Freitag, 10. Januar 2020

Im Keller, Jan Philipp Reemtsma

Schon so lange hatte ich dieses Buch lesen wollen, das Buch, welches Jan Philipp Reemtsma über seine Entführung im Jahr 1996 geschrieben hat. Inzwischen hat sein Sohn, Johann Scheerer, noch ein Buch aus seiner Sicht über die Entführung geschrieben. Dazu bald mehr. Reemtsma ist Hamburger wie ich. Grund genug, endlich sein Buch zu lesen. Es hat sich gelohnt.

Im Jahr 1996 ist der Millionär Jan Philipp Reemtsma entführt und 33 Tage lang in einem Keller angekettet festgehalten worden, bis schließlich 30 Mio. Mark Lösegeld von seiner Familie bezahlt worden waren. Danach wurde er freigelassen. Soweit die Fakten. Mit diesen beginnt auch das Buch.

Was dann geschildert wird, ist das subjektive Erleben des Eingeschlossenen. Ich habe selten einen so reflektierten Bericht über ein solch schreckliches Ereignis gelesen. Schon die Darstellungsweise ist besonders und macht sehr viel Sinn. Dass die Entführung traumatisierend wirkte, versteht sich von selbst. Dass es schwer ist, über ein solches Ereignis zu schreiben, ist ebenfalls klar. Reemtsma, dem es ein Bedürfnis war, seine Geschichte selbst zu erzählen, hat für diese Situation eine gute Lösung gefunden. Die Eindrücke und Gefühle von damals beschreibt er in der 3. Person Singular, um die nötige Distanz zu halten. Seine Gedanken und Reflexionen aus späterer Sicht schreibt er in der Ich-Form. So ist an jeder Stelle des Textes klar, von wann ein Eindruck oder eine Einschätzung stammt. Die beiden Zeitebenen unterscheiden sich verständlicherweise erheblich. Wie gut Reemtsma es schafft, beide Wissensstände und seelischen Zustände auseinanderzuhalten, ist erstaunlich.

Reemtsma reflektiert darüber, dass er während der Zeit seiner Gefangenschaft die Perspektive der Entführer übernehmen musste, weil sie seine einzige Informationsquelle waren. Seine Ideen und Gedanken zu seiner Situation waren geprägt von der täglichen Todesangst und dem Zustand erzwungener Passivität. Im Nachhinein sind ihm manche Gedankengänge peinlich oder erscheinen ihm abwegig. Ein Beispiel: Reemtsma hatte in der Gefangenschaft Personen als mögliche Geldboten für die Übergabe des Lösegeldes benannt, nachdem diese mehrmals gescheitert war. Hierüber schreibt er:

„Denn sowenig jemand das Recht hat, von Menschen, die in einem Anstellungsverhältnis zu ihm stehen, zu verlangen, einen solchen Job zu übernehmen, der doch immerhin nicht ganz ohne Risiko ist, sowenig kann derjenige, der, in freundschaftlicher Nähe zu einem Menschen stehend, von diesem gebeten wird, sein Leben zu retten, dies als Zumutung zurückweisen. Genaugenommen übte er aus diesem Keller heraus moralischen Terror aus. Weder Arndt noch Clausen konnten die Bitte ohne sehr triftigen Grund, allenfalls krankheitshalber, ablehnen. Er war unter die Erpresser gefallen und übte nunmehr selbst moralische Erpressung aus. Ich bin froh, daß ihm das schon im Keller deutlich gewesen ist und er es wenigstens annäherungsweise in den Briefen zum Ausdruck gebracht hat.“ (S. 142)

Auf welchem moralischen Niveau Jan Philipp Reemtsma denkt, in Bezug auf die Situation der Entführung und wohl auch sonst im Leben, wird im dritten Teil seines Buches deutlich. Nach der Schilderung seines damaligen Erlebens bedenkt er das Geschehen auf einer Meta-Ebene. Er reflektiert unter Heranziehung großer Philosophen darüber, ob es sowas wie einen unveränderlichen Wesenskern des Menschen, ein Ich, eine Identität wirklich gibt, da er den Eindruck hatte, damals im Keller „aus der Welt gefallen“ zu sein und seine Identität verloren zu haben. Er war herabgewürdigt zum bloßen Tauschobjekt gegen Geld. Ferner denkt er darüber nach, ob er die Täter hat hassen können und ist unangenehm berührt von seiner Feststellung, dass er sich auf einen Wortwechsel mit dem Haupttäter (Thomas Drach) damals gefreut habe. Es war eben ein menschliches Gespräch in seiner totalen Isolation. Reemtsma betrachtet die von ihm an seine Frau geschriebenen Briefe aus der Gefangenschaft und fühlt sich schuldig dafür, es seiner Frau durch Sätze wie „Ich kann nicht mehr.“ zu schwer gemacht zu haben. Welch einen Anspruch hat dieser Mann an sich, der selbst im Angesicht des möglichen Todes noch so viel Contenance und klares Denken von sich erwartet!

Schon auf den ersten Seiten des Buches wird deutlich, was für ein intelligenter, gebildeter und sensibler Mensch Jan Philipp Reemtsma sein muss. Ich habe noch nie eine so detailliert durchdachte Beschreibung eines solchen traumatischen Erlebnisses gelesen. Man bedenke, dass traumatisches Erleben das Sprachzentrum des Gehirns teilweise blockieren oder stören kann und dass traumatische Erinnerungen zum Schutz der Seele verdrängt werden. Dass es Reemtsma dennoch gelungen ist, seine Erlebnisse relativ kurz nach dem Verbrechen in dieser Form niederzuschreiben, ist mehr als beachtlich. Auch ist sein Bericht nicht von Bitterkeit und schon gar nicht von Selbstmitleid geprägt, sondern von analytischer Sachlichkeit und Authentizität. Ich hoffe sehr, dass ihm das Schreiben und Veröffentlichen dieses Buches den ersehnten Erfolg gebracht hat: Die aufgezwungene Intimität zwischen den Entführern und ihm aufzubrechen, indem er öffentlich macht, was nur er mit den Tätern erlebt hat, sowie sich die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zurückzuholen, um sie nicht den Medien zu überlassen.

Ich ziehe meinen Hut in Hochachtung vor Jan Philipp Reemtsma, der die große Gabe seines wachen Geistes für sich und alle, die sein Buch lesen, genutzt hat, um die traumatische Entführung zu verarbeiten. Was für ein Mensch! Was für ein faszinierendes, berührendes Buch!

Im Keller, Jan Philipp Reemtsma, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998, 224 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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