Die japanische Arbeitswelt ist geprägt von streng
hierarchischem Denken und Demut dem Unternehmen gegenüber. Ein Zuviel an Arbeit
und Hingabe an das Unternehmen ist kaum denkbar. Welche – aus westlicher Sicht –
krassen Ausmaße dies annimmt, verblüffte mich allerdings. Amélie ist natürlich
auf der untersten Hierarchiestufe angesiedelt. Sie ist neu, jung, weiß und eine
Frau. Ihre Vorgesetzte ist eine junge Frau, die es für ihr Alter und ihr
Geschlecht schon weit gebracht hat, nämlich zur leitenden Angestellten. Das
schafft Angst und Missgunst, was Amélie unter der steten japanischen
Höflichkeit und Gleichmut zu spät erkennt.
Amélie gibt sich nach Kräften Mühe alles richtig zu machen. Sie
beherzigt den Grundsatz des alten japanischen Hofprotokolls, dass man sich an
den Kaiser (oder den Vorgesetzten) „mit Staunen und Zittern“ zu wenden habe (S. 145). Ohne
Erfolg. Zunächst gibt man ihr nichts zu tun. Man legt ihr Unterlagen auf den
Tisch, die sie sich ansehen soll. Es vergehen Wochen. Amélie lernt die Liste
der Mitarbeiter des Unternehmens samt Ehepartnern und Geburtsdaten der Kinder
auswendig. Etwas anderes hat sie nicht zu tun. Als sie sich aus eigener
Initiative den Postwagen nimmt, um die Post zu verteilen, wirft man ihr
Anmaßung vor. Niemand hat sie dazu aufgefordert! Aufgefordert wird sie zum Tee holen.
Als sie diesen jedoch Kunden serviert und alle japanischen Höflichkeitsfloskeln
verwendet, ist auch das unangebracht. Eventuell könnte sie die Kalender auf dem
neusten Stand halten…?
Nach diversen Zusammenstößen kommt es zu einer Racheaktion
ihrer Vorgesetzten. Amélie wird der niedrigste denkbare Posten zugewiesen.
Alleiniger Zweck ist ihre Demütigung. Man erwartet von ihr als Ausländerin,
dass sie nun kündigen wird. Das tut Amélie aber nicht, weil das für einen Japaner
einen Gesichtsverlust bedeuten würde. Innerlich lacht sie sich kaputt über die
ihr grotesk erscheinenden Aktionen ihrer Vorgesetzten. Ihre Gesellschaftsstudien
und innere Heiterkeit bewahren sie vor dem Tod durch Langeweile, und wohl auch
der Gedanke an das begonnene Romanmanuskript. Die Autorin beschreibt die
japanische Gesellschaftsordnung, vor allem die Normen für Frauen, aus dem
Blickwinkel der Ausländerin.
„Freilich konnte man ihr nicht vorwerfen, sie habe zuviel gearbeitet, denn in den Augen der Japaner arbeitet man niemals zuviel. In den Regeln für Frauen gab es also eine Unstimmigkeit: Untadelig zu sein, indem man fleißig arbeitete, führte dazu, dass man das Alter von fünfundzwanzig Jahren überschritt, ohne zu heiraten, mit der Konsequenz, dass man nicht mehr untadelig war. Der Sadismus des Systems gipfelte in dieser Aporie: Die Einhaltung seiner Regeln führte zum Regelverstoß.“ (S. 88)
Der Roman liest sich leicht und flüssig. Allerdings bereitete
es mir teilweise körperliches Unbehagen zu lesen, wie stark Amélie gedemütigt
und schikaniert wurde, ohne sich zu wehren. In der japanischen Ordnung hat kein
Untergebener das Recht, sich zu beschweren oder gar gegen Vorwürfe zu
verteidigen, seien sie auch noch so abwegig und falsch. Mir vorzustellen, dass
Millionen Japaner in diesem System täglich arbeiten, ohne zu wissen, dass das
Leiden einem gesellschaftlichen Experiment dient und auf ein Jahr beschränkt
ist, treibt mir Schauer über den Rücken. Vielleicht verstehe ich zu wenig von
der japanischen Kultur, um das beurteilen zu können. Aber meiner Meinung nach
sprechen die hohe Selbstmordrate und der Tod durch Überarbeitung, für den es
ein eigenes japanisches Wort gibt, für sich. Ich hätte mir dieses Jahr der
Studie im Arbeitsleben nicht auferlegt.
Der Roman vermittelt
ein erschreckendes Bild der japanischen Arbeitswelt und zeigt mir, wie
andersartig die japanische Kultur ist. Dabei die Heiterkeit der Autorin zu
bewahren, ist ein Kunststück!
Mit Staunen und Zittern, Amélie Nothomb, aus dem Französischen
von Wolfgang Krege, Diogenes Verlag, Zürich 2002, 160 Seiten, 11,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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