Wir lauschen dem Gedankenfluss des Erzählers 80 Seiten lang, unterbrochen nur von kurzen Dialogen, denn er kann sich nur seiner Ehefrau wirklich mitteilen. Er berichtet ihr und schließlich einem Arzt von seinen Befürchtungen, aber sie nehmen ihn nicht ernst. Er spricht von der moralischen Verpflichtung, die uns alle trifft, in das Weltgeschehen einzugreifen – und tut es selbst doch nicht.
„Die Kinder dort: Sie sind alle gleich. Sie sind von der Natur alle gleich gut gemacht. Und das denken die auch von sich selbst, gegenseitig: Wir sind alle gleich. (…) Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Weil ich weiß, welche Eltern zu welchem Kind gehören. Und deshalb weiß ich auch, wer von denen einmal in den Chefetagen ein- und ausgehen und wer von ihnen öffentliche Toiletten reinigen wird. (…) Und es treibt mich um. (…) Höre auf, deshalb gleich von Sozialismus zu sprechen! (…) Kannst du das nicht einfach mal so stehenlassen? Als Abfolge von Wörtern so stehenlassen, ohne sie sogleich unter dem Schutt deiner Lebensgeschichte wieder verschwinden zu lassen? Hör zu: Da braut sich was zusammen.“ (S. 16)
Zu Anfang dieses sehr handlungsarmen Romans legt der
Erzähler den Finger in manche gesellschaftliche Wunde. Uns alle sollte das
Schicksal anderer Menschen mehr kümmern, unserer Nachbarn im Haus genauso wie das
der Mitmenschen in anderen Erdteilen. Aber mehr und mehr scheint der Erzähler
irre zu werden an sich selbst. Er formuliert Handlungspflichten, möchte andere
auf die Misere aufmerksam machen, und hält sich doch immer wieder selbst zurück
mit dem Gedanken, was denn die Leute denken sollen, wenn man als Fremder sie
einfach anspräche. Schlimme Dinge geschehen, manchmal im direkten Umfeld des
Erzählers, manchmal in den Nachrichten. Er ringt mit sich, gerät dabei aber
immer mehr in redundante Gedankenschleifen. Das ist manchmal anstrengend zu lesen.
Der Text regt zum Nachdenken an, aber die Sorgen des Erzählers ernst zu nehmen, fiel mir zunehmend schwer. Von Anfang an war ich nicht sicher, ob hier ein Verrückter zu mir spricht. Das möge jeder Leser selbst entscheiden. Sicher ist aber, dass es uns allen in diesen Zeiten immer schwerer fällt, am komplizierten globalen Alltag mit seinen massiven Widersprüchen nicht irre zu werden. Dieses Zeitgefühl spiegelt der Roman eindrücklich wider.
Ein Roman, der den Stream of Conciousness dieser Tage widerspiegelt, den alltäglichen Wahnsinn, den wir alle jeden Tag hinnehmen.
Richtung Süden, Nils Trede, Secession Verlag, Zürich 2021, 80 Seiten, 18,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
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