Freitag, 12. Februar 2021

Wilhelms Zimmer, Tove Ditlevsen

In Tove Ditlevsens Werk finden sich sehr viele autobiographische Bezüge. Das zeigt sie in besonders tragischer Weise an diesem Buch, mit dem sie ihren eigenen Freitod vorwegnahm. Das auf Dänisch erstmals 1975 erschienene Buch dürfte zum letzten gehören, was sie geschrieben hat, bevor sie sich im März 1976 das Leben nahm.

In diesem Roman taucht die Autorin gleich doppelt auf. Sie verarbeitet die Geschichte ihrer 22jährigen vierten Ehe mit dem Zeitungsredakteur Victor Andreasen, mit dem sie von 1951 bis 1973 verheiratet war und einen Sohn hatte. Im Roman nennt sie die Ehefrau Lise Mundus und benutzt damit (wie schon im Roman „Gesichter“) den Geburtsnamen ihrer Mutter für die Protagonistin, die eine bekannte Schriftstellerin ist, wie die Autorin selbst. Der Ehemann wird Wilhelm genannt und ist Zeitungsredakteur. Die Geschichte wird erzählt von „Tove“, da die Ehefrau aufgrund der Trennung des Paares bereits tot sei.

„Ich will ein Buch über Wilhelms Zimmer schreiben und über die Ereignisse, die darin stattfanden oder von ihm ausgingen, die, die zu Lises Tod führten, den ich nur überlebt habe, um ihre und Wilhelms gemeinsame Geschichte niederzuschreiben. Einen anderen Sinn hat mein Dasein nicht mehr.“ (S. 9/10)

Bereits zu Beginn des ersten Kapitels wird die traurige Perspektive des Buches offenbart. Ebenso wird sofort klar, dass es sich um eine Hassliebe mit teilweise grotesken Ausmaßen gehandelt hat. Das Paar lebte bis vor kurzem mit dem 15jährigen Sohn Tom und der Haushälterin Frau Andersen in einem Mehrfamilienhaus. Wilhelm hatte wechselnde Geliebte, mit denen Lise (um das Verhältnis wissend) teilweise in regem Austausch stand oder sogar freundschaftlich verbunden war. Beide Eheleute haben einander das Leben zur Hölle gemacht und den jeweils anderen absichtlich zutiefst beleidigt und seelisch verletzt. Dennoch kamen sie ohne einander nicht aus. Die Ehe scheint langweilig geworden zu sein, nachdem Wilhelm Lise erfolgreich aus ihrer Drogensucht geholfen hatte. Lise hat mehrfache Suizidversuche hinter sich, die sie nach eigenen Angaben aber nie erst meinte. Als Wilhelm zu einer Geliebten zieht, gibt Lise eine Heiratsanzeige in der Zeitung auf, durch die sie aus einer Nervenheilanstalt heraus einen 20 Jahre jüngeren Mann kennenlernt, der zur Untermiete ein Stockwerk über ihr im gleichen Haus wohnt. Er zieht zu ihr.

Die Geschichte ist verworren. Die Autorin spricht im Verlauf der Erzählung den Leser mehrmals direkt an und kommentiert die Funktion einer Figur oder eine Tatsache für das Buch. So spricht Tove Ditlevsen ersichtlich von sich selbst als bereits verstorbene Person und merkt mehrfach an, dass sie die Geschichte für die Zwecke des Romans verändert habe. Zu allem Überfluss schreibt die Figur Lise im Roman eine Artikelserie für die Zeitung über die Geschichte ihrer Ehe, die teilweise widergegeben wird. Will sich die Autorin hinter diesen verschiedenen Ebenen der Fiktion verstecken? Warum bleibt sie dann nicht als allwissende Erzählerin hinter der Erzählung verborgen, sondern spricht den Leser direkt an? Nun, sie möchte auch den Leser und dessen Reaktion kommentieren.

„Was braucht mein Leser noch mehr zu wissen? Wir sind einander ja doch bald satt und bedürfen einer kleinen Trennung, um uns mit leichtem Herzen wieder zu begegnen. Oder mit schwerem Herzen, denn der Leser, für den ich schreibe, ist traurig. Er trauert – denn er ist ein Mann – darüber, daß Lise nun keine andere Möglichkeit mehr hat, als ihren sanften und glücklichen Tod zu sterben.“ (S. 178)

Im Gegensatz zu früheren Werken empfinde ich Tove Ditlevsens Stil hier nicht als poetisch. Es fehlen die blumigen Wortbilder. Die literarische Qualität liegt vielmehr in den verschachtelten Erzählebenen. So ist dieses Buch ungewöhnlich und besonders, dabei aber zutiefst traurig angesichts des offensichtlichen eigenen Leidens der Autorin, welches zum Ausdruck kommt. Dieses beschreibt sie in ungewohnt abgeklärter und distanzierter Weise. In anderen Romanen steht die Leserin in den Schuhen der Protagonistin und erlebt die Dinge aus ihrer Sicht. Das ist in diesem Buch nicht der Fall. Tove Ditlevsen scheint beim Schreiben bereits mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben und legt nur noch Zeugnis davon ab, als gehöre es nicht zu ihr.

Ein schwieriger Roman einer vielschichten, unglücklichen Frau, deren Lebenswahnsinn durch die Abgeklärtheit des Stils erschütternd wirkt. Dennoch lesenswert.

Wilhelms Zimmer, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Else Kjaer und Bärbel Cosmann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981, 208 Seiten (antiquarisch)

(Die Coverrechte liegen beim Verlag.)

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