Freitag, 30. April 2021

Adressat unbekannt, Kathrine Kressmann Taylor

Dieser kurze Briefroman wurde erstmals 1938 in der amerikanischen Zeitschrift „Story“ veröffentlicht. Der Text selbst umfasst nur ca. 55 Seiten und lässt sich gut in einer Stunde lesen. Das muss man auch, denn das Buch entfaltet sofort eine Sogwirkung, die einen nicht mehr innehalten lässt. Ich habe selten einen so kurzen Text mit so großer Wucht gelesen.

Es handelt sich um einen fiktiven Briefwechsel zwischen Max Eisenstein in San Francisco und seinem Geschäftspartner Martin Schulse, der aus San Francisco in seine Heimat München zurückgekehrt ist. Beide betreiben gemeinsam die Kunstgalerie Schulse-Eisenstein in San Francisco, als Martin mit seiner Familie im November 1932 nach Deutschland übersiedelt. Die beiden Männer in ihren Vierzigern sind einander herzlich zugetan und innig befreundet. Doch alles ändert sich, als Hitler Reichskanzler wird und Martin mit dessen Ideen in Kontakt kommt. Max ist Jude, Martin nicht.

„Lieber alter Max,

Du hast bestimmt von den neuen Ereignissen in Deutschland gehört und wirst wissen wollen, wie es sich für uns aus der Innensicht darstellt. Um die Wahrheit zu sagen, Max, ich glaube, dass Hitler in einiger Hinsicht gut für Deutschland ist, aber sicher bin ich mir nicht. (…) Der Mann ist wie ein elektrischer Schock, so stark, wie nur ein begnadeter Redner oder Fanatiker es sein kann.“ (S. 21/22)

Erschreckend real ist den Briefen Martins Wandlung zu entnehmen. Aus Freunden werden Feinde. Max kann es nicht glauben, bis immer schrecklichere Nachrichten aus Deutschland kommen. Doch Max hält die Veränderung seines Freundes nicht einfach aus. Er handelt.

Der Band wird abgerundet durch ein Nachwort von Louis Rosenthal, Herausgeberin der Zeitschrift „Story“, sowie ein weiteres von Elke Heidenreich, welche die Bedeutung des Romans historisch einordnen.

Dieser kurze Roman zeigt in unvergleichlicher Art, wie groß die Macht von Worten ist. Sowohl die Macht der Propaganda, als auch die Macht der Worte, die man ihr entgegensetzen kann. Unbedingt zu empfehlen!

Adressat unbekannt, Kathrine Kressmann Taylor, aus dem Amerikanischen übersetzt von Dorothee Böhm, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000, 80 Seiten

(Die Rechte am Cover stehen dem Verlag zu.)

Montag, 26. April 2021

Über Menschen, Juli Zeh

Wie schon in ihrem Erfolgsroman „Unterleuten“ nimmt Juli Zeh uns auch in ihrem neusten Buch mit nach Brandenburg, in das kleine Provinznest Bracken. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Dora, die zu Beginn der Coronakrise im Frühjahr 2020 von Berlin nach Brandenburg zieht. Ihren Job in der Werbeagentur kann sie auch von zuhause aus machen. Es ist nicht nur der Lockdown, der sie aufs Land treibt. Auch in ihrer Beziehung zu Robert hält sie nichts mehr. Als Klimaschützer war er im Alltag schon manchmal anstrengend. Aber seit Ausbruch der Pandemie werden seine Ansichten beklemmend einengend. Dora kratzt ihr Geld zusammen und kauft ohne sein Wissen ein Haus, das sie sich leisten kann, nimmt ihre Hündin Jochen und ansonsten nur das Nötigste mit und übersiedelt nach Bracken.

Idylle sieht anders aus. Haus und Grundstück sind verwahrlost, der nächste Laden kilometerweit weg. Dora hat weder ein Auto noch landwirtschaftliche Erfahrung. Am schlimmsten aber ist ihr Nachbar! Sein kahlgeschorener Kopf reckt sich eines Tages über die Grundstücksmauer und gibt unfreundliche Dinge über den „Scheißköter“ von sich. Er stellt sich als „Gote“ vor.

„Angenehm“, sagt Gote. „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“.

In der Agentur entwickeln sie ständig solche Szenen. Junge Frau, die aufs Land gezogen ist. Leicht verunsichert von der neuen Umgebung, aber fest gewillt, alles toll zu finden. Trifft ihren neuen Nachbarn. „Angenehm, ich bin hier der Dorf-Nazi“ – und freeze. Die Szene friert ein. Langsamer Zoom auf das völlig entgeisterte Gesicht der Hauptdarstellerin, die vor Entsetzen zur Wachsfigur erstarrt ist. Quer darüber der von Dora entwickelte Claim: „Neue Challenge – neuer Chill“. Für Tee. Oder ein Hustenbonbon. (S. 45)

Die Sache ist klar. Mit Nazis will Dora nichts zu tun haben. Im Dorf scheint es noch mehr seltsame Leute zu geben. Von Political Correctness hat noch keiner etwas gehört. Das schwule Pärchen die Straße hoch beschäftigt Gastarbeiter, beutet sie aber nicht aus – oder?? Mehr und mehr merkt Dora, dass es doch gar nicht so einfach ist. Die Dinge sind mit ihren festen Überzeugungen und Prinzipien nicht in den Griff zu kriegen. Der Nazi macht manchmal nette Sachen. Außerdem hat er eine kleine Tochter, die während der Schulschließung in Berlin bei ihm wohnt. Die beiden schwulen Männer sind nicht die Gutmenschen, für die Dora sie zuerst gehalten hat, aber ganz übel sind sie auch nicht.

Der Roman bildet die mehr als komplizierte Gegenwart ab. Menschen und gesellschaftliche Zustände lassen sich nicht einfach in Gut und Böse einteilen. Sie sind widersprüchlich. In einem kleinen Dorf abseits jeglicher Infrastruktur kann keiner ohne den anderen auskommen, das merkt Dora bald. Und trotz aller Animositäten verhalten sich die Dorfbewohner entsprechend. Dora muss die Widersprüchlichkeiten des Lebens aushalten. Sie kann nicht einfach den Kontakt zu jedem vermeiden, an dem sie etwas stört. Und dann ist da noch Gotes kleine Tochter, die einen etwas verwahrlosten Eindruck macht und einen Narren an Doras Hündin gefressen hat. So ein Kind kann schließlich nichts dafür, dass ihr Vater ein Nazi ist. Und so wachsen Beziehungen zwischen Dora und den Bewohnern von Bracken, die sie vorher nicht für möglich gehalten hätte.

Mir hat die Geschichte mit all ihren unperfekten, schrulligen Menschen gefallen. Sie drückt die Verwirrung aus, die viele von uns jetzt empfinden. Wem soll man noch glauben? Was ist richtig und falsch? Wohin entwickelt sich die Welt in der Pandemie, wie soll man sein Leben planen? Der Roman zeigt die Grenzen intellektueller Konzepte auf in einer Zeit, in der man manchmal nur von Tag zu Tag entscheiden kann, was heute zu tun ist.  

Ein Roman, der das Klischee des „rechtsradikalen Ostens“ beleuchtet und die komplexe Wirklichkeit in der Coronapandemie widerspiegelt. Eine realistische Geschichte über die menschliche Widersprüchlichkeit, die wir manchmal einfach nur aushalten können, ohne sie zu verändern.

Über Menschen, Juli Zeh, Luchterhand Literaturverlag, München 2021, 416 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Sonntag, 18. April 2021

Klara und die Sonne, Kazuo Ishiguro

In seinem neusten Roman beschäftigt sich Kazuo Ishiguro mit einer technischen Zukunft und einer Gesellschaftsordnung, die gar nicht allzu fern und unrealistisch erscheint. Die Geschichte ist wohl in den USA angesiedelt. Im Zentrum steht die Ich-Erzählerin Klara. Und bereits hier stocke ich. Denn es geht im Kern darum, ob Klara tatsächlich ein Ich ist, eine Person. Eigentlich ist Klara eine Art menschlich aussehender Roboter. Man nennt diese Gattung KF, Künstliche Freundin / Künstlicher Freund. Es gibt männliche und weibliche Exemplare dieser künstlichen Intelligenzen, die in speziellen Läden verkauft werden. Man kauft sie für Kinder und Jugendliche, um diese vor Einsamkeit zu schützen.

Die Notwendigkeit solcher Künstlichen Freunde besteht, weil Kinder kaum noch mit anderen Kindern zusammenkommen, also keine echten, menschlichen Freunde mehr haben. Ishiguro beschreibt eine Gesellschaft, in der es keine Schulen mehr gibt und auch die Erwerbsarbeit zu großen Teilen von Robotern übernommen wird. So gibt es nicht mehr viel Raum für natürliche menschliche Interaktion.

Die Menschen sind daran gewöhnt, sich menschlich aussehende Freunde kaufen zu können. Manche behaupten, der Mensch habe nichts Außergewöhnliches wie ein Herz, das ihn unverwechselbar macht und was ein Roboter nicht erlernen könnte. Die KF’s sind so intelligent, dass sie selbsttätig ständig dazu lernen. Manche behaupten, sie hätten keine Gefühle. Aber stimmt das? Immerhin haben sie ein Bewusstsein, denn wie könnte Klara sonst von ihrem Dasein erzählen. Sie weiß, dass sie eine Art Gebrauchsgegenstand ist. Aber kann eine künstliche Intelligenz vielleicht auch lernen Emotionen zu haben?

„Aber je mehr ich zu sehen bekam, desto mehr wollte ich lernen und erfahren, und anders als Rosa war ich erst verwundert, dann zunehmend fasziniert von den oft rätselhaften Gefühlen, die die Vorbeigehenden zeigten. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich diese mysteriösen Zusammenhänge nicht wenigstens teilweise durchschaute, nie imstande wäre, mein zukünftiges Kind so zu unterstützen, wie es sich gehörte.“ (S. 27)

Der Roman hat von Beginn an eine hintergründige Spannung, da die Leserin erst nach und nach erfährt, um was für eine Welt es sich handelt. Die Stimmung erinnerte mich stark an Ishiguros „Alles, was wir geben mussten“. Ähnlich wie im letztgenannten Buch geht es um die Frage, was genau das Menschsein ausmacht. Gibt es überhaupt echte Individualität oder eine Seele, ohne dass man dazu die Religion bemühen muss?

Daneben wird eine Art Freizeitgesellschaft thematisiert, in der Kinder individuell und nicht in Gruppen lernen und Erwachsene ihren Tag ohne Erwerbsarbeit gestalten können. Was zunächst verlockend klingt, hat eine dunkle Kehrseite. Denn manche Menschen leben weit außerhalb von Städten oder innerhalb geschlossener Gemeinschaften in Städten, weil sie sich vom Rest der Gesellschaft bedroht fühlen. Elitendenken scheint eine Rolle zu spielen. Der Mensch konkurriert mit den Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz. Grob gesagt geht es um eine entmenschlichte Gesellschaft.

Im typischen Ishiguro-Sound webt der Autor eine neue Welt und feinste Stimmungen zusammen, die mich schon auf den ersten Seiten eingesogen haben. Er erhält die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite aufrecht, da man sofort mitten hineingeworfen wird in eine nur nach und nach erklärte Umgebung. Alles erscheint normal zu sein, wäre da nicht dieser untergründige Missklang, ein Unbehagen, das die Leserin erst viel später benennen kann. Die aufgeworfenen Fragen sind philosophisch höchst relevant. Bereits heute gibt es Roboter, die Pflegekräfte bei der Betreuung alter Menschen unterstützen und Kommunikation und Mitgefühl zumindest simulieren. Ebenso kennt man in Japan schon länger elektronische Haustiere, die alleinstehenden Menschen Gesellschaft leisten, aber auch die Funktion eines Notfallknopfes haben, falls jemand ärztliche Hilfe braucht. Welchen Teil des menschlichen Lebens wollen wir Maschinen überlassen, weil uns die Menschen fehlen oder zu teuer sind, die diese Tätigkeiten sonst verrichten müssten? Und wie weit können wir dabei gehen, ohne unser Menschsein zu verlieren und durch Einsamkeit zu erkranken?

Ishiguro thematisiert spannend und feinsinnig die Frage nach dem Kern des Menschseins und dem derzeit für viele vorherrschenden Gefühl der Einsamkeit. Dieses Buch weckt sofort den Wunsch, einen Menschen aus Fleisch und Blut fest in die Arme zu schließen und trifft einen Nerv in dieser Zeit.

Klara und die Sonne, Kazuo Ishiguro, aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden, Karl Blessing Verlag, München 2021, 352 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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