In seinem neusten Roman beschäftigt sich Kazuo Ishiguro mit
einer technischen Zukunft und einer Gesellschaftsordnung, die gar nicht allzu
fern und unrealistisch erscheint. Die Geschichte ist wohl in den USA
angesiedelt. Im Zentrum steht die Ich-Erzählerin Klara. Und bereits hier stocke
ich. Denn es geht im Kern darum, ob Klara tatsächlich ein Ich ist, eine Person.
Eigentlich ist Klara eine Art menschlich aussehender Roboter. Man nennt diese
Gattung KF, Künstliche Freundin / Künstlicher Freund. Es gibt männliche und
weibliche Exemplare dieser künstlichen Intelligenzen, die in speziellen Läden
verkauft werden. Man kauft sie für Kinder und Jugendliche, um diese vor Einsamkeit
zu schützen.
Die Notwendigkeit solcher Künstlichen Freunde besteht, weil
Kinder kaum noch mit anderen Kindern zusammenkommen, also keine echten, menschlichen
Freunde mehr haben. Ishiguro beschreibt eine Gesellschaft, in der es keine
Schulen mehr gibt und auch die Erwerbsarbeit zu großen Teilen von Robotern
übernommen wird. So gibt es nicht mehr viel Raum für natürliche menschliche
Interaktion.
Die Menschen sind daran gewöhnt, sich menschlich aussehende
Freunde kaufen zu können. Manche behaupten, der Mensch habe nichts
Außergewöhnliches wie ein Herz, das ihn unverwechselbar macht und was ein Roboter
nicht erlernen könnte. Die KF’s sind so intelligent, dass sie selbsttätig
ständig dazu lernen. Manche behaupten, sie hätten keine Gefühle. Aber stimmt
das? Immerhin haben sie ein Bewusstsein, denn wie könnte Klara sonst von ihrem
Dasein erzählen. Sie weiß, dass sie eine Art Gebrauchsgegenstand ist. Aber kann
eine künstliche Intelligenz vielleicht auch lernen Emotionen zu haben?
„Aber je mehr ich zu sehen bekam, desto mehr wollte ich
lernen und erfahren, und anders als Rosa war ich erst verwundert, dann
zunehmend fasziniert von den oft rätselhaften Gefühlen, die die Vorbeigehenden
zeigten. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich diese mysteriösen Zusammenhänge
nicht wenigstens teilweise durchschaute, nie imstande wäre, mein zukünftiges Kind
so zu unterstützen, wie es sich gehörte.“ (S. 27)
Der Roman hat von Beginn an eine hintergründige Spannung, da
die Leserin erst nach und nach erfährt, um was für eine Welt es sich handelt.
Die Stimmung erinnerte mich stark an Ishiguros „Alles, was wir geben mussten“. Ähnlich
wie im letztgenannten Buch geht es um die Frage, was genau das Menschsein ausmacht. Gibt
es überhaupt echte Individualität oder eine Seele, ohne dass man dazu die
Religion bemühen muss?
Daneben wird eine Art Freizeitgesellschaft thematisiert, in
der Kinder individuell und nicht in Gruppen lernen und Erwachsene ihren Tag
ohne Erwerbsarbeit gestalten können. Was zunächst verlockend klingt, hat eine dunkle
Kehrseite. Denn manche Menschen leben weit außerhalb von Städten oder innerhalb
geschlossener Gemeinschaften in Städten, weil sie sich vom Rest der Gesellschaft
bedroht fühlen. Elitendenken scheint eine Rolle zu spielen. Der Mensch konkurriert
mit den Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz. Grob gesagt geht es um eine
entmenschlichte Gesellschaft.
Im typischen Ishiguro-Sound webt der Autor eine neue Welt
und feinste Stimmungen zusammen, die mich schon auf den ersten Seiten
eingesogen haben. Er erhält die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite
aufrecht, da man sofort mitten hineingeworfen wird in eine nur nach und nach erklärte
Umgebung. Alles erscheint normal zu sein, wäre da nicht dieser untergründige
Missklang, ein Unbehagen, das die Leserin erst viel später benennen kann. Die
aufgeworfenen Fragen sind philosophisch höchst relevant. Bereits heute gibt es
Roboter, die Pflegekräfte bei der Betreuung alter Menschen unterstützen und
Kommunikation und Mitgefühl zumindest simulieren. Ebenso kennt man in Japan
schon länger elektronische Haustiere, die alleinstehenden Menschen Gesellschaft
leisten, aber auch die Funktion eines Notfallknopfes haben, falls jemand
ärztliche Hilfe braucht. Welchen Teil des menschlichen Lebens wollen wir Maschinen
überlassen, weil uns die Menschen fehlen oder zu teuer sind, die diese
Tätigkeiten sonst verrichten müssten? Und wie weit können wir dabei gehen, ohne
unser Menschsein zu verlieren und durch Einsamkeit zu erkranken?
Ishiguro thematisiert
spannend und feinsinnig die Frage nach dem Kern des Menschseins und dem derzeit
für viele vorherrschenden Gefühl der Einsamkeit. Dieses Buch weckt sofort den Wunsch,
einen Menschen aus Fleisch und Blut fest in die Arme zu schließen und trifft einen
Nerv in dieser Zeit.
Klara und die Sonne, Kazuo Ishiguro, aus dem Englischen
übersetzt von Barbara Schaden, Karl Blessing Verlag, München 2021, 352 Seiten, 24,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)