„Emmas Einhorn“ zeigt die Heldin der Geschichte mit Wind im Haar und flatterndem Karo-Rock nebst zartem Begleiter mit ellenlangem Federbuschel-Schweif – ein wenig wie in „Das letzte Einhorn“ – an einem Ginster-bewachsenen Zaun, frohgemut in die Ferne schauend. Das Cover erfasst das Thema des Buches gut. Die Geschichte rankt sich – so alltäglich sie scheint – um eine zentrale Erfahrung im Leben kleiner (aber auch großer) Menschen. Was tun, wenn man die bisher bekannte Welt hinter sich lassen muss? Wenn eine Veränderung, eine neue Ferne uns buchstäblich zu neuen Ufern führt? Wir begleiten Emma bei ihrem Umzug in ein neues Haus, in dem sie zu Beginn ebenso wie in der Heidelandschaft etwas verloren wirkt. Emma ist als Ich-Erzählerin so nahbar und echt entwickelt, dass meine Tochter sie sofort als Alter Ego liebte. Beide sind etwa 5 Jahre alt.
Bei ihren ersten Erkundungen findet Emma ein kleines, verloren gegangenes Einhorn-Baby, dessen sie sich annimmt und das sie gemeinsam mit ihrer Oma umsorgt – die sich aus ihrer eigenen Kindheit gut mit Einhörnern auskennt. Und so erleben wir, wie Emma das Einhorn mit Blumen versorgt (denn nur diese frisst es), wie sie die Umzugskartons durchwühlt, um ein gemütliches zu Hause zu schaffen, wie sie ihm Trost spendet und dabei selbst Trost findet. Das Wunder geschieht hier nicht über die Zauberkraft des Einhorns, sondern durch Emmas Liebe und Fürsorglichkeit. Wir begleiten die beiden durch den Wechsel der Jahreszeiten, beim Erkunden des Sternenhimmels, der Natur, des Meeres. Ob am Kamin, beim Plätzchen Backen und Weihnachtsbaum schmücken – die beiden eignen sich das neue Zuhause an, sie machen sich mit diesem und miteinander vertraut. Und gleichzeitig lernen beide, dass es auch eine Zeit gibt, wieder loszulassen:
„Wir liebten es, die Wellen am Strand zu jagen. Der weiße Schaum sah aus wie Einhörner, die heranrauschten, um gleich wieder am Strand zu verschwinden.“
Dass dieses Abschiednehmen und Loslassen gelingen kann, zeigt diese zarte Geschichte um die Kraft der Freundschaft und des sich Neu-Gewöhnens auf das Schönste. Als die Familie des kleinen Einhorns im Frühling zurückkehrt, ist es Zeit, sich zu verabschieden. Und Emma und dem kleinen Einhorn gelingt dies gerade durch ihre Verbundenheit. Sie sind gemeinsam gewachsen, um dann – zur rechten Zeit – jede auf ihrem eigenen Weg weitergehen zu können.
Die kleine Parabel verwebt die zeitlose Sprache und Thematik mit traumhaft-schönen entrückten Zeichnungen einer stilisierten irisch-schottischen Landschaft, die uns in gedeckten Farben entgegentritt und mich mit ihrer wilden Schönheit stets aufs Neue begeistert, im Buch wie in Realität. Die Highlands mit ihrer rauen Natur werden mit Heidekraut, Ginster, Fels und Hügel anrührend schön im Zeitverlauf eingefangen. Emma, ein ganz normales liebenswertes Mädchen, passt sich mit Norweger-Pulli, Strickjäckchen oder handfestem Anorak dort gut ein. Eine Welt, von der nicht nur kleine, sondern auch große Leserinnen und Leser und Menschen, die keine Einhörner mögen, berührt sein werden.
Meine Tochter fragte mich am Schluss des Buches: „Ist das Einhorn denn wirklich da oder nur in Emmas Kopf?“ Tja. Für Emma ist es wirklich da. Das ist, was zählt.
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Emmas Einhorn, Briony May Smith (Text und Illustrationen), aus dem Englischen übersetzt von Steffi Kress, Esslinger Verlag, Stuttgart 2021, 48 Seiten, 15,00 EUR
(Die Rechte am Coverbild liegen beim Verlag.)
Die Buch-Lady dankt Claudia Gerhardt herzlich für ihre Gastrezension!
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