Donnerstag, 16. Mai 2019

Der Mann ohne Schatten, Joyce Carol Oates


Elihu Hoopes ist 37 Jahre alt, als er 1965 durch eine Infektion einen irreversiblen Hirnschaden erleidet. Sein Kurzzeitgedächtnis kann Informationen maximal 70 Sekunden speichern, neue Langzeiterinnerungen kann er nicht bilden. Da er sich nur an die Vergangenheit vor der Erkrankung erinnern und den Begriff einer Zukunft nicht mehr fassen kann, lebt er für den Rest seines Lebens in einer permanenten Gegenwart. Er weiß nicht, welche Personen sich ihm vor zwei Minuten vorgestellt haben oder dass er vor einer Stunde gegessen hat. Er erinnert sich nicht, ein Gebäude schon einmal betreten zu haben, obwohl er letzte Woche dort war. Und er weiß nicht mehr genau, wer er ist. Er fühlt nur, dass er einsam und verloren ist, verzweifelt auf andere angewiesen, denn die wissen alle mehr als er, sogar über seine Person.

Für die Hirnforschung ist Elihu Hoopes ein Geschenk. Der sehr kooperative, intelligente junge Mann nimmt gern an diversen Tests teil. Die Erforschung seiner Amnesie wird das große Forschungsprojekt eines Instituts, das von einem bedeutenden Wissenschaftler geleitet wird. Besonders zugetan ist diesem Patienten die junge Neuropsychologin Margot Sharpe. Zunächst als Assistentin, später als Leiterin des Instituts entwickelt sie immer neue Tests, um dem Sitz des Gedächtnisses und den Geheimnissen des menschlichen Gehirns auf die Spur zu kommen. Über 30 Jahre wird sie mit Elihu Hoops zusammen arbeiten. Und sich ihm jedes Mal erneut vorstellen, weil er sie vergessen hat.

Margot Sharpe ist einsam und lebt ganz für die Wissenschaft. Sie verliebt sich in ihren Probanden. Ist dieser Mann noch zu Liebe fähig? Erwidert er ihre Zuneigung? Sie hält ihre Gefühle geheim vor Dritten, denn dem ethischen Kodex der Forschung entspricht es nicht, einem Probanden so nahe zu kommen. Überhaupt stellt sich die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, einen Menschen so lange zu testen und zu erforschen, obwohl für ihn keine Chance auf Heilung besteht. Beutet die Wissenschaft Elihu Hoopes aus?

„Kaplan und Margot wechseln einen raschen Blick. Tatsache ist, dass der Amnesiekranke nicht jedes Mal gleich auf den Händedruck reagiert hat. Sein Verhalten hat sich durch den ‚derben Händedruck‘ teilweise verändert, auch wenn er die besonderen Bedingungen dieses Händedrucks vergessen hat.
Auf der Damentoilette, zu der sie flieht, sobald sie kann, zittert Margot vor Aufregung über diesen Befund. Eine wichtige Entdeckung! (…) Ein Teil des Gehirns funktioniert wie das Gedächtnis. Das widerspricht den gängigen Annahmen, ist aber so. (…) Sagt zu ihrem Gesicht im Spiegel: ‚Oh, Gott. Was tun wir ihm an. Was tue ich ihm an. Eli! Möge Gott mir verzeihen.‘“ (S. 75/76)

Der Roman geht eindrücklich auf Fragen der Identität und der Komplexität des menschlichen Gehirns ein. Wer bin ich, wenn ich nicht weiß, wer ich war? Gibt es andere Formen des Erinnerns, als das, was ich mit Worten wiedergeben kann? Offenbar gibt es ein emotionales und ein körperliches Gedächtnis. Welche sichtbaren Emotionen und Reaktionen eines Hirngeschädigten sind echt? Spielt er vielleicht nur etwas vor, um Erwartungen anderer zu erfüllen, auf die er angewiesen ist? Fragen der wissenschaftlichen Ethik stellen sich. Es wird deutlich, dass menschliche Reaktionen der individuellen Interpretation unterliegen. Sieht ein Wissenschaftler das, was er sehen will?

Vorbild für die Gestalt des Elihu Hoopes ist der Amerikaner Henry Gustav Molaison (1926-2008), der allerdings nicht durch eine Infektion, sondern durch eine operative Durchtrennung von Hirnregionen eine Amnesie erlitt. Ab der 1940er Jahre wurden derartige Operationen bei Epileptikern durchgeführt, um Krampfanfälle zu vermeiden. Lange vor Erfindung des MRT war die Kenntnis über die verschiedenen Hirnregionen noch gering, so dass man den angerichteten Schaden unterschätzte. Der Proband wurde tatsächlich 30 Jahre lang von Wissenschaftlern getestet, insbesondere durch die Ärztin Brenda Miller, die für ihre Arbeit diverse Forschungspreise gewann.

Das Thema dieses Romans ist ausgesprochen spannend. Ein Extremfall wie der des Elihu Hoopes macht erst deutlich, wie sehr wir für die Identitätsbildung auf Erinnerungen angewiesen sind. Wir basteln uns unsere Biografie und Geschichte aus Erinnerungen zusammen, die sich offenbar über den Verlauf des Lebens hinweg stets neu verfestigen müssen, um Sinn zu machen. Eine subjektive Bewertung aktueller Ereignisse ist uns nur möglich, wenn wir sie in einen Kontext einsortieren können.

Interessant geschildert ist die Figur der Wissenschaftlerin Margot Sharpe. Sie ist die erste Frau, die eine nennenswerte Position an einer Universität in ihrem Fach erlangt. Dafür zahlt sie einen hohen Preis. Einerseits wird sie von männlichen Kollegen ausgebeutet, andererseits sind ihr normale Beziehungen zu Männern neben ihrer Arbeit kaum möglich. Ihre intelligente, scharfsinnige Art schreckt so manchen Mann ab, der eher eine liebe kleine Hausfrau heiraten möchte. Ihre Einsamkeit ist erschreckend. Mehr und mehr wird Elihu Hoopes ihr Lebensinhalt, von dem sie so abhängig zu sein scheint wie er von ihr.

Der Roman hat hier und da ein paar Längen, auch weil sich Situationen notwendigerweise wiederholen. Das Eingeperrtsein in der Leere des Jetzt, in dem alles scheinbar zum ersten Mal geschieht, ist ja gerade Teil der Geschichte. Dennoch ist das Buch sehr lesenswert und macht nachdenklich.

Ständig im Hier und Jetzt zu sein, ist nicht so erstrebenswert, wie es scheint. Die Tiefe menschlicher Gefühle und Gedanken bleibt ein Mysterium, dem man in diesem Roman gut nachspüren kann. Lesenswert!

Der Mann ohne Schatten, Joyce Carol Oates, aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, 381 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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