Samstag, 17. Juni 2023

Die Ursache, Thomas Bernhard, Lukas Kummer (Graphic Novel)

Der Autor Thomas Bernhard ist nicht gerade als Menschenfreund bekannt. Er grantelte auch permanent über seine Heimat Österreich. Nach der Lektüre von „Die Ursache“ wundert mich beides nicht mehr. Bernhard berichtet darin autobiographisch über seine Internatszeit in Salzburg in den 1940er Jahren. (Der Text erschien erstmals 1975.) Lukas Kummer hat daraus eine Graphic Novel mit großer Wucht gemacht.

Die in Grauschattierungen gehaltenen Zeichnungen schleudern der Leserin die Einförmigkeit des Alltags, die Gewalt und die Verzweiflung eines Kindes wie einen Schlag ins Gesicht entgegen. Ich habe das Buch in einem Zug gelesen und musste es danach erstmal sacken lassen. Der Teenager Thomas ergeht sich über Jahre in permanenten Selbstmordgedanken – und wer könnte es ihm verdenken. Er kann nicht begreifen, dass Menschen, die ihn lieben, ihn einer solchen grausamen Umgebung wie dem Internat ausliefern. Er wird grundlos geschlagen von einem SA-Offizier, gemobbt von stärkeren Schülern, gedrillt wie auf einem Kasernenhof. Dazu kommt der Bombenterror zwischen 1943 und 1944, vor dem die Schüler Schutz in Stollen unter der Erde suchen, die jedoch so eng sind, dass Menschen darin ersticken. Der Kriegsalltag ist buchstäblich mit Leichen gepflastert, die nach den Angriffen überall sichtbar herumliegen.

Als der Krieg vorbei und das Internat geschlossen ist, hofft Thomas auf eine Verbesserung. Vergeblich, denn das Nazi-Internat wird von der katholischen Kirche übernommen. Das Erschreckende ist, dass sich der Alltag in der Schule dadurch so gut wie gar nicht verändert. Es wird nur einem anderen Herrn gehuldigt. Die Gewalt bleibt. Der Junge ist gebrochen und kommt zu einem nachvollziehbaren Schluss:

„… betrachtete die Schule bald nurmehr noch instinktiv als das, was sie heute bei klarem Verstand für mich ist, eine Geistesvernichtungsanstalt.“ (S. 96/97)

Bernhards Urteil über die Natur des Menschen, das er sich in seiner Schulzeit bildete, fällt vernichtend aus:

„Zuerst wird der Mensch, und der Vorgang ist ein tierischer, erzeugt und geboren wie ein Tier und immer animalisch behandelt, (…), von den durch und durch stumpfsinnigen, unaufgeklärten, ihre egoistischen Zwecke verfolgenden Erzeugern als Eltern oder ihren Stellvertretern aus ihrem eigenen Mangel an tatsächlicher Liebe und Erziehungskenntnis und -bereitschaft stumpfsinnig und egoistisch wie ein Tier gefüttert und behandelt und nach und nach in seinen hauptsächlichen Gefühls- und Nervenzentren eingeebnet und gestört und zerstört, und dann (…) übernimmt die Kirche (…) die Vernichtung der Seele des neuen Menschen, und die Schulen begehen im Auftrag und auf Befehl der Regierungen (…) den Geistesmord.“ (S. 67/68)

Unterlegt ist der eben zitierte Satz von Bildern eines Mannes, der ein Kind schlägt, über viele Bilderfolgen lang einfach schlägt.

Die Graphic Novel von Lukas Kummer erleichtert die Lektüre von Thomas Bernhards sonst schwer zu lesendem Text und fügt ihm eine enorme Tiefe und Erlebbarkeit durch die einfachen, aber extrem eindrucksvollen Zeichnungen hinzu. Das Thema der Traumatisierung durch Gewalt und Institutionen ist nach wie vor aktuell. Das Buch ist schnell zu lesen, um lange nachzuwirken!

Die Ursache, Thomas Bernhard, Graphic Novel gezeichnet von Lukas Kummer, Residenz Verlag, Salzburg, 2018, 112 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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