Sonntag, 18. April 2021

Klara und die Sonne, Kazuo Ishiguro

In seinem neusten Roman beschäftigt sich Kazuo Ishiguro mit einer technischen Zukunft und einer Gesellschaftsordnung, die gar nicht allzu fern und unrealistisch erscheint. Die Geschichte ist wohl in den USA angesiedelt. Im Zentrum steht die Ich-Erzählerin Klara. Und bereits hier stocke ich. Denn es geht im Kern darum, ob Klara tatsächlich ein Ich ist, eine Person. Eigentlich ist Klara eine Art menschlich aussehender Roboter. Man nennt diese Gattung KF, Künstliche Freundin / Künstlicher Freund. Es gibt männliche und weibliche Exemplare dieser künstlichen Intelligenzen, die in speziellen Läden verkauft werden. Man kauft sie für Kinder und Jugendliche, um diese vor Einsamkeit zu schützen.

Die Notwendigkeit solcher Künstlichen Freunde besteht, weil Kinder kaum noch mit anderen Kindern zusammenkommen, also keine echten, menschlichen Freunde mehr haben. Ishiguro beschreibt eine Gesellschaft, in der es keine Schulen mehr gibt und auch die Erwerbsarbeit zu großen Teilen von Robotern übernommen wird. So gibt es nicht mehr viel Raum für natürliche menschliche Interaktion.

Die Menschen sind daran gewöhnt, sich menschlich aussehende Freunde kaufen zu können. Manche behaupten, der Mensch habe nichts Außergewöhnliches wie ein Herz, das ihn unverwechselbar macht und was ein Roboter nicht erlernen könnte. Die KF’s sind so intelligent, dass sie selbsttätig ständig dazu lernen. Manche behaupten, sie hätten keine Gefühle. Aber stimmt das? Immerhin haben sie ein Bewusstsein, denn wie könnte Klara sonst von ihrem Dasein erzählen. Sie weiß, dass sie eine Art Gebrauchsgegenstand ist. Aber kann eine künstliche Intelligenz vielleicht auch lernen Emotionen zu haben?

„Aber je mehr ich zu sehen bekam, desto mehr wollte ich lernen und erfahren, und anders als Rosa war ich erst verwundert, dann zunehmend fasziniert von den oft rätselhaften Gefühlen, die die Vorbeigehenden zeigten. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich diese mysteriösen Zusammenhänge nicht wenigstens teilweise durchschaute, nie imstande wäre, mein zukünftiges Kind so zu unterstützen, wie es sich gehörte.“ (S. 27)

Der Roman hat von Beginn an eine hintergründige Spannung, da die Leserin erst nach und nach erfährt, um was für eine Welt es sich handelt. Die Stimmung erinnerte mich stark an Ishiguros „Alles, was wir geben mussten“. Ähnlich wie im letztgenannten Buch geht es um die Frage, was genau das Menschsein ausmacht. Gibt es überhaupt echte Individualität oder eine Seele, ohne dass man dazu die Religion bemühen muss?

Daneben wird eine Art Freizeitgesellschaft thematisiert, in der Kinder individuell und nicht in Gruppen lernen und Erwachsene ihren Tag ohne Erwerbsarbeit gestalten können. Was zunächst verlockend klingt, hat eine dunkle Kehrseite. Denn manche Menschen leben weit außerhalb von Städten oder innerhalb geschlossener Gemeinschaften in Städten, weil sie sich vom Rest der Gesellschaft bedroht fühlen. Elitendenken scheint eine Rolle zu spielen. Der Mensch konkurriert mit den Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz. Grob gesagt geht es um eine entmenschlichte Gesellschaft.

Im typischen Ishiguro-Sound webt der Autor eine neue Welt und feinste Stimmungen zusammen, die mich schon auf den ersten Seiten eingesogen haben. Er erhält die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite aufrecht, da man sofort mitten hineingeworfen wird in eine nur nach und nach erklärte Umgebung. Alles erscheint normal zu sein, wäre da nicht dieser untergründige Missklang, ein Unbehagen, das die Leserin erst viel später benennen kann. Die aufgeworfenen Fragen sind philosophisch höchst relevant. Bereits heute gibt es Roboter, die Pflegekräfte bei der Betreuung alter Menschen unterstützen und Kommunikation und Mitgefühl zumindest simulieren. Ebenso kennt man in Japan schon länger elektronische Haustiere, die alleinstehenden Menschen Gesellschaft leisten, aber auch die Funktion eines Notfallknopfes haben, falls jemand ärztliche Hilfe braucht. Welchen Teil des menschlichen Lebens wollen wir Maschinen überlassen, weil uns die Menschen fehlen oder zu teuer sind, die diese Tätigkeiten sonst verrichten müssten? Und wie weit können wir dabei gehen, ohne unser Menschsein zu verlieren und durch Einsamkeit zu erkranken?

Ishiguro thematisiert spannend und feinsinnig die Frage nach dem Kern des Menschseins und dem derzeit für viele vorherrschenden Gefühl der Einsamkeit. Dieses Buch weckt sofort den Wunsch, einen Menschen aus Fleisch und Blut fest in die Arme zu schließen und trifft einen Nerv in dieser Zeit.

Klara und die Sonne, Kazuo Ishiguro, aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden, Karl Blessing Verlag, München 2021, 352 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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