Andrej Kurkow gilt als einer der bedeutendsten
Schriftsteller der Ukraine. Er wurde 1961 in St. Petersburg geboren und
schreibt seine Bücher auf Russisch, lebt aber bereits seit seiner Kindheit in
Kiew. In „Graue Bienen“ beschäftigt er sich mit der Region Donbass und der
Krim. Der Roman erschien im Original bereits 2018, also mehrere Jahre nach der
Annektierung der Krim, aber vor dem Beginn des Angriffskriegs.
Der Roman wird aus der Perspektive des Imkers Sergej
Sergejitsch erzählt. Er lebt in einem fast verlassenen Dorf im Donbass, in der
sogenannten grauen Zone. Diese Zone liegt im Zwischenraum der Frontlinien der
ukrainischen und der separatistischen (also prorussischen) Stellungen im Kampf
um die Errichtung unabhängiger „Volksrepubliken“ in Donezk und Lugansk. Ja, die
Begleitumstände musste ich erstmal googeln.
Der 49jährige Frührentner Sergej hat ein geradezu zärtliches
Verhältnis zu seinen sechs Bienenvölkern. Außer ihnen lebt nur noch der gleichaltrige
Paschka im Dorf, den Sergej zwar eigentlich nie mochte, der aber sein einziger
menschlicher Kontakt ist, nachdem die restlichen Dorfbewohner wegen der
Kampfhandlungen geflohen sind. Sergej empfindet so viel Verantwortung für seine
Bienen, die durch den Beschuss verwirrt werden könnten, dass er sie nach Anbrechen
des Frühlings auf den Anhänger seines klapprigen Autos lädt und über die Grenze
in die Ukraine fährt, um sie dort fliegen zu lassen. Später fährt er weiter auf
die Krim, um mit den Bienen dort den Sommer zu verbringen.
„Denn er war für seine Gesundheit verantwortlich, nicht nur
für sich selbst, sondern auch den Bienen gegenüber! Wenn ihm etwas zustieß,
dann starben sie in ihrer ganzen großen Zahl, und schuld am Tod von
Hunderttausenden Bienen, sei es auch unfreiwillig, durfte er auf keinen Fall
werden. Diese Sünde, diese Last würde ihn auch nach dem Tod noch dort einholen,
wo immer er sich dann nach seinem letzten Atemzug befand!“ (S. 54)
Kurkow beschreibt Sergejs Leben detailreich und empathisch,
so dass man sich gut vorstellen kann, was es für einen Einzelnen bedeutet, in
der grauen Zone und den übrigen beschriebenen Regionen der Ukraine zu leben. Sergej
möchte sich politisch heraushalten, ihn interessieren nur seine Bienen und sein
Alltag. Dennoch prägt der Krieg natürlich das gesamte Leben. Da ist einmal das
Dorf, das gelegentliche Einschläge bekommt, wo es keinen Strom und keine Waren
mehr gibt, wo Rente und Post nicht mehr ausgegeben werden. Das Dorf ist umgeben
von diversen Personen, von denen man meist nicht so recht weiß, zu welcher
Seite sie gehören. Neben Soldaten der Ukraine und der Separatisten scheint es
noch eine dritte Kraft zu geben. Ganz anders ist das Leben weiter westlich in
der Ukraine, wo die Menschen keine Kampfhandlungen erleiden, aber argwöhnisch
darauf schauen, mit wem Sergej wohl politisch sympathisieren mag. Wieder völlig
anders ist es auf der Krim, die Sergej nur nach Durchlaufen russischer
Einreiseformalitäten betreten darf. Dort wird das Problem der Krimtataren angesprochen,
da Sergej einen Freund besuchen möchte, der Tatare und Imker ist.
Kurkows Stil ist teilweise wunderbar poetisch, etwa wenn
Sergej über die Stille oder das Grau, das gar nicht trist sein muss, nachdenkt.
Er erklärt die politischen Verhältnisse der Geschichte an keiner Stelle, sondern
berichtet eher nebensächlich von deren Auswirkungen. Das hat mich oft zum Nachlesen
angeregt, so dass ich viel gelernt habe über den Konflikt. Dieser wird aber
stets auf der ganz persönlichen Ebene erzählt. Das fand ich sehr gelungen. Und
aus diesem Grund kommt der Roman in keiner Weise belehrend daher. Er ergreift
nicht Partei, sondern beschreibt nur, und das aus Sicht eines eher einfachen
Mannes. Der Roman ist spannend, man weiß nie, auf welche Hindernisse Sergej als
nächstes treffen und wohin es ihn danach verschlagen wird.
Graue Bienen ist ein
feinfühliger Roman, spannend und empathisch, der mich unterhalten hat und aus
dem ich gleichzeitig viel gelernt habe. Der allgegenwärtige Krieg kommt als
Kampf kaum vor, wird nur indirekt thematisiert, was das Lesen leichter macht. Ich
kann das Buch jedem empfehlen, der sich mit dem Ukrainekonflikt beschäftigen
möchte und dabei doch eine ganz persönliche Geschichte lesen möchte.
Graue Bienen, Andrej Kurkow,
aus dem Russischen übersetzt von Johanna Marx und Sabine Grebing, Diogenes Verlag,
Zürich, 2021, 448 Seiten, 15,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)