Samstag, 26. Juni 2021

Adas Raum, Sharon Dodua Otoo

Adas Raum ist ein komplexer Roman voller Andeutungen, der im wahrsten Sinne des Wortes Raum gibt. Raum für Interpretationen, Raum zum Ausfüllen. Daran hatte ich am Anfang ganz schön zu Knacken. Es ist ein feministischer Roman, der auf vier verschiedenen Zeitebenen spielt. Immer geht es um Ada. Ada ist eine Frau und gleichzeitig viele, sie ist sie selbst und sie ist jede von uns.

Eine Ada lebt 1459 in Ghana. Sie gehört zum Volk der Asante, auch Ashanti genannt. Ein Zitat in der Sprache dieses Volkes ist dem Roman vorangestellt. Ihr neugeborenes Kind ist gerade gestorben, als die Portugiesen in das Land kommen, um es zu kolonialisieren. Ein Reisigbesen, mit dem der Hof gefegt wird, mit dem Ada aber auch geschlagen wird, berichtet über sie.

Dann gibt es eine Ada, die ganz offensichtlich der Mathematikerin Ada Lovelace nachgebildet ist, die den ersten Computer erfand. Sie lebt 1848 in London, ist verheiratet und hat eine Affäre mit dem Schriftsteller Charles Dickens. Der Türklopfer an ihrer Haustür kommentiert das Geschehen.

Eine weitere Ada wird 1945 im KZ Mittelbau-Dora zur Prostitution gezwungen. Ihre Geschichte wird von dem Raum erzählt, in dem sie dieser Tätigkeit nachgehen muss, der alle Freier, aber auch Adas Freundin sieht und hört.

Zuletzt taucht eine Ada in der Jetztzeit in Berlin auf, die alleinstehend und schwanger bei ihrer Schwester lebt und eine eigene Wohnung sucht. Sie ist nicht gerade eine begehrte Mieterin. Ihr britischer Reisepass macht sich Gedanken über die Vorgänge und ist immer dabei.

Anscheinend handelt es sich um Zyklen der Wiedergeburt, denn immer wieder taucht eine Art Zwischenreich auf, in dem Gott selbst zu hören ist. Diese/r (Gott ist nicht männlich!) sorgt dafür, dass das immer gleiche Bewusstsein als unterschiedlicher Gegenstand auf die Welt kommt, der die unterschiedlichen Adas begleitet. In jeder Teilgeschichte spielt ein Armband mit 33 goldenen Perlen eine Rolle. Dessen Bedeutung bleibt der Leserin überlassen. Ist es ein spiritueller Gegenstand wie eine Gebetskette? Ist es ein Schatz des für den Goldhandel berühmten Ashantivolkes? Es kann alles sein. Es zieht sich wie ein roter Faden durch alle Geschichten, wandert von Ghana über England bis nach Deutschland, wo er als Raubkunst ausgestellt wird.

„Die Zeit war jedenfalls gekommen, um Ada daran zu erinnern, dass alle Wesen – vergangene, gegenwärtige und zukünftige – in Verbindung miteinander sind, dass wir es immer waren und immer sein werden. Die Botschaft kann erdrückend sein, wenn mensch meint, sie zum ersten Mal zu hören.“ (S. 127/128)

Allen Frauen gemeinsam ist, dass sie sich in schwierigen Lebensumständen in einer männerdominierten Gesellschaft befinden, in denen ihnen nicht der Respekt und der Lebensraum zur Entfaltung ihres Potenzials zur Verfügung steht. Manche der Adas sind schwarz und weisen auf die schlimmen Folgen von Kolonialismus und Rassismus hin. Das Buch hat ungewöhnliche Erzählperspektiven, von Menschen und Gegenständen. Die Sprache ist kreativ und vor allem Gottes Wortwahl ist sehr überraschend.

Die Geschichten sind traurig, manche gar tragisch. Einige Frauen erleiden schlimme Gewalt. Aber auch die anderen Frauen sind nicht immer so solidarisch, wie man es sich angesichts der schwierigen Umstände für alle wünschen würde. Dennoch scheint Gott – der übrigens berlinert – einen Plan zu haben. Ada soll etwas lernen. Aber was? Vielleicht wieviel besser das Leben sein könnte, wenn Frauen und Männer sich gegenseitig ausreichend Raum zur Entfaltung zugestehen würden? Wenn wir unsere Wurzeln achten und mit freudvollem Respekt behandeln würden z.B. die Kultur der Ashanti? Wenn wir unsere Vielfalt feiern und uns unterstützen statt bekämpfen würden? Das alles wird im Buch nicht ausgesprochen und es gibt weder richtige noch falsche Fragen oder Antworten zu diesem Text. Darauf muss man sich erstmal einlassen beim Lesen.

Ein interessantes und ungewöhnliches Buch, das nicht leicht zu lesen ist, aber sehr zum Nachdenken und Recherchieren über die Hintergründe anregt. Man braucht Zeit, es zu verdauen, aber das lohnt sich!

Adas Raum, Sharon Dodua Otoo, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 320 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Mittwoch, 23. Juni 2021

Auf Erden sind wir kurz grandios, Ocean Vuong

Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon/Vietnam geboren und wanderte mit zwei Jahren in die USA aus. Was er bei diesem Kulturwechsel erlebte, ist in seinen Debüt-Roman miteingeflossen.

Der Erzähler wird von seiner Familie „Little Dog“ genannt, nach der Vietnamesischen Tradition, das jüngste Familienmitglied durch einen hässlichen Namen vor bösen Geistern zu beschützen, damit sie es nicht holen kommen. Er verließ als Kind sein vom Krieg gebeuteltes Heimatland zusammen mit seiner Mutter und Großmutter. Der Krieg hat schwere Wunden bei den beiden Frauen geschlagen, die den Alltag der Familie prägen. Die Großmutter ist psychisch erkrankt und erlebt in Flashbacks ihre schrecklichen Erlebnisse immer wieder. Oft ist sie von der Realität nicht erreichbar. Die Mutter bringt sich und die Familie notdürftig durch mit ihrer Arbeit in einem Nagelstudio. Sie ist Analphabetin, spricht kaum Englisch und arbeitet wie so viele ihrer Landsleute in einem gesundheitsschädlichen Job.

„Ey.“ Der Junge mit den Hängebacken lehnte sich vor, sein Essigatem strich an meiner Wange entlang. „Kannst du überhaupt sprechen? Kannst du Englisch?“ Er packte meine Schulter und zerrte mich zu sich herum. „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.“

Er war erst neun, beherrschte aber schon die Mundart kaputter amerikanischer Väter. Die Jungs scharten sich, Unterhaltung witternd, um mich. Ich konnte ihre frisch gewaschenen Kleider riechen, den Lavendel und Flieder der Weichspüler.“ (S. 34)

In diesem Buch schreibt der Erzähler seiner Mutter einen Brief, den sie nie wird lesen können. Er schildert darin seine Sicht dieses Lebens mit seinen vielen Klippen. Er sagt das, wofür es zwischen Mutter und Sohn keine Worte gab. Zwar war der Vater der Mutter ein amerikanischer Soldat, doch ist er nicht präsent. Niemand hilft der Familie aus der sozialen Isolation und in die amerikanische Gesellschaft hinein. Der Erzähler ist schwul und lernt bei einer illegalen Erntetätigkeit seine erste große Liebe kennen. Auch Bildung erlangt er und beschäftigt sich ausführlich mit Literatur.

Die Geschichte ist anrührend, manchmal herzzerreißend, denn die Frauen sind mit dem Leben und der Verarbeitung des Krieges überfordert. Die Mutter gibt die erlebte Gewalt an den sensiblen Sohn weiter. Beide müssen die Großmutter beruhigen, wenn diese sich von vermeintlichen Bomben und Feinden bedroht fühlt. Neben diesen täglichen Schwierigkeiten und der ständigen Geldknappheit ist kein Platz, um über Homosexualität zu sprechen. Auch befürchtet der Erzähler, von seiner Mutter verstoßen zu werden. Er sehnt sich so sehr nach Liebe, die er bei dem jungen Mann zu finden hofft, den er in seinem Job kennenlernt. Die beiden Männer entdecken gemeinsam die Sexualität, aber auch die Scham und das Stigma des Schwulseins. Der Autor beschreibt die Gefühlswelt seines Erzählers sehr einfühlsam und nachvollziehbar in einer wunderschönen, bildreichen Sprache. Die Loyalität des Jungen zu seiner Familie ist enorm, seine Geduld fast grenzenlos. Er kennt es nicht anders, als dass Liebe und Schmerz miteinander einhergehen. So ist die Geschichte zugleich bedrückend und anrührend.

Ein nachdenklicher Roman über einen von Millionen Einwanderern in den USA, das Trauma des Vietnamkriegs, das bis heute fortwirkt und die Suche eines jungen schwulen Mannes nach Liebe und Identität. Er steht für die Geschichte so vieler Geflüchteter in aller Welt.

Auf Erden sind wir kurz grandios, Ocean Vuong, aus dem Englischen übersetzt von Anne-Kristin Mittag, Carl Hanser Verlag, München 2019, 270 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info:

Der Roman ist gerade als Taschenbuch bei btb erschienen und kostet 11,00 EUR.

Dienstag, 22. Juni 2021

Sieben Tage Windstille, Laure Limongi

Korsika – dorthin verschlägt uns dieser Roman. Eine Familiengeschichte zeigt die verschlungene Historie dieser Insel auf, zwischen Kolonialismus, Krieg und Unabhängigkeitsbewegung. Die Autorin wurde selbst 1976 auf Korsika geboren.

Im Mittelpunkt steht Huma, die seit ihrer Geburt ein schweres Erbe zu tragen hat. Dabei weiß sie nicht einmal, worum es geht. Es gibt ein Familiengeheimnis, für das sie anscheinend „geopfert“ werden soll. Als Erwachsene kommt sie vom Festland nach Korsika an den Ort ihrer Kindheit zurück um die Umstände zu ergründen.

Huma lebt als Kind mit ihren Eltern Lavi und Alice im Familienanwesen „Villa Alcyon“ auf Korsika. Im Obergeschoss wohnt May, ihre Großmutter väterlicherseits. May stammt aus der alten korsischen Familie der Pietris und heiratete Gabriel, den Spross der Benedetti-Familie. In diesen konservativen Kreisen ist Alice ein Fremdkörper, da ihre Eltern Findelkinder nicht näher bekannter Herkunft vom französischen Festland waren. Allerdings ist das nicht der einzige Grund, warum mancher die Nase über Alice rümpft. Schon die ersten Jahre in Humas Leben sind davon gezeichnet, dass ihre Bedürfnisse keine Rolle für die Erwachsenen spielen. Die Eltern sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch in ihrem sechsten Lebensjahr muss sie in den ersten Stock zu May ziehen und sogar das Bett mit ihr teilen. May bewacht und vereinnahmt das Kind, nörgelt an ihr herum und behandelt sie wie einen Hund. Warum lassen die Eltern das zu? Schließlich wissen sie, dass May ihre Schwiegertochter Alice hasst und dies nun ohne Scheu an Huma auslässt. Warum ist May derart bösartig?

„Wird Huma in der Schule nach den Berufen ihrer Eltern gefragt – auf den klassischen Frageborgen zu Anfang des Schuljahrs -, kennt sie sie nicht. Später wird sie denken, dass sie schon damals etwas hätte ahnen müssen. Aber wie? Welchen Maßstab sollte sie zugrunde legen?“ (S. 78)

Der Roman lässt uns teilhaben an Humas Entwicklung, in der sie sich von der Vergangenheit befreien will. In Rückblenden erfahren wir etwas über die Generation der Groß- und Urgroßeltern mit ihren persönlichen Verstrickungen. Huma fragt sich, welche schrecklichen Umstände so viel Gewalt und Unterdrückung in ihrer Kindheit rechtfertigen könnten. Und wie sie ihre Identität bewahren, aber Fehler und überkommene Vorstellungen der vorigen Generationen ablegen kann. Als erste in der Familie läuft sie nicht weg, sondern stellt sich diesen Fragen, durchbricht die Sprachlosigkeit.

Die Geschichte ist sehr spannungsvoll geschrieben. Kleine Andeutungen bringen die Leserin auf die Spur des Familiengeheimnisses. Empathisch ist Humas Charakter geschildert, so dass ich mit ihr mitgelitten und sie innerlich angefeuert habe, sich unabhängig von den Erwachsenen zu machen. Die beschriebenen dysfunktionalen Familienstrukturen dürften gar nicht so selten sein. Ungewöhnlich ist aber die Strenge, mit der die Familie versucht die Fassade aufrecht zu erhalten. Ich habe den Roman an zwei Tagen eingeatmet.

Bemerkenswert ist die wunderschöne Sprache des Buches, die alle Sinne anspricht. Das alte Haus „kommuniziert“ mit der Außenwelt, im Marmor der Treppe sind Gestalten zu erahnen. Die Autorin benutzt originelle Bilder, die mir sehr gefallen, z.B. dies:

„Humas Körper ist ein kleines Etwas, das riecht wie ein minimal zu lang gebackener Kuchen. Süß und rauchig. Duftend und schön angerichtet.“ (S. 29)

Eine spannende Familiengeschichte, eingebettet in die Geschichte Korsikas, die den Leser gefangen nimmt. Für mich ein Pageturner.

Sieben Tage Windstille, Laure Limongi, aus dem Französischen übersetzt von Valerie Schneider, mareverlag, Hamburg 2021, 272 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Just Mary, Paola Morpheus

Mit einem Comic macht Maria, die Mutter Gottes, dem lieben Gott und der katholischen Kirche quasi die Hölle heiß. Sie legt den Finger in die...