Nachdem ich kürzlich mein erstes Buch von Andrej Kurkow („
Graue Bienen“) gelesen hatte, habe ich nun den zweiten Band der Reihe über den Kiewer
Milizionär Samson gelesen. Samson ist eine Art Ermittler in der Zeit um
1919/1920.
Samson und seine Kollegen sollen wegen des illegalen
privaten Handels mit Fleisch ermitteln. Zwar kann die Bevölkerung das eben erst
erlassene Gesetz nicht kennen, das den privaten Handel mit Fleisch verbietet, aber
das hindert die Miliz nicht, sowohl Schlachter als auch Verkäufer und Käufer zu
belangen, und zwar auch rückwirkend. Lebensmittel sind knapp, der Schwarzmarkt
mit allem blüht.
Die politische Lage in Kiew ist unübersichtlich nach der
russischen Revolution und Absetzung des Zaren. Samson arbeitet bei der
staatlichen Arbeiter- und Bauernmiliz. Zusätzlich gibt es noch die Tscheka, eine
Vorläuferorganisation des sowjetischen Geheimdienstes, die ebenso wie die Miliz
eine Polizeifunktion erfüllt. Die Staatsgewalt ist aufgesplittert, denn auch
die Rote Armee tut Dienst in der Stadt. Wer welche Kompetenzen hat, ist kaum
auszumachen. Kein Wunder also, dass auch andere Gruppen in der Stadt das Recht
in die eigenen Hände nehmen, wie etwa die Eisenbahner, die eigene Patrouillen
haben und die Bahngleise als ihr Gebiet mit Waffengewalt behaupten.
Ich hatte einen Krimi erwartet. Dafür ist der Roman
allerdings eher handlungsarm. Geschildert wird vielmehr die Lebenssituation in
Kiew zu dieser Zeit. Auf dem Vorsatzpapier ist eine Stadtkarte des historischen
Kiew zu sehen, auf der die Handlungsorte der Geschichte markiert sind, etwa der
Jüdische Markt, auf dem mit Lebensmitteln gehandelt wird. Wir erfahren –
offenbar wohl recherchiert -, welche Lebensmittel wem zugeteilt wurden, dass
Strom knapp war, wie die Milizionäre sich in einer öffentlichen Banja waschen
gehen oder welche Verkehrsmittel es gab. Ein bisschen magische Realität gibt es
auch. Offenbar ist Samson im ersten Band der Reihe (den ich nicht gelesen habe)
ein Ohr abgeschlagen worden, das er in einer Dose verwahrt. Mit diesem kann er
hören, was in einem Raum gesprochen wird, in dem sich nur das Ohr, nicht aber
er selbst befindet.
Das Beeindruckendste und Erschütterndste an diesem Roman ist
für mich als Juristin, wie die Ermittlungsmethoden der Miliz geschildert
werden. Von Rechtsstaatlichkeit und fairem Verfahren keine Spur! Gesetze werden
ständig erlassen und nicht bekannt gemacht. Dennoch werden sie rückwirkend
angewandt. Vor einer Befragung wird niemand darauf hingewiesen, ob er als Zeuge
oder Mittäter geführt wird. Verhaftet wird andauernd und lange. Einschüchterung
und Erniedrigung werden als Methoden zwingend empfohlen. Gerichte sind
abgeschafft. Die Miliz schreibt die Urteile nach den Ermittlungen gleich
selbst. Das Strafmaß ist willkürlich, auch die Todesstrafe wird verhängt. Einflussnahme
durch Bestechung oder persönliche Freundschaft ist an der Tagesordnung. Es
gruselt mich!
„Sag uns ehrlich: Was hast du auf der Wache alles gestohlen?
Deine Kameraden haben dich verraten“, sagte Cholodny laut und beugte sich dabei
nach vorne zu Kosjakin.
„Was denn für Kameraden?“; fragte Kosjakin nach seinem
Hustenanfall und starrte Cholodny an. Dann blickte er zu den beiden
Rotarmisten, die ihn hergebracht hatten, aber die schüttelten die Köpfe.
„Die waren es nicht“, bestätigte Samson. „Es waren andere.
Gestehst du also? Vielleicht fangen wir mit dieser Zigarettenspitze an?“
„Wir werden dich dafür schon nicht ins Gefängnis stecken. (…)
Wir haben noch nicht einmal eine Akte über dich angelegt. Unser Befehl lautet
nur, herauszufinden, wer es war. (…)“ (S. 250)
Der Roman konnte mich leider nicht wirklich fesseln. Die Ermittlungen
in einem Bagatellfall dümpeln vor sich hin, Spannung kommt nicht auf. Der
Konflikt mit den Eisenbahnern, auf den Cover und Klappentext hindeuten, kommt eher
am Rande vor. Was zu dieser besonderen Stellung der Eisenbahner geführt hat,
ist mir nicht klargeworden. Ähnlich wie in „Graue Bienen“ wird auch hier
Politik nicht erklärt, sondern nur detaillreich deren Auswirkungen gezeigt. Von
der Kiewer Situation 1919 weiß ich allerdings noch weniger als von der
Situation im Donbass 2017. So kann ich nur eine Diktatur mit willkürlicher
Staatsmacht wahrnehmen, von denen es in der Welt allerdings bis heute viele
gibt. Mir fehlte die poetische Sprache, die mir in „Graue Bienen“ so gefallen
hatte. Ich bin keine Krimileserin, aber ich bezweifle, dass dieser Roman
Krimifreunde beglücken würde.
Ich würde diesen
Roman Leser:innen empfehlen, die an der historischen Situation der Ukraine
interessiert sind und die ein langsames Erzähltempo mögen. Der Plot steht nicht
im Vordergrund. Es ist eher ein Gesellschaftspanorama von 1919/1920.
Samson und das gestohlene Herz, Andrej Kurkow, aus dem Russischen
übersetzt von Johanna Marx und Claudia Zecher, Illustrationen von Juri Nikitin,
Diogenes Verlag, Zürich, 2023, 432 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)