Freitag, 4. Oktober 2019

Die Zeit, die Zeit, Martin Suter


Was ist die Zeit? Gibt es sie überhaupt? Oder ist sie eine menschliche Erfindung, eine Krücke, weil wir es nicht besser wissen? Mit diesen interessanten, ja, philosophischen Fragen beschäftigt sich der Roman auf vergnügliche Weise.

Erzählt wird die Geschichte von Peter Taler, einem Buchhalter in den Vierzigern. Vor einem Jahr wurde seine Frau Laura vor der eigenen Haustür erschossen. Der Täter wurde bisher nicht gefasst, ein Motiv ist nicht ersichtlich. Taler trauert, ist aber auch hilflos und wütend. Er sinnt auf Rache. Aber gegen wen?

In seiner Straße lebt ein alter Witwer, der von den Nachbarn aufgrund seiner Absonderlichkeit gemieden wird. Durch ein seltsames Buch, das Talers verstorbene Frau wohl noch antiquarisch bestellt hatte, kommen die beiden ins Gespräch. Der alte Knupp erklärt Peter Taler, die Zeit gäbe es gar nicht. Nun ist Taler sich endgültig sicher: Der Alte spinnt! Diese Theorie ist einfach verrückt.

„Dieses ständige Werden und Vergehen hat nur einen einzigen Zweck: Es täuscht vor, dass die Zeit verstreicht.“ (…)
„Die Veränderung schafft die Illusion von Zeit. Die Wiederholung ist ihr Tod. Ein Tag, an dem alles gleich ist wie am Vortag, wäre der Beweis, dass es in Wirklichkeit die Zeit ist, die ausbleibt. Und ein Tag, an dem alles gleich ist wie an einem Tag vor Jahren, erst recht.“
Er wartete einen Moment, bis er den Eindruck hatte, Taler sei ihm gefolgt. Dann fuhr er fort: „Es gibt nur ein Indiz dafür, dass die Zeit vergeht: Veränderung. Die Zeit ist wie eine Krankheit. Man erkennt sie nur an ihren Symptomen. Wenn die weg sind, dann ist auch die Krankheit weg.“ (S. 59)

Knupp scheint besessen zu sein von seiner Theorie. Glaubt er an Zeitreisen in die Vergangenheit? Auch macht Knupp dauernd Fotos, um Veränderungen zu dokumentieren. Peter Taler wird den Eindruck nicht los, dass der Alte etwas über den Tod seiner Frau wissen könnte, vielleicht zufällig etwas fotografiert hat, es aber für sich behält. Ist das Talers Chance den Mörder zu finden, den die Polizei vergeblich sucht? Er weiß nur, dass die Zeit seit Lauras Tod unendlich langsam verstreicht.

Der Roman ist ein „echter Suter“, spannend, und mit einem gekonnten Mix aus Realität und Phantastischem. Ist der Alte nun verrückt? Oder hat er wie ein Galileo der Postmoderne eine bahnbrechende Entdeckung gemacht? Diese Frage wird erst auf den letzten Seiten des Buches in überraschender Weise aufgelöst. Die Geschichte ist köstlich konstruiert, mit Liebe zum Detail erzählt, das Handeln der Charaktere menschlich nachvollziehbar. Wie oft bei Suter streift die Handlung das Übernatürliche nur am Rande, lassen sich die Dinge meist noch irgendwie rational erklären. Das macht den besonderen Reiz aus. Ich habe das Buch sehr gern gelesen.

Eine gelungene und spannende Geschichte über die Sehnsucht, die Zeit zurückdrehen zu können. Tolles Ende!

Die Zeit, die Zeit, Martin Suter, Diogenes Verlag, Zürich 2013, 304 Seiten, 13,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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