Sonntag, 27. Oktober 2019

Frankfurter Buchmesse 2019, Tag 4 + 5


Samstag und Sonntag (19./20. Oktober) waren die Publikumstage der Messe, wo also jeder, der mag kommen darf.

Die Messe in Zahlen

Messestand des Verlags Kein & Aber
Es war meine dritte Frankfurter Buchmesse – ich habe das Gelände am Samstag noch nie so schwarz vor Menschen gesehen! Samstag ist immer der besucherstärkste Tag, aber diesmal hatte die Messe tatsächlich ein deutliches Besucherplus zu verzeichnen. 9,2 % mehr Menschen kamen am Wochenende, immerhin 1,8 % mehr an den Fachbesuchertagen. Über 302.000 Besucher waren insgesamt auf der Messe. Da soll noch einer sagen, die Leute interessierten sich nicht mehr fürs Lesen! 7.450 Aussteller aus 104 Ländern präsentierten ihr Angebot. Allein in Deutschland erscheinen pro Jahr ca. 70.000 neue Bücher.

Außerhalb des Messegeländes gab es schon die ganze Woche über weitere Veranstaltungen und Lesungen für jedermann, das BOOKFEST. Auch dieses verzeichnete 25.000 BesucherInnen.

So schön das Interesse am Buchmarkt, so anstrengend ist aber auch das Publikumswochenende. Lange Schlangen an Damentoiletten und Essensständen, Stillstand in den Gängen, insbesondere in Hallen 3 und 4. Wer kann, kommt lieber an den Fachbesuchertagen, um entspannt an den Ständen zu stöbern. Zur Entzerrung hatte die Messe draußen neben Halle 1 dieses Jahr ein neues Bühnenareal aufgebaut. Das wurde durch den anhaltenden Regen leider etwas beeinträchtigt.

Erste Literaturgala

Elif Shafak
Die Messe wartete dieses Jahr mit einem neuen Abendformat auf, einer Literaturgala im Congress Center neben dem Messegelände. Die Tickets waren allgemein verkäuflich, mussten aber zusätzlich zum Messeeintritt erworben werden. Ich kam in den Genuss einer kostenlosen Pressekarte. Warum der Saal nicht ausverkauft war, ist mir unbegreiflich.

Die Veranstaltung war sehr hochkarätig besetzt und wirklich ein Genuss! Begeistert moderiert von den Journalisten Bärbel Schäfer und Thomas Böhm traten AutorInnen von Weltklasse auf – dabei kein/e deutsche/r SchriftstellerIn. Vielleicht haben wir keine solchen Stars. Egal.

Den Anfang machte die türkische Autorin Elif Shafak mit ihrem aktuellen Roman „Unerhörte Stimmen“. Shafak berichtete, dass sie sich in ihren Büchern bemühe, die Stimmen der Ungehörten hörbar zu machen, insbesondere die der Frauen. Ausgangspunkt ihres Romans ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Menschen im Sterbeprozess nach Aussetzen von Atmung und Herzschlag noch etwa 10 Minuten Bewusstsein und Hirntätigkeit haben können. Und so berichtet eine ermordete Sexarbeiterin von ihrer Geschichte, während ihr bewusst ist, dass sie bereits tot ist und ihr Herz nicht mehr schlägt. Skurrile Idee, klingt aber sehr spannend. Aufgrund ihrer gesellschaftskritischen Texte und der Reaktionen darauf in der Türkei lebt Shafak inzwischen in London.

Nach dem Interview folgte jeweils eine Lesung aus dem aktuellen Buch des Gastes auf Deutsch. Sehr gekonnt und engagiert las die Schauspielerin und Hörbuchsprecherin Nina Petri.

Colson Whitehead
Sodann folgte der mehrfach preisgekrönte (u.a. Pulitzerpreis 2017) US-amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead mit seinem Roman „Die Nickel Boys“. Sein Roman spielt in den 1960er Jahren und berichtet über das Schicksal eines schwarzen Jugendlichen, der in die „Nickel Academy“, eine Besserungsanstalt eingewiesen wird. Reales Vorbild dieser Einrichtung ist die „Dozier School for Boys“ in Florida, die von 1900 bis 2011 betrieben wurde. Whitehead berichtete von seiner Bestürzung über die Zustände in dieser Einrichtung, die ihn zum Schreiben veranlasst hätten. Die Anstalt war bereits kurz nach ihrer Eröffnung und seitdem immer wieder in die Kritik geraten aufgrund der körperlichen und seelischen Misshandlungen, insbesondere gegen schwarze Jugendliche. Nach Schließung der Einrichtung wurden diverse unmarkierte Gräber auf dem Gelände gefunden, in denen sich erschossene und anderweitig gewaltsam zu Tode gebrachte Insassen befanden.

Die deutsche Lesung wurde von einem besonderen Whitehead-Fan vorgetragen, dem Punkrocker Bela B. von den Ärzten. Rührend war der Moment, als Bela sich auf die Couch direkt neben sein Idol setze, ihm ein paar Fragen stellen und seine Verehrung mitteilen durfte. Ein Rocker mit weichem Herz!

Maja Lunde
Der nächste Gast war die Norwegerin Maja Lunde, bekannt durch „Die Geschichte der Bienen“, die ihren gerade erschienenen Roman „Die letzten ihrer Art“ mitbrachte. Es ist das dritte Buch in ihrem Umweltquartett. Nach den Bienen und dem Wasser widmet sich Lunde im neuen Buch dem Aussterben einer besonderen mongolischen Pferderasse, die mit vereinten Kräften gerade noch verhindert werden kann. Sie wies auf das derzeitige Massenartensterben hin und rief dazu auf, Tiere nicht aufgrund ihres Nutzens für den Menschen zu beurteilen, sondern als Wert um ihrer selbst willen. Sie schreibe Romane über Umweltthemen, da Sachbücher nur den Intellekt, Literatur aber die Seele erreichten. So sei ein Umdenken vielleicht eher möglich. (Den Roman werde ich in Kürze auf diesem Blog rezensieren.)

Ken Follet liest
Schlag auf Schlag folgte das britische Urgestein Ken Follet („Die Säulen der Erde“). Dieser trug selbst einen kurzen aktuellen Text auf Englisch vor. Im Übrigen wies er auf die „Friendship Tour“ hin, die er mit mehreren anderen AutorInnen alsbald beginnen werde. Er wolle vermeiden, dass Leserinnen und Leser aufgrund des Brexits dächten, die Briten schauten auf sie herab, weil sie dem europäischen Club nicht mehr angehören wollten. Auf der Tour solle nicht über Politik, sondern nur über Literatur gesprochen werden. Die Botschaft sei schlicht: „We still love you!“ Follets Fans feierten ihn mit regem Applaus.

Margaret Atwood
Last but not least betrat die unvergleichliche Margaret Atwood die Bühne. Ihr Roman „Die Zeuginnen“, Fortsetzung von „Der Report der Magd“ hat gerade den Booker Prize 2019 gewonnen. Erst im letzten Jahr war sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Die Kanadierin, die in wenigen Wochen ihren 80. Geburtstag feiern wird, war der absolute Star des Abends. Schlagfertig und witzig sprach sie im Interview über das neue Buch und die Lage der Welt. Sie habe sich nach so vielen Jahren zum Schreiben einer Fortsetzung des „Reports der Magd“ entschlossen, weil die veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse es erfordert hätten. Wer wisse schon, wie lange Menschen noch in der Lage seien zu lesen, Bücher besäßen oder die Welt überhaupt noch existiere. Da ihr Vater Biologe gewesen sei, habe sie sich schon seit den 1950er Jahren mit Umweltproblemen wie dem Klimawandel beschäftigt. Nur habe niemand etwas davon wissen wollen. Sie warnte vor Leugnern des Klimawandels – deutlicher Seitenhieb auf US-Präsident Donald Trump, ohne dessen Namen zu nennen. Man dürfe diese nicht wählen. Auch müssten die Rechte der Frauen verteidigt werden. Dieser tollen Frau könnte ich stundenlang zuhören. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht in ihrer herzlichen und klugen Art jedes Thema direkt und treffend an. Man muss sie einfach lieben.

Fazit: Ich musste alle anwesenden AutorInnen und alle ihre Bücher (nicht nur die aktuellen) auf meine Leseliste setzen. Ich bräuchte dann mal die nächsten paar Monate frei.

Zum Schluss

Natürlich hätte es noch sehr viel mehr zu berichten gegeben von Bloggertreffen, Verlagsvorschauen und wundervollen Kinderbüchern etc. Aber das würde den Rahmen sprengen. Am Messesamstag habe ich außerdem die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt besichtigt. Dieser werde ich in Kürze einen eigenen Artikel widmen.

Nach der Messe ist vor der Messe. Die nächste Frankfurter Buchmesse findet vom 14. bis 18. Oktober 2020 statt. Ehrengastland wird dann Kanada sein.

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