So viel hatte ich gehört und gelesen über diesen epochalen Roman. So lange bin ich herumgeschlichen um diesen Ziegelstein von einem Buch mit seinen über tausend Seiten. Im Rahmen des diesjährigen #dickeBücherCamps auf Instagram habe ich die Gelegenheit ergriffen und meinen wahrscheinlich bisher längsten Roman gelesen. Es hat sich gelohnt.
Nino Haratischwili, selbst gebürtige Georgierin, nimmt sechs Generationen der georgischen Familie Jaschi in den Blick. Acht Personen wird ein eigener Abschnitt gewidmet (in denen die jeweils anderen Familienmitglieder alle weiterhin vorkommen). Ein Stammbaum im hinteren Buchdeckel hilft bei der Orientierung.
So bewegen wir uns durch Georgiens bewegte Geschichte über mehr als ein Jahrhundert, beginnend mit der Geburt von Anastasia, genannt Stasia im Jahr 1900. Wunderbarerweise ist sie die Tochter eines Schokoladenfabrikanten. Dieser hat sein Handwerk in verschiedenen Orten der Welt gelernt, darunter Wien, und hat seine ganz eigene Schokoladenrezeptur entwickelt. Das Rezept wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet und nur jeweils einem besonders vertrauenswürdigen Familienmitglied der nächsten Generation weitergegeben. Insbesondere die überirdisch köstliche heiße Trinkschokolade nach dem Spezialrezept hat es in sich. Nie wurde sie an Fremde verkauft. Wer sie verzehrt, den können Fluch und Unheil treffen. So begleitet die Köstlichkeit uns durch den ganzen Roman.
Ich habe viel über die Geschichte der Region gelernt, musste aber teilweise im Internet recherchieren, um alle historischen Zusammenhänge und Personen richtig einordnen zu können. Georgien befand sich seit langem im Spannungsverhältnis zum großen Nachbarn Russland und wird nach der russischen Revolution 1917 Teil der Sowjetunion. Deren Zerfall erleben wir in den späteren Abschnitten des Buches auch noch mit und landen im 21. Jahrhundert.
Wie immer gibt es Nutznießer und Verlierer des politischen Systems. Auch innerhalb der Familie verlaufen die Risse zwischen diesen beiden Gruppen. Da gibt es diejenigen, die fest an den Kommunismus und die Sowjetunion glauben oder zumindest die Regeln dieses Systems uneingeschränkt befolgen. Dadurch erlangen sie staatliche Positionen, Ansehen und Geld. Andere möchten mit Politik nicht viel zu tun haben oder hegen kritische Ideen, zumindest im Angesicht der rohen Gewalt, die vom System ausgeht. Willkür ist an der Tagesordnung, Exempel werden statuiert, es gibt Arbeitslager und Folter, welche Menschen brechen und ermorden. Wie die Menschen verschiedener Generationen mit dieser Situation umgehen ist unterschiedlich. Deutlich wird aber, dass die Vorfahren einen bleibenden Einfluss auf die nachfolgenden Generationen haben, im positiven wie im negativen Sinne. Diese Verflechtungen, Erwartungen und Abgrenzungen deutlich zu machen, gelingt der Autorin sehr gut.
„- Hören Sie, ich weiß nicht, was mein Vater Ihnen über mich erzählt hat. Aber es stimmt bestimmt nicht. Ich weiß nicht, was er Ihnen versprochen hat, aber auch das kann ich sicherlich nicht einhalten. Ich riskiere gern Ihren und meines Vaters Zorn, aber ich habe nicht vor, Ihnen etwas vorzumachen. Ich werde Sie nicht lieben. Warum lachen Sie schon wieder?
- Sie sind noch besser, als Ihr Vater Sie beschrieben hat.
- Was hat er Ihnen versprochen?
- Nichts. Er hat nur gesagt, dass ich Sie ab und zu besuchen darf.“ (S. 41)
Etwas frustrierend empfand ich den über ein Jahrhundert sich wiederholenden Strang von Gewalt, zusammenbrechenden Systemen, Leid und Unfreiheit. Es scheint kein Entrinnen zu geben von den starken Gegensätzen und tiefen Verletzungen, weder nach der Revolution, noch nach dem 2. Weltkrieg und dem Tod Stalins, noch mit dem Beginn der Perestroika. Genau das darzustellen scheint mir ein Kernanliegen des Romans zu sein. Teile des Buches sind nichts für schwache Nerven. Die Schlacht um Stalingrad oder der Terror von geheimdienstlichen Verhörsmethoden werden realistisch mitfühlbar geschildert. Aber auch die Hoffnung der jeweils jungen Generation auf ein besseres, friedlicheres Leben schwingt mit. Ich habe den Ost-West-Konflikt noch nie aus der Ostperspektive gelesen. Das war eine gute neue Erfahrung. Zum „Lieblingsbuch“, das dieser Roman für viele Leserinnen geworden ist, hat es bei mir allerdings nicht gereicht. Dazu fand ich insbesondere die Frauengestalten über die Generationen hinweg zu ähnlich.
Ein Familienepos zwischen rauschhaftem Schokoladengenuss und Gulag, ein Ritt durch über hundert Jahre der Geschichte Georgiens und Russlands mit vielen unterschiedlichen Charakteren, der die Lesezeit lohnt. Macht Euch auf ins #dickeBücherCamp!
Das achte Leben (für Brilka), Nino Haratischwili, Ullstein Verlag, Berlin 2017, 1282 Seiten, 18,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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