Eine Harpyie ist ein Wesen aus der griechischen Mythologie, eine Vogelgestalt mit einem Frauenkopf. Sie war dazu da, Menschen zu töten und in das Totenreich zu bringen, die den Zorn des Zeus erregt hatten. Sie bestraft und nimmt Rache.
Lucy ist seit ihrer Kindheit fasziniert von Harpyien. Als sie erfährt, dass ihr Mann Jake sie mit einer Kollegin betrogen hat, während sie die beiden gemeinsamen Söhne zuhause betreut und ihre Arbeit zu Gunsten der Familie zurückgefahren hat, ist sie sehr verletzt. Obwohl Jake sich entschuldigt und beteuert, mit der anderen Frau Schluss zu machen, kommt Lucy nicht so leicht über den Vertrauensbruch hinweg. Lucy und Jake kommen überein, dass Lucy Jake dreimal bestrafen darf. Er wird nicht wissen wann oder wodurch dies geschehen wird. So hoffen sie den Vorfall aus dem Weg räumen zu können.
„Die Harpyie reißt Augen aus, las ich. Sie zerrt, versengt, kratzt, verkrüppelt. Sie tut das alles auf Anweisung der Götter, aber nicht widerwillig. Sie tut es mit leuchtenden Augen: hacken, ersticken. Vergiften.
Es hätte niemanden überraschen dürfen. Niemanden schockieren.“ (S. 80)
Dies ist eine Geschichte über weibliche Wut. Lucy erzählt die Geschichte des Betrugs, ihre Gedanken und Selbstzweifel, ihren Schmerz. Die Erzählung wird immer wieder durch kursiv gedruckte Einschübe unterbrochen, in denen es um Lucys Verhältnis zu Harpyien geht. In Rückblenden erfahren wir etwas über Lucys Kindheit. Sie gehört zu den vielen Mädchen, denen die Eltern beigebracht haben, dass sie lieb und verständnisvoll sein, erlittenes Unrecht vergeben und nicht wütend werden sollen. Aber wie lange lässt sich Wut unterdrücken? Lucy setzt sich mit ihrer Wut auseinander, ringt mit dem Nichtdürfen, der Berechtigung ihrer Wut und der Gefahr, die von zu viel Aggression ausgeht. Liegt nicht auch in Sex etwas Aggression? Was ist gute, gesunde Aggression, was nicht? Hat Wut auch etwas mit Freiheit zu tun? In der Beziehung von Lucy und Jake eröffnet sich eine ganz neue Komponente. Ist Lucy eine Harpyie oder möchte sie es sein?
Aus einer alltäglichen Beziehungskrise entwickelt die Autorin eine wichtige Frage des gesellschaftlichen Frauenbildes. Wieviel Wut darf frau/Frau sich zugestehen? Und wie sollte man/Mann mit den Folgen einer berechtigten Wut umgehen? Der Roman beleuchtet das Thema sehr raffiniert anhand der Rollenerwartungen an eine Ehefrau und Mutter, in der viele Frauen sich wiederfinden werden. Mir hat der Stil sehr gefallen. Lucy ist eine komplexe Person, in die ich mich gut hineinversetzen konnte.
Ein besonderes Buch über das ambivalente Thema Wut anhand eines wunderbaren mythologischen Vergleichs mit der Harpyie. Ist sie nicht in jeder von uns?!
Die Harpyie, Megan Hunter, aus dem Englischen übersetzt von Ebba D. Drolshagen, C.H. Beck Verlag, München 2021, 232 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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