Sonntag, 9. Mai 2021

Daheim, Judith Hermann

Dieses Buch hat mich zuerst ratlos und beklommen zurückgelassen. Und mit dem Gefühl, als hätte ich beim Lesen wesentliche Teile übersehen. Glücklicherweise nehme ich an einer moderierten Leserunde im Literaturhaus Hamburg zu diesem Buch teil. Aufgrund der uns vorgelegten Diskussionsfragen habe ich das Buch sodann ein zweites Mal gelesen. Nun weiß ich, um was für ein vielschichtiges Werk es sich handelt, in dem jedes einzelne Wort mit Bedacht gewählt wurde. Und mir wurde klar, dass ich auch jetzt noch nicht jede Bedeutung erfasst habe.

Es ist mein erstes Buch der Berlinerin Judith Hermann, Jahrgang 1970, die mit diesem Roman nominiert ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021.

„Daheim“ – schon der Titel ist eigentlich Ironie. Denn ich habe selten so viele unbehauste Figuren erlebt, die so wenig an einem Ort oder in sich selbst daheim waren. Im Zentrum steht eine namenslose Ich-Erzählerin von 47 Jahren, die ihren Mann Otis verlassen hat, nachdem die gemeinsame Tochter Ann ausgezogen war, und allein von der Stadt aufs Land, ans Meer gezogen ist. In der rauen, kargen Landschaft, die unbenannt ist, aber an die Nordseeküste erinnert, lebt sie außerhalb eines Dorfes, weil sie allein sein will. Sie arbeitet in der Gastwirtschaft ihres älteren Bruders Sascha im Dorf. Sie lernt ihre Nachbarin Mimi und deren Bruder, den wortkargen Schweinezüchter Arild kennen. Viele der Personen scheinen so sehr in sich verstrickt zu sein, dass ihnen der echte Kontakt, der Aufbau von Beziehungen zu anderen Menschen schwerfällt. Nur Mimi, die in der Gegend geboren ist, ruht in sich selbst und begibt sich ohne Umschweife in das Leben der Protagonistin, die noch gar nicht so recht weiß, ob ihr das recht ist. Eigentlich will sie an diesem Ort nicht bleiben, mit niemandem in Verbindung gebracht werden, sich nicht verwurzeln.

Das Buch beginnt mit einer Begebenheit, die der Erzählerin vor 30 Jahren passiert ist und die das Leitmotiv für das gesamte Buch setzt. Ein Zauberer hatte sie angesprochen, weil er eine neue Assistentin suchte, um mit ihr den Trick „Die zersägte Jungfrau“ vorzuführen. Er hatte der Protagonistin angeboten, mit ihm und seiner Ehefrau für drei Monate auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur zu fahren, um auf dem Schiff Vorführungen zu geben. Sie hatte es damals ausprobiert, sich in die Kiste des Zauberers zu legen, sich dann aber dagegen entschieden auf die Reise zu gehen. Sie wird das Gefühl nicht los, damals in der Kiste ein Stück von sich zurückgelassen zu haben, das ihr bis heute fehlt.

Und schon sind wir mittendrin. Das Motiv der Kiste, die offen oder verschlossen sein kann, begegnet uns in verschiedenster Form immer wieder, etwa in einer Marderfalle oder einem verschlossenen Zimmer. Die Kiste steht für eine Transformation, einen Richtungswechsel, sich dem Leben und seinen Aufgaben stellen. „Die zersägte Jungfrau“ wird kontrastiert mit Mimis Erzählung der Sage einer Nixe.

„Fraglich, sage ich, warum diese Meerjungfrau das Wappen der Region zieren muss.

Nixe, sagt Mimi, nenn sie Nixe. Die Meerjungfrau ist erlösungsbedürftig, die Nixe ist es nicht.“ (S. 94)

Wir begegnen nicht nur Anspielungen auf Sagengestalten wie der Medusa oder Hetäre, sondern auch vielen Referenzen an Oper, Literatur und Film. Sobald ein Buch auf einem Tisch liegt, dessen Titel genannt wird, sollte die Leserin diesem Hinweis nachgehen, auch wenn er in der Situation keine Rolle zu spielen scheint. Die Orte der Geschichte sind keineswegs zufällig gewählt. Die Erzählerin arbeitet zu Beginn in einer Zigarettenfabrik. Blitzt da die Opernfigur Carmen durch? Die Tochter Ann befindet sich auf einer Reise mit dem Boot auf dem Meer und scheint niemals anzukommen. Ist sie eine Art „Fliegende Holländerin“?

Der Roman beleuchtet das Erzählen und das Erinnern, die Einsamkeit, die Angst und die Wahlmöglichkeiten bis hin zur Identität der Menschen.

„Ich denke, ich könnte eine andere sein, als die, die ich bin. Ich könnte auch eine sein, die jeden Morgen drei harte Eier zum Frühstück isst und dabei in einer Zeitung liest, in der es keine schlechten Nachrichten gibt, und ich staune darüber, dass ich tatsächlich immer noch glaube, entscheiden zu können, wer ich sein will und sein könnte.“ (S. 116)

Die Erzählerin macht eine Entwicklung durch, dort am Meer. Sie beginnt sich freizuschwimmen, einige Kisten zu öffnen, begibt sich zaghaft in neue Beziehungen zu Menschen. Dabei scheint die Temperatur eine Rolle zu spielen, weil in bestimmten Situationen eine unerträgliche Hitze herrscht, während in anderen Kälte sich einstellt. Das Ausbleiben des Regens nimmt die menschliche Abhängigkeit von Wetter und Umwelt mit in den weiten Blick über das flache Land an der Küste.

Ich bin beeindruckt von diesem Roman mit seiner unkomplizierten, schnörkellosen Sprache. Das kurze Buch lässt sich leicht weglesen, täuscht dabei aber leicht über seine Tiefe hinweg. Bis hin zur befürchteten Apokalypse ist alles dabei, was Menschen bewegt. Vieles bleibt ungesagt und scheint zwischen den Zeilen auf. Es bleibt eine große Projektionsfläche für die Leserin.

Ein großes Stück Literatur voller einsamer Menschen mit einer Erzählerin auf dem Weg zu sich selbst. Ein Buch voller Atmosphäre und Melancholie und voller Kästen, die das Öffnen lohnen.

Daheim, Judith Hermann, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 192 Seiten, 21,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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