Sonntag, 26. April 2020

Schachnovelle, Stefan Zweig


Stefan Zweigs Schachnovelle ist ein Klassiker, den ich endlich einmal lesen wollte. Der aus Wien stammende jüdische Autor schrieb ihn im Exil und nahm sich noch vor Erscheinen des Buches im Jahr 1942 das Leben.

Der Ich-Erzähler dieser kurzen Novelle (ohne Kommentar ca. 65 Seiten lang) hat Ähnlichkeit mit dem Autor. Die Geschichte spielt zur Zeit des 2. Weltkriegs auf einem Passagierdampfer während der Überfahrt von New York nach Buenos Aires. Mit an Bord und von den Medien beachtet ist Marko Czentovic, der amtierende Schachweltmeister. Von diesem erzählt man sich manche Anekdote, da er eine ausgesprochen seltsame Persönlichkeit zu sein scheint. Er stammt aus der Provinz, wirkt sehr ungebildet und teilnahmslos, hat aber eine außergewöhnliche Begabung für das Schachspiel. Durch seine Turniersiege ist er zu frühem Reichtum gekommen.

Der Erzähler ist nur ein mäßiger Freizeit-Schachspieler, möchte das Schachgenie jedoch gern kennenlernen. Durch Zufall begegnet er einem anderen österreichischen Passagier, Dr. B. Dessen Geschichte stellt einen längeren Einschub innerhalb der Haupthandlung dar (oder ist vielleicht selbst die Haupthandlung?). Dr. B. war von der Gestapo in Isolationshaft genommen und verhört worden. Um dem Wahnsinn zu entfliehen, hat er sich im Kopf mit Schachpartien beschäftigt, sich dabei jedoch eine „Schachvergiftung“ zugezogen, wie er sagt. Es kommt zu zwei Schachpartien zwischen dem Weltmeister und Dr. B. mit überraschendem Ausgang.

„Dieser eigentlich unbeschreibbare Zustand dauerte vier Monate. Nun – vier Monate, das schreibt sich leicht hin: just ein Dutzend Buchstaben! (…) Aber niemand kann schildern, kann messen, kann veranschaulichen, nicht einem andern, nicht sich selbst, wie lange eine Zeit im Raumlosen, im Zeitlosen währt, und keinem kann man erklären, wie es einen zerfrißt und zerstört, dieses Nichts und Nichts und Nichts um einen, dies immer nur Tisch und Bett und Waschschüssel und Tapete, und immer das Schweigen, immer derselbe Wärter, der, ohne einen anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer dieselben Gedanken, die im Nichts um das eine kreisen, bis man irre wird. (S. 43/44)

Über die Bedeutung der Novelle ist viel spekuliert worden. So kann man die Gegensätze zwischen dem roboterhaft spielenden Weltmeister Czentovic und dem spielerischen Dr. B. als das Aufeinanderprallen zweier Systeme, etwa des Faschismus mit dem einem anderen politischen System verstehen. Das Schachspiel wird zum Sinnbild des Krieges. Außer dem Ich-Erzähler, Czentovic und Dr. B. sind noch andere Passagiere in die Schachspiele eingebunden. Ein Wettbewerb entbrennt, Ehre muss verteidigt werden, das Gewinnen wird immer wichtiger.

Insgesamt beschäftigt sich die Novelle mit der Bedeutung der menschlichen Geisteshaltung, wie man sie manipulieren und für sich selbst kontrollieren kann – oder eben nicht. Schach passt als Sinnbild für die Bildung und Schulung des Geistes hervorragend, da das Spiel keine Glückskomponente hat, sondern strategisches Vorausplanen und das Erraten der gegnerischen Vorhaben erfordert. Dennoch zeigt diese Parabel, welchen Einfluss daneben die Emotionen auf das Spielgeschehen haben.

Ich mag Zweigs pointierte, präzise Sprache. In der Novelle hat mir die Passage am besten gefallen, in der Jurist Dr. B. seine Lebensgeschichte erzählt und wie er vor dem „Anschluss“ Österreichs in die Fänge der Nazis geraten ist. Seine Schilderung der Einzelhaft in einem Hotel ist sehr nachvollziehbar. Man spürt die geistige Leere, die immer gleichen Tage, die Gedanken, die um nichts rotieren, weil sie keine Anregung und Nahrung erhalten. Gerade in der jetzigen Corona-Krise kann jeder von uns besonders gut nachfühlen, wie es sich anfühlt, im immer gleichen Zimmer eingesperrt zu sein, jedoch im Falle des Dr. B. ohne Telefon, Fernsehen oder Bücher zur Ablenkung. Es wird deutlich, wie sehr der Mensch als soziales Wesen auf den ständigen Kontakt zu anderen Menschen angewiesen ist, um geistig gesund zu bleiben.

Die Schachnovelle liest sich schnell, beleuchtet interessant die Bedeutung des menschlichen Bewusstseins und dessen Lenkung, und ist gerade jetzt sehr lesenswert.

Schachnovelle (Text und Kommentar), Stefan Zweig, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 124 Seiten, 6,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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