Samstag, 17. August 2019

Mit Staunen und Zittern, Amélie Nothomb

Die Belgierin Amélie Nothomb ist teilweise in Japan aufgewachsen und spricht perfekt Japanisch. Mit Anfang Zwanzig möchte sie in einem japanischen Unternehmen in Tokio arbeiten. Sie weiß sehr wohl, dass dies für sie als Weiße eine besondere Erfahrung werden wird. Sie schließt einen Einjahresvertrag mit der Firma Yumimoto ab. Ihre Anstellung in diesem großen Handelsunternehmen erfolgte wohl aufgrund ihrer Sprachkenntnisse sowohl des Japanischen als auch des Französischen, sowie ihrer guten Kenntnis der japanischen Kultur. Wie das Unternehmen diese Kenntnisse im Verlauf des Jahres, das Amélie-san tatsächlich durchsteht, nutzt, wird in diesem Roman berichtet.

Die japanische Arbeitswelt ist geprägt von streng hierarchischem Denken und Demut dem Unternehmen gegenüber. Ein Zuviel an Arbeit und Hingabe an das Unternehmen ist kaum denkbar. Welche – aus westlicher Sicht – krassen Ausmaße dies annimmt, verblüffte mich allerdings. Amélie ist natürlich auf der untersten Hierarchiestufe angesiedelt. Sie ist neu, jung, weiß und eine Frau. Ihre Vorgesetzte ist eine junge Frau, die es für ihr Alter und ihr Geschlecht schon weit gebracht hat, nämlich zur leitenden Angestellten. Das schafft Angst und Missgunst, was Amélie unter der steten japanischen Höflichkeit und Gleichmut zu spät erkennt.

Amélie gibt sich nach Kräften Mühe alles richtig zu machen. Sie beherzigt den Grundsatz des alten japanischen Hofprotokolls, dass man sich an den Kaiser (oder den Vorgesetzten) „mit Staunen und Zittern“ zu wenden habe (S. 145). Ohne Erfolg. Zunächst gibt man ihr nichts zu tun. Man legt ihr Unterlagen auf den Tisch, die sie sich ansehen soll. Es vergehen Wochen. Amélie lernt die Liste der Mitarbeiter des Unternehmens samt Ehepartnern und Geburtsdaten der Kinder auswendig. Etwas anderes hat sie nicht zu tun. Als sie sich aus eigener Initiative den Postwagen nimmt, um die Post zu verteilen, wirft man ihr Anmaßung vor. Niemand hat sie dazu aufgefordert! Aufgefordert wird sie zum Tee holen. Als sie diesen jedoch Kunden serviert und alle japanischen Höflichkeitsfloskeln verwendet, ist auch das unangebracht. Eventuell könnte sie die Kalender auf dem neusten Stand halten…?

Nach diversen Zusammenstößen kommt es zu einer Racheaktion ihrer Vorgesetzten. Amélie wird der niedrigste denkbare Posten zugewiesen. Alleiniger Zweck ist ihre Demütigung. Man erwartet von ihr als Ausländerin, dass sie nun kündigen wird. Das tut Amélie aber nicht, weil das für einen Japaner einen Gesichtsverlust bedeuten würde. Innerlich lacht sie sich kaputt über die ihr grotesk erscheinenden Aktionen ihrer Vorgesetzten. Ihre Gesellschaftsstudien und innere Heiterkeit bewahren sie vor dem Tod durch Langeweile, und wohl auch der Gedanke an das begonnene Romanmanuskript. Die Autorin beschreibt die japanische Gesellschaftsordnung, vor allem die Normen für Frauen, aus dem Blickwinkel der Ausländerin.
„Freilich konnte man ihr nicht vorwerfen, sie habe zuviel gearbeitet, denn in den Augen der Japaner arbeitet man niemals zuviel. In den Regeln für Frauen gab es also eine Unstimmigkeit: Untadelig zu sein, indem man fleißig arbeitete, führte dazu, dass man das Alter von fünfundzwanzig Jahren überschritt, ohne zu heiraten, mit der Konsequenz, dass man nicht mehr untadelig war. Der Sadismus des Systems gipfelte in dieser Aporie: Die Einhaltung seiner Regeln führte zum Regelverstoß.“ (S. 88)
Der Roman liest sich leicht und flüssig. Allerdings bereitete es mir teilweise körperliches Unbehagen zu lesen, wie stark Amélie gedemütigt und schikaniert wurde, ohne sich zu wehren. In der japanischen Ordnung hat kein Untergebener das Recht, sich zu beschweren oder gar gegen Vorwürfe zu verteidigen, seien sie auch noch so abwegig und falsch. Mir vorzustellen, dass Millionen Japaner in diesem System täglich arbeiten, ohne zu wissen, dass das Leiden einem gesellschaftlichen Experiment dient und auf ein Jahr beschränkt ist, treibt mir Schauer über den Rücken. Vielleicht verstehe ich zu wenig von der japanischen Kultur, um das beurteilen zu können. Aber meiner Meinung nach sprechen die hohe Selbstmordrate und der Tod durch Überarbeitung, für den es ein eigenes japanisches Wort gibt, für sich. Ich hätte mir dieses Jahr der Studie im Arbeitsleben nicht auferlegt.

Der Roman vermittelt ein erschreckendes Bild der japanischen Arbeitswelt und zeigt mir, wie andersartig die japanische Kultur ist. Dabei die Heiterkeit der Autorin zu bewahren, ist ein Kunststück!

Mit Staunen und Zittern, Amélie Nothomb, aus dem Französischen von Wolfgang Krege, Diogenes Verlag, Zürich 2002, 160 Seiten, 11,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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