Gestern habe ich Euch die Geschichte vom „Glückskind“ vorgestellt, dem Baby, das von einem älteren Mann im Müll gefunden wurde. Das Glückskind hieß Chiara. Und natürlich ist sie älter geworden. Wie ist es ihr ergangen?
Die sechsjährige Chiara lebt bei ihrer Mama, zusammen mit ihren älteren Geschwistern Frido und Mira. Ihr Papa hat eine neue Frau und ein Baby. Chiaras Mutter fühlt sich oft überfordert von ihrer Arbeit in einer Arztpraxis und den drei Kindern. Was hat das Leben für einen Sinn, wenn es nur aus Arbeit besteht? So ist es oft der zwölfjährige Frido, der sich um die beiden kleinen Schwestern kümmern muss. Damit Chiara einschlafen kann, erzählt Frido ihr abends manchmal Geschichten. Eines Tages erzählt Frido von einem kleinen Mädchen namens Marie, das von jemandem in einen Müllcontainer geworfen wurde. Aber Marie hat überlebt, weil da dieser alte Mann war. Der Mann sieht so aus, wie der Mann, der im Lotto-Toto-Laden arbeitet, an dem Frido auf seinem Schulweg vorbeikommt. Chiara ist fasziniert von dieser Geschichte. Als sie ihren Bruder fragt, woher er die Geschichte hat, sagt Frido schnell, sie habe in der Zeitung gestanden. Das stimmt – und ist doch nicht ganz wahr.
„Sie erzählt von der großen Pause, als sie mit den Jungen Nachlaufen gespielt haben, und weiß immer noch genau, welcher Junge welches Mädchen gefangen hat. Sie hört gar nicht auf zu erzählen und fühlt sich sehr wohl. Plötzlich aber brüllt Veronika Kelber ihr aus nächster Nähe ins Ohr: „Jetzt halt doch mal den Mund!“ Chiara ist so verdutzt, dass sie zunächst gehorcht. Dann beginnt sie leise zu weinen. Als Veronika das sieht, schmeißt sie den Waschlappen wütend auf den Boden und verlässt das Bad. (S. 50)
Die Geschichte, die dieser Roman erzählt, spielt sich jeden Tag in vielen deutschen Haushalten ab. Nicht der Teil mit der Mülltonne, aber der Alltag überforderter Eltern, die die Grundbedürfnisse ihrer Kinder nicht im Ansatz erfüllen können. Manchmal sehen sie diese Bedürfnisse sogar, aber ihre Kraft reicht einfach nicht aus. Alltägliche kleine und auch größere Katastrophen passieren, die Kinder allein gewältigen müssen. Aber da erweist sich in diesem Roman die Vorgeschichte mit dem Baby im Müll als Glücksfall, denn schließlich ist Chiara ein Glückskind. Sie kommt der Vergangenheit nicht wirklich auf die Spur, aber sie kommt ihr doch so nahe, dass sie ein zweites Mal „gefunden“ wird. Und so ist auch diese Geschichte nicht ausschließlich trostlos, sondern auch hoffnungsvoll. Sie erzählt von rührender Geschwisterliebe und den unglaublichen Kräften, die in Kindern stecken, sowie von Hilfe, die irgendwann doch kommt. Ich fand diesen Roman schmerzvoller als den ersten, leider sehr realistisch, aber auch sehr spannend. Und am Ende habe ich mich mit den drei Kindern gefreut und konnte sie gut gehen lassen.
Ein Familiendrama von Vernachlässigung und Überforderung, wie es jeden Tag passiert und dadurch sehr anrührt. Manches ist harter Tobak, aber zum Glück sind so viel Liebe und Hoffnung dabei, dass man das Buch vom sechsjährigen Glückskind gut lesen kann.
Marie, Steven Uhly, Secession Verlag, Zürich 2016, 272 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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