Freitag, 6. September 2019

Miroloi, Karen Köhler

Über „Miroloi“ ist seit dem Tag seines Erscheinens (19. August 2019) schon ungeheuer viel geschrieben worden. Das Buch polarisiert, insbesondere das klassische (männlich dominierte) Feuilleton scheint es zu hassen, während es in den (weiblich dominierten) sozialen Netzwerken viele Fans des Romans gibt. Interessant. Schon aufgrund dieser heftigen Diskussionen musste ich das Buch lesen.

Das Wort „Miroloi“ stammt aus dem Griechischen und bezeichnet ein Totenklagelied. Der Roman gliedert sich in Strophen anstelle von Kapiteln. Die Geschichte spielt auf einer namenlosen Insel im 20. Jahrhundert und zeichnet das fiktive Bild einer patriarchalen, archaischen Gesellschaft. Die Menschen folgen einer polytheistischen Religion, deren Grundlagen in der „Khorabel“ niedergeschrieben sind. Politische Macht wird im einzigen Dorf der Insel durch einen nur aus Männern bestehenden Ältestenrat ausgeübt. Tradition und konservative Gesetze beherrschen das Leben, diese werden durch drakonische Strafen durchgesetzt. Das Fremde wird abgelehnt und draußen gehalten, sowohl fremde Menschen, als auch neue Erfindungen oder Technologien. Ein namenloses Mädchen von 16 Jahren, das als Findelkind auf die Insel kam, erzählt ihre Geschichte. Sie will Zeugnis ablegen von ihrem unaushaltbaren Leben und leistet Widerstand gegen die Zustände im Dorf.

Die meisten Rezensenten stürzen sich als erstes auf den Feminismus, der im Roman eine Rolle spielt. Eine junge Frau kämpft für mehr Rechte in der Gesellschaft, einerseits für sich selbst, andererseits ermutigt sie auch andere Frauen zum Widerstand. In der fiktiven Gesellschaft ist die Frau dem Mann zum Gehorsam verpflichtet. Es gibt häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch, die von Männern insbesondere in der Ehe ohne Konsequenzen begangen werden können.

In dem Buch einen nur feministischen Roman zu sehen, griffe aber viel zu kurz. Es werden viele weitere Themen gesellschaftliche Themen angesprochen, insbesondere Menschenrechte. Die namenslose Erzählerin ist eine stets angefeindete Außenseiterin im Dorf. Ihr ist die Heirat verboten, sie lebt beim Bethaus-Vater (einer Art Priester) und man sagt ihr nach, Unglück zu bringen. Ihre Stellung ist mit der einer „Unberührbaren“ im indischen Kastensystem vergleichbar. Sie gilt aufgrund der Umstände ihrer Geburt als unrein. Es sind aber nicht nur ihre Persönlichkeitsrechte, die stark eingeschränkt sind. Frauen ist es nicht erlaubt, Lesen und Schreiben zu lernen. Dafür ist den Männern untersagt, zu kochen oder zu singen. Die Geschlechterrollen sind rigide festgelegt. Es gibt dadurch kaum Individualität. Auch herrscht ein quasi kommunistisches Produktionssystem, in dem alle für alle arbeiten und alle Güter gleichmäßig unter allen verteilt werden. Die Gruppe geht dem Individuum vor. Dies erinnert an manche asiatischen Gesellschaftssysteme. Dennoch gibt es einige, die gleicher sind als andere, weil sie familiäre oder freundschaftliche Verbindungen zu den Ältesten haben. Hier kommt Vetternwirtschaft zur Sprache. Die Nachrichten werden vom Ältestenrat vorgegeben. Es herrscht also Zensur. Radio, Fernsehen oder Zeitungen gibt es nicht, nicht einmal Strom.

Die Religion wird als Mittel zur Unterdrückung benutzt. Alle Gesetze werden damit begründet, sie kämen von den Göttern und bedürften daher keiner Rechtfertigung. Dies betrifft sowohl Männer als auch Frauen. Die Ältesten und die Mönche schrecken auch nicht davor zurück, den Text der heiligen „Khorabel“ zu verändern, um die Gesetze nach ihrem Willen umzuformen. Hierbei spielt die mangelnde Bildung aller Dorfbewohner eine Rolle. Die Frauen können in der Regel gar nicht lesen, die Männer können es, scheren sich aber nicht immer um den Text, solange sie nur genug Alkohol haben und nicht zu viel arbeiten müssen. Die Betschüler (also Mönchsanwärter) wissen um den Betrug, enttarnen ihn aber nicht.

Insgesamt beschreibt der Roman mangelnde Zivilcourage. Die Frauen sind mit ihrer Rolle nicht immer einverstanden, tun sich aber nicht zusammen, um sich zu wehren. Einerseits weil sie durch körperliche Gewalt daran gehindert werden, andererseits weil sie dem Aberglauben verfallen sind und meinen, die Erzählerin sei eine Art Hexe, der man nicht trauen könne. Hinzu kommen persönliche Eifersüchteleien. Auch die Männer fühlen sich nicht wohl in ihrer Rolle. So ist Homosexualität verboten. Singen und kochen tun sie heimlich. Außerdem ertränken sie Langeweile und Unzufriedenheit im Alkohol, anstatt etwas zu ändern. Das geht so weit, dass sie sogar an der Verkrüppelung und Tötung von Menschen aktiv teilnehmen, obwohl sie diese als falsch erkennen.
Dieser Roman ist wortgewaltig und erzeugt starke Emotionen durch die ungewöhnlichen und treffenden Formulierungen. „Sofias Stimme ist wie ein Beil, es durchtrennt das Seil des Andersseins, das mich bis zum Hals einschnürt Tag für Tag.“ (S. 141)

Die Erzählerin entwickelt sich im Verlauf der Geschichte, im Sprechen und im Denken. Sie lernt neue Worte sowie Schreiben und Lesen. Wofür wir keine Worte haben, das können wir nicht benennen, diskutieren, verändern, dessen Existenz steht sogar in Zweifel. Das krasseste Beispiel ist der Umstand, dass die Erzählerin keinen eigenen Namen tragen darf. Sie ist „das Mädchen“, „die Eselshure“ oder „die Missgeburt“. Die Sprache des Romans erinnert mich etwas an „Die Farbe von Milch“ (vgl. meine Rezension), in dem auch ein junges Mädchen schreiben und lesen lernt und erst dadurch eine Stimme bekommt. Sie drückt ihre starken Gefühle in den Kategorien aus, die sie kennt, nämlich durch den Vergleich mit Naturphänomenen oder Alltagsgegenständen. Sie verliebt sich und sagt:

„Ich möchte jauchzen, springen, mich zerteilen. Ich möchte zwitschern wie die Schwalben und mich taumelflugs ins Tal stürzen. (…) Möchte stinken wie der Käse, aufgehen wie die Blüte, dampfen wie der Kaffee, leuchten wie die Blume. Ich möchte alles sein, jedes Ding, jede Schuppe, jedes Körnchen, jedes Haar, jede Feder, jede Falte, jedes Horn. (…) Möchte in das kleinste Teil zerfallen, bis es nichts mehr ist. Ich möchte alles sein, wofür ich keine Worte habe. Alles, was die Götter sind und mehr. Alles, alles, was gedacht werden kann.“ (S. 138)
Karen Köhler, Hamburg, 04.09.19  

Ich konnte vor wenigen Tagen im Rahmen des Longlist-Abends des Deutschen Buchpreises, für den „Miroloi“ nominiert ist, eine Lesung der Autorin aus diesem Buch hören. Aus dem Mund von Karen Köhler selbst wurden die ohnehin starken Worte noch eindringlicher. Ein Feuerwerk!

Der Roman schmerzt, weil er so wahr ist. Weil man die Verzweiflung spüren kann. Die poetische Ausdrucksweise hat mich in ihren Bann gezogen. Der Roman macht deutlich, wie viel es braucht, um ein aus westlicher Sicht lebenswertes und menschenwürdiges Leben in einer funktionierenden Gesellschaft zu ermöglichen. Wie stark jeder Einzelne mitwirken muss, damit persönliche Entfaltung, Gleichberechtigung nicht nur von Männern und Frauen, sondern auch von Menschen verschiedener Herkunft, sozialem Status oder sexueller Orientierung möglich ist. Wie wichtig Bildung für alle ist, um der Dummheit und Grausamkeit Einhalt zu gebieten, um einen Rechtsstaat und Pluralität zu gewährleisten. Nicht zuletzt zeigt die Geschichte, wie sehr Sprache unsere Vorstellung von der Welt prägt, aber auch wie sehr wir das Eine zum Leben brauchen: das gute Wort, das ein anderer Mensch zu uns spricht.

Die fiktive Welt von „Miroloi“ ist überzogen und extrem. Aber dennoch ist mehr davon als wir vertragen täglich um uns. Auch in Deutschland. Der Roman schlägt mit Wucht zu. Und trifft.

Miroloi, Karen Köhler, Carl Hanser Verlag, München 2019, 464 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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