Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon/Vietnam geboren und wanderte mit zwei Jahren in die USA aus. Was er bei diesem Kulturwechsel erlebte, ist in seinen Debüt-Roman miteingeflossen.
Der Erzähler wird von seiner Familie „Little Dog“ genannt, nach der Vietnamesischen Tradition, das jüngste Familienmitglied durch einen hässlichen Namen vor bösen Geistern zu beschützen, damit sie es nicht holen kommen. Er verließ als Kind sein vom Krieg gebeuteltes Heimatland zusammen mit seiner Mutter und Großmutter. Der Krieg hat schwere Wunden bei den beiden Frauen geschlagen, die den Alltag der Familie prägen. Die Großmutter ist psychisch erkrankt und erlebt in Flashbacks ihre schrecklichen Erlebnisse immer wieder. Oft ist sie von der Realität nicht erreichbar. Die Mutter bringt sich und die Familie notdürftig durch mit ihrer Arbeit in einem Nagelstudio. Sie ist Analphabetin, spricht kaum Englisch und arbeitet wie so viele ihrer Landsleute in einem gesundheitsschädlichen Job.
„Ey.“ Der Junge mit den Hängebacken lehnte sich vor, sein Essigatem strich an meiner Wange entlang. „Kannst du überhaupt sprechen? Kannst du Englisch?“ Er packte meine Schulter und zerrte mich zu sich herum. „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.“
Er war erst neun, beherrschte aber schon die Mundart kaputter amerikanischer Väter. Die Jungs scharten sich, Unterhaltung witternd, um mich. Ich konnte ihre frisch gewaschenen Kleider riechen, den Lavendel und Flieder der Weichspüler.“ (S. 34)
In diesem Buch schreibt der Erzähler seiner Mutter einen Brief, den sie nie wird lesen können. Er schildert darin seine Sicht dieses Lebens mit seinen vielen Klippen. Er sagt das, wofür es zwischen Mutter und Sohn keine Worte gab. Zwar war der Vater der Mutter ein amerikanischer Soldat, doch ist er nicht präsent. Niemand hilft der Familie aus der sozialen Isolation und in die amerikanische Gesellschaft hinein. Der Erzähler ist schwul und lernt bei einer illegalen Erntetätigkeit seine erste große Liebe kennen. Auch Bildung erlangt er und beschäftigt sich ausführlich mit Literatur.
Die Geschichte ist anrührend, manchmal herzzerreißend, denn die Frauen sind mit dem Leben und der Verarbeitung des Krieges überfordert. Die Mutter gibt die erlebte Gewalt an den sensiblen Sohn weiter. Beide müssen die Großmutter beruhigen, wenn diese sich von vermeintlichen Bomben und Feinden bedroht fühlt. Neben diesen täglichen Schwierigkeiten und der ständigen Geldknappheit ist kein Platz, um über Homosexualität zu sprechen. Auch befürchtet der Erzähler, von seiner Mutter verstoßen zu werden. Er sehnt sich so sehr nach Liebe, die er bei dem jungen Mann zu finden hofft, den er in seinem Job kennenlernt. Die beiden Männer entdecken gemeinsam die Sexualität, aber auch die Scham und das Stigma des Schwulseins. Der Autor beschreibt die Gefühlswelt seines Erzählers sehr einfühlsam und nachvollziehbar in einer wunderschönen, bildreichen Sprache. Die Loyalität des Jungen zu seiner Familie ist enorm, seine Geduld fast grenzenlos. Er kennt es nicht anders, als dass Liebe und Schmerz miteinander einhergehen. So ist die Geschichte zugleich bedrückend und anrührend.
Ein nachdenklicher Roman über einen von Millionen Einwanderern in den USA, das Trauma des Vietnamkriegs, das bis heute fortwirkt und die Suche eines jungen schwulen Mannes nach Liebe und Identität. Er steht für die Geschichte so vieler Geflüchteter in aller Welt.
Auf Erden sind wir kurz grandios, Ocean Vuong, aus dem Englischen übersetzt von Anne-Kristin Mittag, Carl Hanser Verlag, München 2019, 270 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
Zusatz-Info:
Der Roman ist gerade als Taschenbuch bei btb erschienen und kostet 11,00 EUR.
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