Donnerstag, 31. Oktober 2019

Emmi & Einschwein: Einhorn kann jeder! (Bd. 1), Anna Böhm

Jeder weiß, was ein Einhorn ist. Aber kennt Ihr ein Einschwein? Nein? Emmi auch nicht. Und sie will es zu Anfang auch gar nicht kennen. Denn ein Einschwein hat zwar ein hübsches gedrehtes Horn auf der Stirn, aber ein Einhorn ist es nun wirklich nicht. Emmi lebt mit ihrer Familie in Wichtelstadt. Dort bekommt jeder Mensch zu seinem 10. Geburtstag ein eigenes Fabelwesen. Man kann sich allerdings nicht aussuchen, was für ein Wesen man bekommt. Dennoch wünscht sich Emmi nichts sehnlicher als ein Einhorn. Dann wäre sie bestimmt in der Schule beliebter und die anderen würden sie mitspielen lassen.


Emmi will es zuerst gar nicht wahr haben, aber an ihrem Fabeltag bekommt sie statt des ersehnten Einhorns ein kleines, rundliches Wesen mit Rüsselnase, das zwar sehr fröhlich wirkt, aber nicht einmal vornehm stolzieren kann. Auch Glitzerstaub kann es nicht produzieren.  Emmi beschließt, das Einschwein zu verkleiden. Vielleicht kann es ja lernen sich vornehm wie ein Einhorn zu benehmen? Einschwein ist davon zuerst nicht sehr begeistert. Ist es nicht gut genug, so wie es ist? Außerdem gerät Emmi durch ihre Lügen über das Fabeltier ganz schön in die Klemme…

„Dann schleppte sie einen ganzen Schwung Korsetts zur Umkleide und zeigte sie Einschwein. Es war sofort begeistert.
„Vornehm!“, rief es begeistert und krabbelte in ein Korsett, blieb aber in den Schnüren hängen und verhedderte sich. Das Horn guckte aus einem Armloch, und die vier Beine hingen in den Schnüren. Hektisch hantierte Emmi an ihrem Schwein.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte von draußen die Verkäuferin.
„Nein, danke“, sagte Emmi mit möglichst tiefer Stimme. Einschwein grunzte vor Aufregung, als Emmi versuchte, ihm das Korsett über den Kopf zu ziehen. (S. 115)

Dieses Kinderbuch für Kinder ab 8 Jahren hat einen spannenden Plot, der geradezu davon galoppiert. Auf jeder Seite lernen wir so viel über die verschiedenen Fabelwesen und ihre ungewöhnlichen magischen Fähigkeiten. In jeder Zeile passiert etwas, Slapstick in Buchform. Und das Einschwein ist wirklich zu süß! Ganz zu schweigen von den anderen Wesen in der Familie, etwa Henk, dem großen blauen Drachen, der Papa gehört und auf dem die Familie herumfliegen kann. Die Geschichte mit all ihren ungewöhnlichen Kreaturen wird wunderschön umgesetzt in den zauberhaften Illustrationen von Susanne Göhlich.

In der magischen Geschichte werden Themen wie Freundschaft, Mobbing, Eifersucht, Neid und Geheimnisse-Haben angesprochen. Emmi trägt das Herz auf dem rechten Fleck. Die Botschaft wird in so drollige Situationen verpackt, dass man ständig lachen muss. Etwa wenn der Drache in der Küche Sandwiches grillt, dabei aber leider ein bisschen die Tischdecke verkohlt. Oder ein merkwürdiger Mann einen Spuckewurm zum Fabeltier hat, den alle eklig finden. Hinzu kommt die witzige Sprache. Insbesondere das unbekümmerte Einschwein sagt Sätze wie „Danke vornehm, wir kommen supigern.“ (S. 156)

Während Emmi und Einschwein sich aneinander gewöhnen, gibt es alle möglichen Komplikationen und brenzlige Situationen, die zum Schluss fast wie ein Krimi wirken. Atemlos von der temporeichen Handlung kommt man am Ende des Buches an und ist sodann froh zu erfahren, dass das nicht das Ende der Geschichte ist. Mittlerweile sind vier Bände der Geschichte um Emmi und Einschwein erschienen.

Eine herrlich freche, zauberhafte und temporeiche magische Welt mit dem besten Einschwein der Welt hält kleine und große Leser in Atem. Ich liebe es!

Emmi & Einschwein: Einhorn kann jeder! (Bd. 1), Anna Böhm, Illustrationen von Susanne Göhlich, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2018, 208 Seiten, 13,00 EUR

Mittwoch, 30. Oktober 2019

Buddhas baden besser, Dirk M. Schumacher

Nachdem ich mich neulich für die #BuchmomentChallenge des Börsenvereins mit einem Buch in der Badewanne für Instagram fotografiert hatte, bin ich auf der Buchmesse dem Thema etwas näher getreten. Für gewöhnlich lese ich nicht in der Wanne, da ich sehr auf den Zustand meiner Bücher bedacht bin. Nun hatte ich die Gelegenheit, mal ein wasserfestes Exemplar aus der Edition Wannenbuch auszuprobieren.


Alle Wannenbücher (es gibt diverse verschiedene, z.B. Krimis, Liebesromane etc.) sind komplett aus Kunststoff und bestehen aus 4 Blättern, also 6 Seiten plus Vorder- und Rückeinband. Man kann sie also bedenkenlos ins Badewasser fallen lassen, denen passiert nichts.

Bereits beim Besteigen der Wanne fiel mir auf, dass ich beim Baden meine Brille aufbehalten muss, um das Buch lesen zu können. Etwas ungewöhnlich… Beim Durchblättern geriet mir dann der Badeschaum immer auf die Seiten. Ich bin da wohl nicht so geübt drin.

In dem Buch geht es um „Entspannungsübungen für die Wanne“, so der Untertitel. Es werden sieben Achtsamkeitsübungen beschrieben, die man im Wasser liegend machen kann. Die meisten Übungen waren mir nicht wirklich neu, bis auf das Mandalamalen im Schaum. Das geht natürlich nur in der Wanne. Man kann das Buch schnell weglesen, es ist nicht sehr lang. Eine Badesession lang eben.

"Machen Sie mit Badezusatz richtig Schaum. Setzen Sie sich aufrecht, so dass Sie den Schaum als Fläche vor sich sehen. Zeichnen Sie nun nach Lust und Laune große und kleine Kreise hinein. Bilen Sie ein Mandala." (S. 6)

Ich finde die Idee eines Plastikbuchs witzig, und wer keine Lesebrille braucht, wird daran wahrscheinlich noch mehr Spaß haben. Insgesamt lese ich aber deutlich lieber an einem trockenen Ort. Gleiches gilt für Achtsamkeitsmeditation. Interessanterweise gilt das Wannenbuch nicht als Buch, sondern wurde auf der Messe unter den Non-Book-Artikeln ausgestellt. Es ist eher ein Geschenkartikel. So ist auch eher verzeihlich, dass mancher Buchinhalt etwas flach daher kommt.

Kann man machen, muss man aber nicht.

Buddhas baden besser, Dirk M. Schumacher, Edition Wannenbuch, Chemnitz 2019, 6 Seiten, 4,99 EUR

(Ich danke dem Hersteller für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Dienstag, 29. Oktober 2019

Olga, Bernhard Schlink

Olga wird Ende des 19. Jahrhunderts in Breslau geboren. Vater und Mutter arbeiten hart, leben in ärmlichen Verhältnissen und kümmern sich nicht viel um das Mädchen. So wird Olga eine stille Beobachterin.

„Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut.“ (S. 5) So sagt die Mutter zur Nachbarin, wenn diese sich um die kleine Olga kümmern soll. Aber schon bald sterben die Eltern und Olga wächst bei der Großmutter in einem kleinen Dorf auf. Doch die Großmutter ist eher gleichgültig, mit ihr wird Olga nicht warm. Was Olga wirklich Freude macht, ist Lesen und Lernen. Sie erbettelt sich Bücher, wo sie kann. Und dann ist da noch Herbert. Mit ihm und seiner Schwester Victoria freundet Olga sich an. Bis etwas mehr entsteht zwischen Olga und Herbert.

Herbert wird Olgas Begleiter für den Rest ihres Lebens. Aber nicht als ihr Mann. Er ist der Sohn eines Gutsbesitzers, Olga nur ein ärmliches Mädchen. Außerdem ist Herbert nur selten zuhause. Es treibt ihn über Monate, manchmal Jahre in die Welt hinaus. Er bereist unwirtliche Länder, dient in der deutschen Kolonie in Südwest Afrika. Er will die Arktis erforschen. Und so begegnen sich die beiden über lange Zeitabschnitte in Briefen.

Selbst als Herbert längst gestorben ist, hört Olga nicht auf mit ihm zu sprechen. Er bleibt ihr Bezugspunkt bis zum Schluss. Olga ist eine warmherzige Frau, die durchaus mit anderen Menschen guten Kontakt hat und Kinder liebt. Sie verdient ihren Lebensunterhalt selbst und macht das Beste aus ihrem Leben. Was genau verbindet sie über so lange Zeit mit Herbert? Warum sieht sie sich nicht nach einem anderen Mann um, einem realen Partner?

Im ersten Abschnitt des Romans berichtet ein Erzähler aus Olgas Leben, verbindet es mit der deutschen Geschichte. Sie macht sich Gedanken um den Mord an den Herero in der deutschen Kolonie, es kommt der 1. Weltkrieg, dann der zweite, der Wiederaufbau. Was Olga nicht in den Kopf will ist, warum die deutschen Männer alle immer so groß denken. Das Reich soll immer größer werden, andere Völker beherrscht und neuer Lebensraum erschlossen werden. Ist das nicht Größenwahn? Muss das nicht schief gehen?
„Als Olga anreiste, lag die Großmutter schon in der Kirche im Sarg. (…) Sie saß vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Morgengrauen bei der Frau, die sie aufgenommen und aufgezogen, aber keinen Gefallen an ihr gefunden hatte. Sie trauerte nicht um das, was zwischen ihrer Großmutter und ihr gewesen und nun vorbei war, sondern um das, was nicht gewesen war. Sie trauerte auch um die nicht gelebten Leben der gefallenen jungen Männer und um das Leben, das Herbert und sie nie haben würden. Zum ersten Mal war alles wirklich: der Verlust, der Abschied, der Schmerz, die Trauer. Sie begann zu weinen und konnte nicht mehr aufhören.“ (S. 102)
Im 2. Abschnitt des Buches berichtet uns Ferdinand von seiner Freundschaft mit Olga. Nachdem sie ihren Beruf aufgeben musste, arbeitet sie als Näherin für Ferdinands Familie und nimmt sich des kleinen Jungen an. Es entsteht eine lebenslange Freundschaft.

Erst im 3. Abschnitt kommt Ferdinand dahinter, was in Olgas Leben noch alles passiert ist. Nach Olgas Tod kommt er an Informationen, über die Olga mit ihm nie gesprochen hat. Nachdem wir die Umrisse ihres Lebens schon gesehen haben, wird es zum Schluss mit ganz neuen Perspektiven gefüllt.
Schlink erzählt wunderschön, vielleicht mit kleinen Längen im Mittelteil, und stellt wichtige Fragen. Aspekte der deutschen Geschichte, die mir deutlich weniger präsent waren als die Nazizeit, werden beleuchtet. Interessant ist z.B. Deutschlands Rolle als Kolonialmacht. Auch wird die Frage gestellt, ob nach 1945 wirklich alles anders geworden ist, die deutschen Größenphantasien beendet waren. Olga ist eine erfrischend geradlinige Person, die das Leben nimmt, wie es kommt. 

Ein deutsches Leben, gesehen durch die Augen einer couragierten Frau, über den Zeitraum von 90 Jahren. Sehr lesenswert.

Olga, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag, Zürich 2019, 320 Seiten, 13,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Montag, 28. Oktober 2019

Besser, Doris Knecht

Besser – so findet Antonia ihr jetziges Leben mit Adam und den beiden gemeinsamen Kindern, besser als ihr früheres Leben. Adam kommt aus gutem Hause, ist gebildet und wohlhabend. Antonia betrachtet ihn als Garanten eines guten Lebens und als Schutz gegen das Unglück, das ihr ansonsten widerfahren könnte. Richtig dazugehörig zu Adams Welt und seinem Freundeskreis fühlt sich Antonia allerdings nicht. Aber sie tut so als ob. Sie würde alles tun, um in dieser behüteten Welt bleiben zu können, in der alles so normal ist. Endlich mal normal.


Mit ihrer Vergangenheit hat Antonia abgeschlossen. Außer ihrer Schwester Astrid betrachtet sie ihre Herkunftsfamilie als tot. Und genau das hat sie Adam erzählt. Der muss ja nicht alles wissen und sich nicht unnötig aufregen. Auch von ihrem Liebhaber braucht Adam nichts zu wissen.

Das Problem ist, dass Antonia befürchtet, jemand könnte ihre Verstellung bemerken. Bemerken, dass Adam eigentlich viel zu gut für sie ist. Dass sie nur ein Parasit ist, voll Schuld, eine Voyeurin, die dem Leben anderer zusieht, ohne ein richtiges eigenes zu haben. Es soll niemand wissen, dass Antonia das Unglück anzieht. Das Unglück in Form ihrer Vergangenheit aber klopft an. Es scheint ihr Schicksal zu sein.

„Das Schicksal hat mich mit Geheimnissen reich beschenkt, ich weiß gar nicht mehr wohin damit, ich finde in mir schon keine Schrankfächer mehr, in denen ich noch mehr Geheimnisse verstauen und verstecken könnte. Vielleicht sollte ich einmal das eine oder andere Geheimnis ausräumen, wegschmeißen, entsorgen. Vielleicht sollte ich endlich auf neue Geheimnisse verzichten, aber offenbar ist auch das eine Sucht, von der ich nicht loskomme. Die Sucht, neue, konventionelle, brave Geheimnisse zu sammeln, die ich dann vor die alten, bösen schieben kann, um die noch weiter nach hinten zu rücken, noch ein bisschen besser zu verstecken.“ (S. 156)

Doris Knecht betrachtet durch Antonias Augen die österreichische Gesellschaft mit kritischem Blick, die wohlsituierten Fassaden, den Fitnesszwang, die Beziehungswelt und die Kindererziehung. In bissigem Ton deckt sie Falschheiten und Absurditäten auf. Das perfekte Leben hat in Wahrheit eben niemand. Mir gefällt ihr direkter Ton, mit dem sie den alltäglichen Wahnsinn in Gesellschaft und Familie anspricht.

Antonia wirkt zunächst etwas oberflächlich, sie tut eben immer nur so als ob. Sie wirkt unbehaust und voller Selbsthass. Aber im Laufe des Romans reift sie, setzt sich auseinander, erkennt, dass das Schicksal auch in den eigenen Händen liegt und wir nicht nur dessen Opfer sind. Das macht wirklich Spaß mitanzusehen.

Ein bissiger Beziehungs- und Gesellschaftsroman mit einer erfrischend direkten Sprache und einer Protagonistin, die an Tiefe gewinnt. Macht Spaß!

Besser, Doris Knecht, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014, 288 Seiten, 10,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Sonntag, 27. Oktober 2019

Frankfurter Buchmesse 2019, Tag 4 + 5


Samstag und Sonntag (19./20. Oktober) waren die Publikumstage der Messe, wo also jeder, der mag kommen darf.

Die Messe in Zahlen

Messestand des Verlags Kein & Aber
Es war meine dritte Frankfurter Buchmesse – ich habe das Gelände am Samstag noch nie so schwarz vor Menschen gesehen! Samstag ist immer der besucherstärkste Tag, aber diesmal hatte die Messe tatsächlich ein deutliches Besucherplus zu verzeichnen. 9,2 % mehr Menschen kamen am Wochenende, immerhin 1,8 % mehr an den Fachbesuchertagen. Über 302.000 Besucher waren insgesamt auf der Messe. Da soll noch einer sagen, die Leute interessierten sich nicht mehr fürs Lesen! 7.450 Aussteller aus 104 Ländern präsentierten ihr Angebot. Allein in Deutschland erscheinen pro Jahr ca. 70.000 neue Bücher.

Außerhalb des Messegeländes gab es schon die ganze Woche über weitere Veranstaltungen und Lesungen für jedermann, das BOOKFEST. Auch dieses verzeichnete 25.000 BesucherInnen.

So schön das Interesse am Buchmarkt, so anstrengend ist aber auch das Publikumswochenende. Lange Schlangen an Damentoiletten und Essensständen, Stillstand in den Gängen, insbesondere in Hallen 3 und 4. Wer kann, kommt lieber an den Fachbesuchertagen, um entspannt an den Ständen zu stöbern. Zur Entzerrung hatte die Messe draußen neben Halle 1 dieses Jahr ein neues Bühnenareal aufgebaut. Das wurde durch den anhaltenden Regen leider etwas beeinträchtigt.

Erste Literaturgala

Elif Shafak
Die Messe wartete dieses Jahr mit einem neuen Abendformat auf, einer Literaturgala im Congress Center neben dem Messegelände. Die Tickets waren allgemein verkäuflich, mussten aber zusätzlich zum Messeeintritt erworben werden. Ich kam in den Genuss einer kostenlosen Pressekarte. Warum der Saal nicht ausverkauft war, ist mir unbegreiflich.

Die Veranstaltung war sehr hochkarätig besetzt und wirklich ein Genuss! Begeistert moderiert von den Journalisten Bärbel Schäfer und Thomas Böhm traten AutorInnen von Weltklasse auf – dabei kein/e deutsche/r SchriftstellerIn. Vielleicht haben wir keine solchen Stars. Egal.

Den Anfang machte die türkische Autorin Elif Shafak mit ihrem aktuellen Roman „Unerhörte Stimmen“. Shafak berichtete, dass sie sich in ihren Büchern bemühe, die Stimmen der Ungehörten hörbar zu machen, insbesondere die der Frauen. Ausgangspunkt ihres Romans ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Menschen im Sterbeprozess nach Aussetzen von Atmung und Herzschlag noch etwa 10 Minuten Bewusstsein und Hirntätigkeit haben können. Und so berichtet eine ermordete Sexarbeiterin von ihrer Geschichte, während ihr bewusst ist, dass sie bereits tot ist und ihr Herz nicht mehr schlägt. Skurrile Idee, klingt aber sehr spannend. Aufgrund ihrer gesellschaftskritischen Texte und der Reaktionen darauf in der Türkei lebt Shafak inzwischen in London.

Nach dem Interview folgte jeweils eine Lesung aus dem aktuellen Buch des Gastes auf Deutsch. Sehr gekonnt und engagiert las die Schauspielerin und Hörbuchsprecherin Nina Petri.

Colson Whitehead
Sodann folgte der mehrfach preisgekrönte (u.a. Pulitzerpreis 2017) US-amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead mit seinem Roman „Die Nickel Boys“. Sein Roman spielt in den 1960er Jahren und berichtet über das Schicksal eines schwarzen Jugendlichen, der in die „Nickel Academy“, eine Besserungsanstalt eingewiesen wird. Reales Vorbild dieser Einrichtung ist die „Dozier School for Boys“ in Florida, die von 1900 bis 2011 betrieben wurde. Whitehead berichtete von seiner Bestürzung über die Zustände in dieser Einrichtung, die ihn zum Schreiben veranlasst hätten. Die Anstalt war bereits kurz nach ihrer Eröffnung und seitdem immer wieder in die Kritik geraten aufgrund der körperlichen und seelischen Misshandlungen, insbesondere gegen schwarze Jugendliche. Nach Schließung der Einrichtung wurden diverse unmarkierte Gräber auf dem Gelände gefunden, in denen sich erschossene und anderweitig gewaltsam zu Tode gebrachte Insassen befanden.

Die deutsche Lesung wurde von einem besonderen Whitehead-Fan vorgetragen, dem Punkrocker Bela B. von den Ärzten. Rührend war der Moment, als Bela sich auf die Couch direkt neben sein Idol setze, ihm ein paar Fragen stellen und seine Verehrung mitteilen durfte. Ein Rocker mit weichem Herz!

Maja Lunde
Der nächste Gast war die Norwegerin Maja Lunde, bekannt durch „Die Geschichte der Bienen“, die ihren gerade erschienenen Roman „Die letzten ihrer Art“ mitbrachte. Es ist das dritte Buch in ihrem Umweltquartett. Nach den Bienen und dem Wasser widmet sich Lunde im neuen Buch dem Aussterben einer besonderen mongolischen Pferderasse, die mit vereinten Kräften gerade noch verhindert werden kann. Sie wies auf das derzeitige Massenartensterben hin und rief dazu auf, Tiere nicht aufgrund ihres Nutzens für den Menschen zu beurteilen, sondern als Wert um ihrer selbst willen. Sie schreibe Romane über Umweltthemen, da Sachbücher nur den Intellekt, Literatur aber die Seele erreichten. So sei ein Umdenken vielleicht eher möglich. (Den Roman werde ich in Kürze auf diesem Blog rezensieren.)

Ken Follet liest
Schlag auf Schlag folgte das britische Urgestein Ken Follet („Die Säulen der Erde“). Dieser trug selbst einen kurzen aktuellen Text auf Englisch vor. Im Übrigen wies er auf die „Friendship Tour“ hin, die er mit mehreren anderen AutorInnen alsbald beginnen werde. Er wolle vermeiden, dass Leserinnen und Leser aufgrund des Brexits dächten, die Briten schauten auf sie herab, weil sie dem europäischen Club nicht mehr angehören wollten. Auf der Tour solle nicht über Politik, sondern nur über Literatur gesprochen werden. Die Botschaft sei schlicht: „We still love you!“ Follets Fans feierten ihn mit regem Applaus.

Margaret Atwood
Last but not least betrat die unvergleichliche Margaret Atwood die Bühne. Ihr Roman „Die Zeuginnen“, Fortsetzung von „Der Report der Magd“ hat gerade den Booker Prize 2019 gewonnen. Erst im letzten Jahr war sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Die Kanadierin, die in wenigen Wochen ihren 80. Geburtstag feiern wird, war der absolute Star des Abends. Schlagfertig und witzig sprach sie im Interview über das neue Buch und die Lage der Welt. Sie habe sich nach so vielen Jahren zum Schreiben einer Fortsetzung des „Reports der Magd“ entschlossen, weil die veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse es erfordert hätten. Wer wisse schon, wie lange Menschen noch in der Lage seien zu lesen, Bücher besäßen oder die Welt überhaupt noch existiere. Da ihr Vater Biologe gewesen sei, habe sie sich schon seit den 1950er Jahren mit Umweltproblemen wie dem Klimawandel beschäftigt. Nur habe niemand etwas davon wissen wollen. Sie warnte vor Leugnern des Klimawandels – deutlicher Seitenhieb auf US-Präsident Donald Trump, ohne dessen Namen zu nennen. Man dürfe diese nicht wählen. Auch müssten die Rechte der Frauen verteidigt werden. Dieser tollen Frau könnte ich stundenlang zuhören. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht in ihrer herzlichen und klugen Art jedes Thema direkt und treffend an. Man muss sie einfach lieben.

Fazit: Ich musste alle anwesenden AutorInnen und alle ihre Bücher (nicht nur die aktuellen) auf meine Leseliste setzen. Ich bräuchte dann mal die nächsten paar Monate frei.

Zum Schluss

Natürlich hätte es noch sehr viel mehr zu berichten gegeben von Bloggertreffen, Verlagsvorschauen und wundervollen Kinderbüchern etc. Aber das würde den Rahmen sprengen. Am Messesamstag habe ich außerdem die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt besichtigt. Dieser werde ich in Kürze einen eigenen Artikel widmen.

Nach der Messe ist vor der Messe. Die nächste Frankfurter Buchmesse findet vom 14. bis 18. Oktober 2020 statt. Ehrengastland wird dann Kanada sein.

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...