Montag, 17. Februar 2020

Ewig her und gar nicht wahr, Marina Frenk

Kira ist Künstlerin. Sie lebt mit ihrem Freund Marc und ihrem vierjährigen Sohn Karlchen in Berlin. Ausgestellt hat sie schon lange nichts mehr. Die Beziehung zu Marc ist sprachlos geworden. Als kleines Mädchen ist Kira mit ihren Eltern aus Moldawien „in dieses Europa“ ausgewandert, in dem alles besser sein sollte. Aber die Familie bleibt innerlich heimatlos. Nicht nur Kiras Eltern – der Vater ist Jude -, sondern auch Generationen ihrer Vorfahren erlebten dieses Unbehaustsein. Moldawien – ein Land, das es gar nicht mehr gibt, das immer Spielball unterschiedlicher Nationen war, Bürgerkrieg und Abspaltung erlebte, irgendwo zwischen Russland und Rumänien. Die eigene Herkunft mit einem Wort zu erklären ist unmöglich.

Kira erzählt in diesem Buch ihre Familiengeschichte. Sie trägt selbst von denen, die sie nie kennengelernt hat, Herkunft, Geschichte, Vertreibung und Trauma in sich. Kiras innere Zerrissenheit ist so groß, dass sie oft nicht weiß, wo sie beginnt und wo sie endet. Sie muss sich selbst verletzen, um sich zu spüren. Sie versucht ihre Familie in ihren Bildern darzustellen, so wie sie sie erlebt hat oder sie sich vorstellt. Aber das ist schwierig, denn die Geschichte ist nicht stringent, hat keinen Anfang und kein Ende. „Chronologie ist erfunden, es gibt keine. Sie ist eine Lüge, wie alle Systeme.“ (S. 215)

Kiras Erzählung springt wild hin und her zwischen Teilen ihrer eigenen, erlebten Vergangenheit und der Vergangenheit ihrer Vorfahren. Die jeweilige Kapitelüberschrift weist den Leser auf Zeit und Ort hin. Das ist verwirrend, nicht nur für den Leser, sondern drückt die Verwirrung in Kira aus. Ihr tägliches Erleben von Sinnlosigkeit und Depression ist eine Mischung von Realität, Erinnerung und Albtraum, sowohl im Wachen als auch im Schlaf. Dies schildert sie in einer drastischen, sehr eigentümlichen Sprache. Ihr Erleben ist sehr körperlich, wenn dabei auch oft unklar bleibt, ob es sich dabei um ihren eigenen Körper handelt.

„Spaziergänge sind dämlich, denke ich mir, aber dadurch, dass ich in einer inneren Explosion lebe, kann ich nur sehr schwer still dasitzen oder an gar nichts denken. Und es gibt so viel Zeit im Leben. Ich muss immer in irgendeiner Bewegung sein, sonst fressen mich die Gedanken von innen auf. Ich weiß gar nicht, wie ich es schaffe, nachts zu schlafen, ein natürlicher Reflex wahrscheinlich, immerhin, sonst würde ich auch nachts diesen unerträglichen Wurm, der sich kreuz und quer durch meinen Körper windet und keinen Ausgang findet, in mir spüren. Er wütet und nagt und saugt sich fest an Eingeweiden und behauptet, er suche nach irgendeinem Sinn, und ich habe ihm schon öfters erklärt, dass er nicht weiterkommen wird, solange er in meinem Inneren bleibt.“ (S. 37)

Marina Frenk, die wie die Protagonistin ihres Debütromans als Kind Anfang der 90er Jahre aus Moldawien nach Deutschland kam, hat ein ungewöhnliches Werk über die Einsamkeit geschaffen, die Art Einsamkeit, die wir auch in Gegenwart uns nahestehender Menschen empfinden können. Sie zeigt mit ihrer verstörenden, direkten Sprache die Verstrickungen, die uns mitgegeben sind, die wir entwirren und verstehen müssen, um darin uns selbst zu finden.

Ein beeindruckendes Buch, das mich etwas verstört zurücklässt. Ein Stück dieser bedrückenden Verstrickung wird jeder von uns in sich tragen, dessen Vorfahren die Weltkriege erlebt haben. Es wäre gut, wenn wir mehr darüber sprechen könnten.

Ewig her und gar nicht wahr, Marina Frenk, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, 240 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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