiten, aber wahrscheinlich erlebt jede einen Teil davon. Es gibt Momente, in denen ich sehr froh bin, keine eigenen Kinder zu haben.

MTTR ist ein tabuloses Buch über Mutterschaft, das für die feministische Literatur und die gesellschaftliche Debatte über moderne Elternschaft absolut notwendig ist. Genau diese Themen mit all ihrer Körperlichkeit und den schambesetzten Gefühlen gehören nicht im Privaten versteckt, sondern öffentlich ausgesprochen. Viel zu lange haben alte weiße Männer behauptet, derartige „Frauenthemen“ könnten nicht Gegenstand ernstzunehmender Literatur sein. Der Roman macht deutlich, dass Schwangerschaft und Elternsein keine Frauenthemen, sondern Menschenthemen sind. Mehr davon!

MTTR, Julia Friese, Wallstein Verlag, Göttingen, 2022, 424 Seiten, 25,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Dienstag, 27. Dezember 2022

Zur See, Dörte Hansen

Nachdem ich bereits Dörte Hansens Romane „Altes Land“ und „Mittagsstunde“ gern gelesen hatte, war ich gespannt auf „Zur See“. Wie die beiden Vorgängerromane spielt das Buch in Norddeutschland, was mir als Hamburgerin gefiel.

Der Roman nimmt uns mit auf eine nicht benannte friesische Insel und ihren Bewohnern. Das Buch kommt ohne eine Handlung im engeren Sinne aus und ist mehr eine Panoramabeschreibung des Lebens auf der Insel. Der Sommer ist geprägt von den Feriengästen, der Winter von Einsamkeit und rauem Wetter. Jedes Kapitel widmet sich einem Insulaner oder einer Insulanerin und beschreibt „Typen“. Da gibt es die Frau eines früheren Seemanns, der jetzt als Vogelwart auf einer Nachbarinsel die Brutpaare zählt. Deren Kinder können sich auch nicht von der Heimat losreißen, der eine arbeitet auf einem Schiff, die andere im Seniorenheim der Insel, der dritte Bruder fertigt Kunstwerke aus Treibgut. Der Inselpastor hält die Seelen notdürftig zusammen.

Insgesamt ist die Erzählweise sehr langsam, aber erstaunlich rhythmisch. Der Text reimt sich nicht, liest sich aber fast wie ein Gedicht, und das durchgängig bis zur letzten Seite! Die Sätze rollen wie die Wellen an den Strand. Das ist kunstvoll gemacht, aber auch gewöhnungsbedürftig. Anders als in den anderen Büchern kommt kein Plattdeutsch vor, obwohl die „Inselsprachen“ eine Rolle spielen. Damit sind aber wohl deutlich schwerer allgemein verständliche friesische Dialekte gemeint.

Wir schauen auf das alltägliche Leben der Inselbewohner wie mit einer zufällig auf sie gerichteten Kamera. Das muss man mögen. Ich hätte mir etwas mehr Handlung und damit Spannung gewünscht, aber das ist sicher Geschmackssache. Zwar passiert hier und da eine Veränderung, aber wir sind als Leserinnen eher zufällig dabei, wie sich das Leben weiterentwickelt. Die Menschen leben nebeneinander her, die Perspektive springt von einem zum anderen. Insgesamt geht es um die Veränderungen des Insellebens, wie die Touristen es wahrnehmen möchten. Die Fischer können nicht mehr von der Fischerei leben, das Seemannsleben spielt sich nicht mehr auf Walfängern, sondern auf der Inselfähre ab, der angeschwemmte Wal fängt schnell an zu stinken und muss zerlegt werden, ehe sein Gedärm explodiert. Es ist eine sterbende Welt, in der die Trachten nur noch für die Besucher getragen werden. Dies bedingt die melancholische Grundstimmung des Buches.

„Diesmal drehte der Orkan vor Allerheiligen am Ende doch noch auf Nordost, bevor das Wasser zu hoch steigen konnte. Er riss dann nur die Kiefern aus dem Dünensand. Der Inselwald sieht aus, als hätten Riesen einmal durchgejätet.“ (S. 102)

Ein sprachlich interessantes Buch, das mir zu handlungsarm war, um mich zu fesseln. Dörte Hansens frühere Romane haben mich mehr angesprochen. Wer einen sehr ruhigen Erzählfluss schätzt, wird es mehr mögen als ich.

Zur See, Dörte Hansen, Penguin Verlag, München, 2022, 256 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 10. Dezember 2022

Prosaische Passionen, Sandra Kegel (Hrsg.)

Vor hundert Jahren gab es noch nicht so viele schreibende Frauen – das hört frau immer wieder als Antwort auf die Frage, warum der Literaturkanon so männlich (und weiß) ausfällt. Das Auswahlkriterium sei selbstverständlich nur die literarische Qualität, nicht das Geschlecht oder die Herkunft. Wirklich?

Das vorliegende Buch ist eine wunderschön gestaltete Schatzkiste, die diese Behauptungen ad absurdum führt. Es versammelt 101 Geschichten, ausschließlich von Autorinnen der Moderne, also der Geburtsjahrgänge von ca. 1845 bis 1920, aus allen Teilen der Welt. Die Werke wurden aus 25 verschiedenen Sprachen übersetzt und liegen teilweise erstmals auf Deutsch vor. Wie viel aus dem Koreanischen, Persischen oder der Sprache Urdu übersetzte Prosa kennt Ihr? Wie viele Autorinnen vom afrikanischen Kontinent oder aus Neuseeland sind Euch geläufig? Eben. Aber es gibt sie – nicht erst seit gestern - und sie sind großartig!

Ein umfangreiches Nachwort der Herausgeberin Sandra Kegel ordnet die literarische Epoche der Moderne ein und informiert über die Lebens- und Arbeitsbedingungen schreibender Frauen in aller Welt. Kegel erklärt die Herangehensweise an die vorliegende Zusammenstellung, in der große, bekannte Namen wie Agatha Christie, Virginia Woolf oder Selma Lagerlöf neben in Deutschland völlig unbekannte Autorinnen wie Tekahionwake oder im Schatten von Männern stehenden Frauen wie Sofia Tolstaja (die Ehefrau von Lew Tolstoi) gestellt werden. Um tiefer eintauchen zu können, werden im Anhang die Lebensgeschichten aller enthaltenen Autorinnen dargestellt.

Die Kurzgeschichten in dieser Sammlung sind so unterschiedlich und vielfältig wie die Frauen der Welt es sind. Da gibt es z.B. „Eine ganz überflüssige Bekanntschaft“ (S. 5 ff), in der Sofia Tolstaja die Begegnung einer Dame mit einem Musiker beschreibt, der ihr ein ungeahnt intensives Hörerlebnis beschert.

Die Waliserin Kate Roberts erzählt in „Heimkehr“ (S. 388 ff) von einer Frau, die gleichzeitig alt und doch ein junges Mädchen, verstrickt in ihre Kindheitserinnerungen zu sein scheint, übersetzt aus dem Walisischen. Einerseits als altes Weiblein verspottet von Schuljungen, spricht sie andererseits mit ihren Eltern und zitiert walisische Kinderreime wie früher.

Besonders gefallen hat mir eine Kurzgeschichte von Marlen Haushofer mit dem Titel „I’ll Be Glad When You‘re Dead…“ (S. 763 ff). Es ist das Gespräch einer geschiedenen Ehefrau mit ihrer Freundin, von dem wir nur den Part der monologisierenden Ehefrau lesen, die sich Kognak trinkend den Abend versüßt, während sie der Freundin (und sich selbst) den Grund des Scheiterns ihrer Ehe erklärt.

„Du bist also weggefahren, und ein paar Monate später hab‘ ich gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Ja, sofort hab‘ ich’s gemerkt. Karl hat nämlich angefangen zu seufzen. Ja, zuerst hab‘ ich auch gelächelt, warum sollte ein Mann, der den ganzen Tag angestrengt arbeitet, am Abend nicht seufzen? Später hab‘ ich mich geärgert über die Seufzerei. Er hat es nicht einmal gemerkt, ist nur still in seinem Sessel gesessen und hat geseufzt.

Was? Wie oft, ich hab‘ es nicht gezählt, findest du das so wichtig? Vielleicht durchschnittlich jeden Abend drei-, viermal. Das ist schon möglich, dass dein erster Mann mindestens zehnmal geseufzt hat und dein jetziger es auch tut, das gehört doch nicht zur Sache. Es ist eben ein Unterschied, wer seufzt. Und wenn Karl drei-, viermal geseufzt hat, so hat das mehr zu bedeuten, als wenn einer deiner Männer hundertmal seufzt.“ (S. 767)

Eine völlig andere Weltsicht begegnet der Leserin in der Geschichte „Eine Heidin in St. Paul’s Cathedral“ (S. 53 ff), übersetzt aus dem Onondaga-Englisch, verfasst von der indigenen Kanadierin Tekahionwake. Sie wurde als Tochter eines Mohawk-Häuptlings und einer Engländerin in einem Reservat in Ontario geboren. Anlässlich ihres ersten Besuchs in der Hauptstadt der Kolonialmacht England schildert sie ihre Eindrücke der alten Welt. Den König von England bezeichnet sie als den „Großen Weißen Vater“, der „im Hohlraum seiner Hände den Frieden zwischen den einst miteinander verfeindeten Roten und Weißen bewahrt“, der in seinem „Wigwam“ lebt, „von den Bleichgesichtern Buckingham Palace genannt“ (S. 53). Sie betritt die Kathedrale und weiß, dass sie sich in einem fremden sakralen Raum befindet.

„Als ich durch seinen Eingang trat, war mir, als sei es die immerwährende Siedlungsstätte des Großen Geistes vom weißen Mann.

Musik nistete überall. Sie dröhnte mir in den Ohren wie die fernen Kadenzen der Sault-Ste.-Marie-Stromschnellen, die aufsteigen und emporspringen und hochbranden – wie ein Sturm, der Tannenwald durchtost -, wie das ferne Anschwellen eines indianischen Schlachtgesangs; (…)“ (S. 54)

Ich kann dieser Zusammenstellung mit meiner Rezension nicht annähernd gerecht werden. Jede einzelne Geschichte wäre der Erwähnung wert. Das Buch ist ein Geschenk, das seine Leserinnen und Leser lange Zeit erfreuen wird.

Dieses faszinierende Buch soll auf meinem Lesetisch noch lange liegen bleiben, so dass ich es immer wieder an anderer Stelle aufschlagen und etwas Neues entdecken kann. Viele, viele Männer und Frauen sollen sich an diesen schönen Worten und Geschichten erfreuen, von denen uns etliche so lange gefehlt haben, ohne dass wir es wussten. Und dann wollen wir noch eine und noch eine und noch eine solche schöne Sammlung mit verschütteten Perlen haben. Warum sollten wir auf so großartige Literatur weiterhin verzichten?

Prosaische Passionen – Die weibliche Moderne in 101 Short Storys, Sandra Kegel (Hrsg.), Manesse Verlag, München, 2022, 928 Seiten, 40,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 3. Dezember 2022

Wenn ich mich in die Weihnachtsgeschichte hineinbeamen könnte, wäre ich…

… gern der Stern von Bethlehem. Dann wäre ich von Gott beauftragt, ein ganz besonderes Ereignis zu beleuchten. Licht in die Dunkelheit zu bringen, ist als Stern ja sowieso meine Aufgabe, das kann ich gut. Aber Gott hat mich gebeten, zu einer bestimmten Zeit ganz genau über Bethlehem stehen zu bleiben. Normalerweise ziehe ich im Laufe der Nacht meine Runde und bleibe nicht stehen, aber in diesem Dezember vor langer Zeit habe ich eine Ausnahme gemacht, weil Gott es so wollte. Er sagte, es solle ein Kind geboren werden.

Es war schon spät am Abend, da sah ich eine müde Frau mit rundem Bauch und ihren Mann von Haus zu Haus ziehen, aber niemand ließ sie ein. Ich strengte mich mächtig an und leuchtete über dem Eingang einer Höhle, die als Stall für Tiere benutzt wurde. Hier müsst ihr schauen, hier ist noch ein trockenes, geschütztes Plätzchen! Unter meinem freundlichen Schein traten sie ein. Ich konnte von draußen nichts sehen, aber auf einmal hörte ich außer dem Schnauben und Muhen der Tiere ein kleines Baby schreien. Es ist da! Es ist geboren!

Ich wusste, ich darf jetzt nicht nachlassen. Alle brauchen Licht in dieser besonderen Nacht. Die Hirten schauen in jeder Nacht zu mir auf, das weiß ich. Sie orientieren sich an mir. Aber jetzt schien ich besonders hell und zwinkerte ihnen zu, was ich sonst nie mache. Sie verstanden und liefen mir entgegen. Ich führte sie zum Stall und zu dem besonderen kleinen Jungen. Man kann arme Leute so kurz nach einer Geburt in der Fremde ja nicht einfach allein lassen, sie brauchen vielleicht Hilfe, auch das verstanden die Hirten sofort.

Plötzlich leuchtete außer mir noch etwas ganz anderes, etwas viel Helleres in dieser Nacht. Gottes Engel, ganze himmlische Heerscharen kamen auf die Erde herab und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie. Da begriffen die Hirten, dass sie Zeuge eines Wunders geworden waren. Weit, weit entfernt begriffen das auch andere Menschen, weise Männer, die sich als Sterndeuter auskannten und wussten, wenn ich von meiner Nachtrunde abweiche und zwinkere, dann hat das etwas zu bedeuten. Dann ist das ein Zeichen Gottes, das ich weitergebe. Ich blieb noch viele Tage direkt über dem Stall stehen und leuchtete, so sehr ich konnte. Denn Gott wollte, dass alle Menschen von seinem Wunder um das kleine Kind erfahren sollten. Ich blieb so lange, bis drei heilige Könige in Bethlehem ankamen und dem göttlichen Kind Geschenke brachten. Das größte Geschenk aber war das Kind selbst, das Gott der Welt gegeben hatte. Und ich bin sehr stolz, dass ich mein kleines Licht neben dem großen Licht Jesus leuchten lassen durfte, das in dieser Nacht für immer in die Welt kam.

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Ein Gedankenexperiment der Buch-Lady (Anka Willamowius) im Dezember 2022.

 

Böses Glück, Tove Ditlevsen

Endlich liegen einige von Tove Ditlevsens Kurzgeschichten erstmals in deutscher Übersetzung vor! Die englische Version hatte ich bereits hie...