Montag, 11. Dezember 2023

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die Wunde religiöser Themen, die aus ihrer Sicht unstimmig oder unzeitgemäß sind. Das geht von der unbefleckten Empfängnis über die Darstellung der stillenden Maria bis hin zur Kreuzigung.

Während der Papst twittert und Jesus ihr unangenehme Fragen stellt, raunzt Maria den Sohn an, er solle sie in Ruhe lassen, denn sie habe ihre Tage. Dabei sitzt Maria in einem roten Jogginganzug herum und stopft Kekse in sich hinein. Warum auf ihrem blauen Kopftuch-Umhang Pentagramme (fünfzackige Sterne) und nicht etwa Davidsterne abgebildet sind, erschließt sich mir nicht.

Mehr Sympathien habe ich da schon, wenn Maria sich darüber beschwert, dass sie nicht gefragt wurde, bevor der Heilige Geist sie geschwängert hat, ohne dass sie auch nur ein bisschen kuscheln durfte. Warum sie dann aber den Fernsehmoderator Harald Lesch dazu befragen muss, nur um dann selbst darauf zu kommen, dass das mit der ewigen Jungfräulichkeit „totaler Blödsinn“ ist, weiß ich jetzt nicht.

Maria erklärt sich zur Leihmutter und macht uns die Patchworkfamilie klar. Gott und der Heilige Geist sind Jesus Erzeuger, sie die Leihmutter mit Josef als Adoptivvater. Und aus Gottes Liebe für alle Menschen einschließlich Männern schließt sie auf die Zulässigkeit von Homosexualität.

Die Themen sind alle richtig und sollten angesprochen werden. Aber die Glaubenskritik wird nicht wirklich glaubwürdig dadurch, dass Gott als seniler Sadist und Jesus als jammerndes Weichei dargestellt werden. Maria selbst kommt mit ihrem Smartphone und Hang zum Konsum auch nicht viel besser weg. Leider ist der Humor nicht meiner. Sollen hier die katholische Kirche oder der christliche Glaube komplett in die Tonne getreten werden? Kann man machen. Aber so wahnsinnig feministisch, wie der Anstrich des Buches ist, finde ich die Darstellung auch nicht.

Die Idee eines feministischen Glaubenscomics ist super. Die Umsetzung konnte mich leider gar nicht gewinnen.

Just Mary, Paola Morpheus, aus dem Italienischen übersetzt von Andrea Richter, Edition Faust, Frankfurt/Main, 2023, 136 Seiten, 19,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Sonntag, 10. Dezember 2023

Alice im Irrenland, Evald Flisar

Wisst ihr, was Alice gemacht hat, als sie aus dem Wunderland zurück war? Sie sprang ihrem Onkel Springer hinterher ins Wasser und tauchte mit ihm in einem sehr seltsamen Land wieder auf. Eigentlich wollten sie nach Trinidad und Tabago, aber bald stellte sich heraus, dass sie in Potterunien gelandet waren. Dort herrschten seltsame Sitten, so dass Alice glaubte, sie sei im Irrenland. Aber – sind wir den Potteruniern wirklich so unähnlich? Oder möchten wir das nur glauben…?

Die Einwohner von Potterunien sind alle seltsam grau im Gesicht. Kein Wunder, denn um sie herum ist alles aus Potti, einem grauen Ton. Der ist furchtbar zerbrechlich. Das ist gut und schlecht zugleich. Gut ist, dass Potti direkt im Land ausgebaggert werden kann. Nun ja, Potterunien ist eine kleine Insel, vollgebaut und besiedelt, so dass der Ton direkt unter der Stadt herausgeholt und die Insel quasi ausgehöhlt werden muss. Sie muss daher immer stärker mit Pfeilern von unten abgestützt werden, damit sie nicht einstürzt und das Meereswasser hereinflutet. Das Gute ist aber, dass die Dinge aus Potti so schnell zerbrechen, dass immer genug Material für Stützpfeiler vorhanden ist. Es ist so nötig Dinge zu zerbrechen, dass man dafür sogar belohnt wird. Und was macht man, wenn einem dauern die Dinge zerbrechen?

„In einer Konsumgesellschaft muss man konsumieren, konsumieren, konsumieren“, erklärte er ziemlich gelehrt, wie es seine Gewohnheit war. „Je mehr konsumiert wird, desto mehr muss produziert werden, desto mehr Menschen haben Arbeit, desto mehr Menschen werden bezahlt, um überleben zu können, und mehr Menschen können mehr konsumieren.“ (S. 108)

Alice und Onkel Springer machen bald Bekanntschaft mit den Politikern des Landes. Der Präsident ist ein alter Mann, der von Untergebenen gestützt werden muss. Intrigen sind an der Tagesordnung. Im Wahlkampf müssen Alice und der Onkel herhalten. Neue Ideen und Zukunftsversprechen müssen her, die allerdings niemand auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können soll. Denn dass Potterunien keine Zukunft mehr hat, ist eigentlich klar. Da heißt es kurzfristig denken, um gewählt zu werden. Das kommt euch bekannt vor? Nein, sowas gibt es wirklich nur im Irrenland!

Diese dystopische Satire mit einigen farbigen Illustrationen ist schon für Jugendliche geeignet, aber auch für Erwachsene sehr erhellend. Ich habe das Buch auf der Frankfurter Buchmesse beim Gastland Slowenien entdeckt. Der Schreibstil ist ungewöhnlich. Der mir unbekannte Autor (Jahrgang 1945) ist in Slowenien offenbar sehr bekannt für seine Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke und mehrfach preisgekrönt.  

Eine lustige Satire, die einem die eigene Gier in den Adern gefrieren lässt. Eine lohnende Entdeckung aus Slowenien!

Alice im Irrenland, Evald Flisar, aus dem Slowenischen übersetzt von Ann Catrin Bolton, Illustrationen von Hana Tintor, Hermagoras Verlag, Klagenfurth, 2023, 230 Seiten, 26,50 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Donnerstag, 7. Dezember 2023

Klöpplerin Loni, Tončka Stanonik

Slowenien war Gastland auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Dort habe ich zauberhafte Kinderbücher entdeckt, unter anderem dieses besondere Bilderbuch. Erzählt wird ein Märchen über das Mädchen Loni, das eine ganz besondere Arbeit tut. Sie ist Klöpplerin, das heißt sie stellt Spitzen her aus einzelnen Fäden, die in Handarbeit kunstvoll miteinander verwoben werden. Die Kunst des Klöppelns hat in Slowenien eine jahrhundertealte Tradition, auf die mit diesem Buch aufmerksam gemacht wird. Im Anhang finden sich erklärende Worte dazu.

Ganz besonders an diesem Buch sind die Bildseiten. Es gibt farbige Illustrationen, die jedoch oft besonders aufgewertet werden durch eine geklöppelte Figur oder gestickte Elemente, so dass der erzählte Text gleich nachvollziehbar wird. Man sieht, was man aus Spitze alles herstellen kann und wie vielfältig die Formen sind. Die auf das Bild gelegten und dann fotografierten Elemente wirken so plastisch, als könnte man sie fühlen.

In der Geschichte wird beschrieben, dass Loni von ihrer Familie das Klöppeln erlernt, womit alle Familienmitglieder Geld verdienen. Loni bleibt als letzte übrig und führt das Handwerk weiter. Sie verkauft die Spitzen an einen Händler, der sie wiederum weiterverkauft, z.B. zur Veredelung von Kleidungsstücken. Die aufwändige Handarbeit tun einfache Menschen wie Loni, der Gewinn jedoch bleibt größtenteils bei den Händlern.

„Sie drehte und kreuzte die Klöppelpaare und folgte sorgfältig dem Muster auf dem Klöppelbrief, der mit Stecknadeln auf dem Klöppelkissen befestigt war. Sie zog die Fäden fest und verband sie mit der Häkelnadel.“ (S. 9)

Mir gefällt die liebevolle Art, wie hier auf ein traditionsreiches Handwerk aufmerksam gemacht wird. Die Spitzen auf den Bildern sind richtige Kunstwerke! Die kurze Geschichte ist für Kinder ab 3 Jahren sehr empfehlenswert.

Klöpplerin Loni, Tončka Stanonik, Illustrationen von Dunja Kofler, aus dem Slowenischen übersetzt von Katarina Angerer und Hanzi Filipič, Hermagoras Verlag, Klagenfurt, 2022, 32 Seiten, 21,90 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 29. November 2023

Idol in Flammen, Rin Usami

Mit erst 21 Jahren veröffentlichte die japanische Autorin Rin Usami diesen Roman und gewann dafür gleich einen Preis. Sie berichtet in diesem kurzen Buch über einen Teil der japanischen Jugendkultur, von dem ich bis dahin gar nichts wusste. Popstars und Bands werden in allen Ländern der Welt verehrt. Der hier beschriebene Fankult hat jedoch eine andere Dimension.

Akari hat Schwierigkeiten in ihrem Leben. Sie kommt in der Schule nicht gut mit, in ihrer Familie herrschen Spannungen und sie fühlt sich auch ansonsten eher als Außenseiterin. Dazugehörig fühlt sie sich nur unter den gleichgesinnten Fans der Band Mazamaza, die auch für deren Mitglied Masaki schwärmen. Akari lebt in ihrer eigenen Welt, über die sie in ihrem Blog schreibt. Dabei geht es nicht um die Band als Ganzes, sondern eben nur um ihr Idol Masaki. Akari arbeitet neben der Schule in einem Lokal, um Geld für die Fanartikel zu verdienen. Warum tut sie das?

„Ich will den Menschen und sein Werk in ihrer Gesamtheit verstehen. Ich will die Welt aus Masakis Augen sehen.“ (S. 19)

Man kann von einer Obsession sprechen, wenn Akari Videos von Konzerten oder Interviews ihres Idols wieder und wieder ansieht, auf jede Geste und jedes Augenzucken achtet, Screenshots davon kauft, damit ihr keine Sekunde entgeht. Dabei ist der Bandkult sehr kommerzialisiert. Jede CD der Gruppe kauft Akari als Fan mindestens zehnmal, da jeder CD ein Code beigefügt ist, mit dem man im Internet für sein Lieblingsbandmitglied stimmen kann. Das Ranking wird ständig veröffentlicht und entscheidet darüber, wer auf der nächsten CD ein Solo singen darf.

Dabei möchte Akari nicht, dass sich die Kultwelt mit der realen Welt mischt. Sie möchte gar keine persönliche Beziehung zu Masaki haben, stellt sich nicht vor, dass es sie heiratet oder ähnliches. Zu groß scheint die Gefahr, dass etwas an ihm nicht mehr perfekt erscheinen könnte. Und auch, als Masaki einen Fan geschlagen haben soll, hält Akari weiter zu ihrem Idol. Sie braucht diese perfekte Welt, da sie sich in der realen Welt nicht auskennt und nicht zuhause fühlt.

Ich finde es erschreckend, von derartigen Auswüchsen der Popkultur zu lesen. Selbstverständlich war auch ich als Teenager Fan einer Band, hatte meinen Lieblingssänger und hing Träumen nach. Aber hier werden junge Menschen verheizt, um als Idole stilisiert zu werden und das Publikum mit immer neuen Fanartikeln in den finanziellen Ruin getrieben. Das Idol wird zur Gottheit und zum Ersatz für ein reales, sinnentleertes Leben, das nicht erträglich scheint. Akari ist nur eine andere Art Hikikomori, also wie die Menschen, die sich komplett von der Außenwelt zurückziehen, weil sie deren Anforderungen nicht mehr gewachsen sind. Akari interagiert noch mit Menschen, lebt aber nur in einer Scheinwelt und hat sich von echten Menschen längst innerlich abgekoppelt. Auch das Idol ist kein Mensch mehr. Sagt das nicht viel aus über den Zustand einer Gesellschaft?

Ein erschreckendes Portrait der japanischen Idolkultur, die das Ergebnis einer unmenschlichen Gesellschaftsstruktur ist. Interessant zu lesen, aber dringend abzuschaffen!

Idol in Flammen, Rin Usami, aus dem Japanischen übersetzt von Luise Steggewentz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2023, 128 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Montag, 6. November 2023

Tove Ditlevsen – Ihr Leben, Jens Andersen

Wie habe ich auf dieses Buch gewartet! Die erste Biografie über Tove Ditlevsen auf Deutsch! Seit ich die Kopenhagen-Trilogie sowie alle anderen auf Deutsch verfügbaren Bücher von Tove Ditlevsen gelesen bzw. verschlungen habe, will ich unbedingt mehr über diese ungewöhnliche Frau wissen. Aber es gab auch online nur Quellen auf Dänisch.

Braucht es überhaupt eine Biografie über diese Frau, die doch in so viele ihrer Werke ihre Biografie hat einfließen lassen? Wissen wir nicht schon alles über Kindheit, Jugend und Eheleben, insbesondere aus der Trilogie? Oh nein! Wissen wir nicht! Denn natürlich hat Tove Ditlevsen ihre eigenen Erlebnisse in ihren Roman verfremdet, sehr subjektiv dargestellt und auch bestimmte Bereiche vollkommen ausgespart, etwa große Teile ihrer eigenen Mutterrolle.

Jens Andersen ist als phantastischer Biograf bekannt (z.B. seine Biografie über Astrid Lindgren ist hervorrangend!). Er ist selbst Däne und hatte bereits 1997 eine Biografie über Tove Ditlevsen veröffentlicht. Das vorliegende Buch ist sein zweites Buch über die Schriftstellerin, das 2022 auf Dänisch erschienen und nun auch übersetzt worden ist. Offenbar bedurfte die Lebensgeschichte dieser komplizierten Frau einer Neubetrachtung im 21. Jahrhundert. Denn der weltweite Erfolg der Neuübersetzungen von Ditlevsens Büchern zeigt das inzwischen stark gestiegene Interesse an (weiblicher) Autofiktion. Ditlevsen war eine der Vorreiterinnen dieses Genres und ihre Bedeutung für die Literatur allgemein wird aus heutiger Sicht wohl deutlich höher einzuschätzen sein als noch vor einigen Jahren.

Ich habe in der Biografie viel Neues über Tove Ditlevsen erfahren, zumal viele externe Quellen eine Außensicht auf sie ermöglichen, und das Buch sehr schnell durchgelesen. Der Text ist allerdings so dicht, dass ich das Buch zeitweise kurz schließen und das Gelesene verarbeiten musste. Einziges Manko des Buches ist seine zu sparsame Gliederung. Es gibt acht Kapitel ohne Überschriften, in denen das Leben der Schriftstellerin nicht chronologisch erzählt wird. Auch gibt es kein Personen- oder Schlagwortregister, so dass man einzelne Informationen schlecht wieder auffinden kann. Allein das Quellenverzeichnis ist aber eine Fundgrube! Mir war bekannt, dass keines von Ditlevsens Kindern sich je öffentlich zum Leben mit ihrer Mutter geäußert hatte. Es kann nicht leicht gewesen sein, ihr Kind zu sein. In 2023 ist jedoch auf Dänisch ein Buch ihrer Enkelin Lise Munk Thygesen erschienen, in der diese den sexuellen Missbrauch ihrer Mutter durch den Stiefvater, Tove Ditlevsens vierten Ehemann, beschreibt. Diese Enthüllung hat in Dänemark offenbar große Wellen geschlagen. Das Buch trägt weiter zur Ambivalenz der Figur Ditlevsen bei, die offenbar von dem Missbrauch gewusst hat und eher mit Eifersucht auf die eigene Tochter reagiert hatte, anstatt diese zu schützen. Tatsächlich ist in mehreren Büchern Ditlevsens zu lesen, dass sie ein „Verhältnis“ im Sinne einer Liebesbeziehung zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter im Teenageralter vermutete, etwa in „Gesichter“. Dass diese Anspielung keine Wahnvorstellung, sondern ein realer Umstand war, war mir nicht bewusst, auch wenn Ditlevsen den Missbrauchscharakter anscheinend nicht gesehen hat.

Weiter lässt sich der Biografie und dem Quellenverzeichnis entnehmen, dass Tove Ditlevsen zu Lebzeiten selbst eine Autobiografie verfasst hatte, diesmal nicht in Romanform. Auch ist der Briefwechsel zwischen ihr und ihrem vierten Ehemann auf Dänisch erschienen. Wie gern würde ich alle diese Bücher lesen können! Und wie gern auch die weiteren von Tove Ditlevsen verfassten Bücher. Dies ist ein dringlicher Appell an den Aufbau Verlag!

Noch ein Wort zur Übersetzung. Die bisher bei Aufbau erschienen Romane und Kurzgeschichten Ditlevsens wurden von Ursel Allenstein übersetzt, das vorliegende Sachbuch jedoch von Ulrich Sonnenberg. In der Biografie werden zur Veranschaulichung Gedichtverse von Ditlevsen zitiert. Die Übersetzung in der Biografie sah sich offenbar der möglichst wortgetreuen Übertragung verpflichtet, wodurch die Gedichte jedoch ihren Rhythmus verlieren. In den Übersetzungen von Ursel Allenstein etwa in „Kindheit“ wurde eine Nachdichtung vorgenommen, die den charakteristischen lyrischen Ton der Dichterin erhält, dafür aber wohl teilweise vom dänischen Wortlaut etwas abweicht. Umso deutlicher wird daran, dass es dringend einer lyrischen Übersetzung von Ditlevsens Gedichten ins Deutsche bedarf, um diese wirklich wahrnehmen zu können.

Bitte, gebt mir mehr von dieser Frau auf Deutsch zu lesen, es gibt noch so viel zu entdecken! Tove Ditlevsen wird interessanter und vielschichtiger, je mehr man von ihr erfährt!

 

Tove Ditlevsen – Ihr Leben, Jens Andersen, aus dem Dänischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg, Aufbau Verlag, Berlin, 2023, 224 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Montag, 16. Oktober 2023

Beben in uns, Jakub Małecki

Mein dritter Roman des Polen Jakub Małecki ist dies. Wieder eine Familiengeschichte über drei Generationen, vom zweiten Weltkrieg bis heute. Diesmal sind es zwei Familien, deren Lebenswege sich irgendwann überschneiden.

Alles beginnt mit der deutschen Besetzung Polens. Die ursprünglichen Einwohner werden zu Zwangsarbeitern der zugezogenen Deutschen. So arbeitet auch Janek, der in einem kleinen Dorf lebt, bei Frau Eberl und ihren Töchtern, die nun in seinem Haus wohnen. Beim Rückzug der Deutschen kommt es dazu, dass Frau Eberl Janek und seine schwangere Frau Irena sowie das ungeborene Kind verflucht. Der später geborene Sohn hat Albinismus.

In der Geschichte geht es um Aberglauben und das Schlimme, das uns allen im Leben passiert. Passiert es aus einem bestimmten Grund, etwa wegen des Fluchs? Oder aufgrund des Glaubens an den Fluch? Kann man weiteres Unheil verhindern, indem man das weiße Kind mit den roten Augen aus der Gegend vertreibt? Oder hat ein Albino im Gegenteil sogar magische, heilende Kräfte?

Das Leben in der Kriegs- und Nachkriegszeit ist hart. Unglücke und Verletzungen, Krankheit und Tod sind allgegenwärtig. Aber die Geschichte geht weiter bis in die Jetztzeit. Sind wir nicht heute viel aufgeklärter, zu gebildet für Aberglauben? Die Geschichte scheint sind ständig zu wiederholen, das Pech klebt an den beiden Familien. Ist das Schicksal oder sind manche Menschen einfach böse und verursachen selbst das Leid um sie herum?

Es ist wahrlich kein Wohlfühlbuch, das Małecki da geschrieben hat, denn die Familienmitglieder können einem wirklich leidtun in ihrem Elend. Dennoch wollte ich immer wissen, wie es weitergeht. Etwas unheimlich geht es auch zu, denn manche Figuren sehen „das Verschwommene“, wie einen Fluss, den es nicht gibt. Greift da der Wahnsinn um sich?

„An dem Abend nach Wiktors Begräbnis sagte er ihr, dass die wirklich Verrückten diejenigen seien, die sich alles, was um sie herum passierte, anschauen würden und dabei normal blieben. Jeder, der ein bisschen Grips im Kopf hätte, müsste schließlich irrewerden.“ (S. 209)

Ein rätselhaftes Buch über das Leben und wie wir mit herausfordernden Umständen umgehen, über die Frage, wieviel Wahl uns selbst bleibt zwischen Gut und Böse. Nicht Małeckis stärkstes Buch, aber lesenswert.

Beben in uns, Jakub Małecki, aus dem Polnischen übersetzt von Joanna Manc, Secession Verlag, Berlin, 2023, 360 Seiten, 25,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Samstag, 30. September 2023

Samson und das gestohlene Herz, Andrej Kurkow

Nachdem ich kürzlich mein erstes Buch von Andrej Kurkow („Graue Bienen“) gelesen hatte, habe ich nun den zweiten Band der Reihe über den Kiewer Milizionär Samson gelesen. Samson ist eine Art Ermittler in der Zeit um 1919/1920.

Samson und seine Kollegen sollen wegen des illegalen privaten Handels mit Fleisch ermitteln. Zwar kann die Bevölkerung das eben erst erlassene Gesetz nicht kennen, das den privaten Handel mit Fleisch verbietet, aber das hindert die Miliz nicht, sowohl Schlachter als auch Verkäufer und Käufer zu belangen, und zwar auch rückwirkend. Lebensmittel sind knapp, der Schwarzmarkt mit allem blüht.

Die politische Lage in Kiew ist unübersichtlich nach der russischen Revolution und Absetzung des Zaren. Samson arbeitet bei der staatlichen Arbeiter- und Bauernmiliz. Zusätzlich gibt es noch die Tscheka, eine Vorläuferorganisation des sowjetischen Geheimdienstes, die ebenso wie die Miliz eine Polizeifunktion erfüllt. Die Staatsgewalt ist aufgesplittert, denn auch die Rote Armee tut Dienst in der Stadt. Wer welche Kompetenzen hat, ist kaum auszumachen. Kein Wunder also, dass auch andere Gruppen in der Stadt das Recht in die eigenen Hände nehmen, wie etwa die Eisenbahner, die eigene Patrouillen haben und die Bahngleise als ihr Gebiet mit Waffengewalt behaupten.

Ich hatte einen Krimi erwartet. Dafür ist der Roman allerdings eher handlungsarm. Geschildert wird vielmehr die Lebenssituation in Kiew zu dieser Zeit. Auf dem Vorsatzpapier ist eine Stadtkarte des historischen Kiew zu sehen, auf der die Handlungsorte der Geschichte markiert sind, etwa der Jüdische Markt, auf dem mit Lebensmitteln gehandelt wird. Wir erfahren – offenbar wohl recherchiert -, welche Lebensmittel wem zugeteilt wurden, dass Strom knapp war, wie die Milizionäre sich in einer öffentlichen Banja waschen gehen oder welche Verkehrsmittel es gab. Ein bisschen magische Realität gibt es auch. Offenbar ist Samson im ersten Band der Reihe (den ich nicht gelesen habe) ein Ohr abgeschlagen worden, das er in einer Dose verwahrt. Mit diesem kann er hören, was in einem Raum gesprochen wird, in dem sich nur das Ohr, nicht aber er selbst befindet.

Das Beeindruckendste und Erschütterndste an diesem Roman ist für mich als Juristin, wie die Ermittlungsmethoden der Miliz geschildert werden. Von Rechtsstaatlichkeit und fairem Verfahren keine Spur! Gesetze werden ständig erlassen und nicht bekannt gemacht. Dennoch werden sie rückwirkend angewandt. Vor einer Befragung wird niemand darauf hingewiesen, ob er als Zeuge oder Mittäter geführt wird. Verhaftet wird andauernd und lange. Einschüchterung und Erniedrigung werden als Methoden zwingend empfohlen. Gerichte sind abgeschafft. Die Miliz schreibt die Urteile nach den Ermittlungen gleich selbst. Das Strafmaß ist willkürlich, auch die Todesstrafe wird verhängt. Einflussnahme durch Bestechung oder persönliche Freundschaft ist an der Tagesordnung. Es gruselt mich!

„Sag uns ehrlich: Was hast du auf der Wache alles gestohlen? Deine Kameraden haben dich verraten“, sagte Cholodny laut und beugte sich dabei nach vorne zu Kosjakin.

„Was denn für Kameraden?“; fragte Kosjakin nach seinem Hustenanfall und starrte Cholodny an. Dann blickte er zu den beiden Rotarmisten, die ihn hergebracht hatten, aber die schüttelten die Köpfe.

„Die waren es nicht“, bestätigte Samson. „Es waren andere. Gestehst du also? Vielleicht fangen wir mit dieser Zigarettenspitze an?“

„Wir werden dich dafür schon nicht ins Gefängnis stecken. (…) Wir haben noch nicht einmal eine Akte über dich angelegt. Unser Befehl lautet nur, herauszufinden, wer es war. (…)“ (S. 250)

Der Roman konnte mich leider nicht wirklich fesseln. Die Ermittlungen in einem Bagatellfall dümpeln vor sich hin, Spannung kommt nicht auf. Der Konflikt mit den Eisenbahnern, auf den Cover und Klappentext hindeuten, kommt eher am Rande vor. Was zu dieser besonderen Stellung der Eisenbahner geführt hat, ist mir nicht klargeworden. Ähnlich wie in „Graue Bienen“ wird auch hier Politik nicht erklärt, sondern nur detaillreich deren Auswirkungen gezeigt. Von der Kiewer Situation 1919 weiß ich allerdings noch weniger als von der Situation im Donbass 2017. So kann ich nur eine Diktatur mit willkürlicher Staatsmacht wahrnehmen, von denen es in der Welt allerdings bis heute viele gibt. Mir fehlte die poetische Sprache, die mir in „Graue Bienen“ so gefallen hatte. Ich bin keine Krimileserin, aber ich bezweifle, dass dieser Roman Krimifreunde beglücken würde.

Ich würde diesen Roman Leser:innen empfehlen, die an der historischen Situation der Ukraine interessiert sind und die ein langsames Erzähltempo mögen. Der Plot steht nicht im Vordergrund. Es ist eher ein Gesellschaftspanorama von 1919/1920.

Samson und das gestohlene Herz, Andrej Kurkow, aus dem Russischen übersetzt von Johanna Marx und Claudia Zecher, Illustrationen von Juri Nikitin, Diogenes Verlag, Zürich, 2023, 432 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...