Freitag, 2. April 2021

Der silberne Elefant, Jemma Wayne

Der kleine silberne Elefant steht in Lynns Haus in London, stammt aber ursprünglich aus Afrika. Lynn ist früh verwitwet, hat zwei erwachsene Söhne und ist mit Ende fünfzig final an Krebs erkrankt. Sie weiß, dass sie bald sterben wird und hadert mit ihrem Leben, das von Mutterschaft und ihrem Dasein für die Familie geprägt war. Sie sucht nach einem Weg, ihr Leben dennoch ohne Bitterkeit beenden zu können.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist die junge Frau Emilienne, genannt Emily, die als Überlebende des Völkermords in Ruanda nach London geflohen ist. Sie ist traumatisiert von den erlebten Greultaten und dem Verlust ihrer Familie, unfähig darüber zu sprechen und sucht jeden Tag verzweifelt nach einem Minimum an Sicherheitsgefühl. Sie begegnet Lynn und ihrer Familie, wo sie auch den silbernen Elefanten erblickt.

Einer von Lynns Söhnen, Luke, ist mit Vera befreundet. Nach einem ausschweifenden Leben, von dem Luke nichts ahnt, hat sie in dem streng religiösen Luke einen Ruhepol gefunden. Doch ihr fällt es nicht leicht einen Zugang zum Glauben zu finden, da sie schwer an einer Schuld trägt, von der sie Luke nicht zu erzählen wagt. Lukes Mutter Lynn erscheint ihr kühl und abschätzig.

So unterschiedlich die Lebenssituationen der drei Frauen sind, verbindet sie, dass sie einen großen Kummer haben, den sie niemandem mitteilen können. Alle drei sind auf der Suche nach ihrem wahren Selbst, das sie nicht zu spüren wagen oder nicht akzeptieren können. Sich ihren inneren Schatten zu stellen, erfordert enormen Mut und Kraft. Fraglich ist, ob das Kreuzen ihrer Lebenswege hierbei hilfreich sein kann oder nicht.

Das Leben der drei Frauen ist stark geprägt von ihren Beziehungen zu Männern, jetzigen ebenso wie vergangenen. Während wir im Verlauf des Romans bei den drei Frauen starke Entwicklungen verfolgen können, kommen die Männer eher weniger gut weg. Zu egoistisch und wenig einfühlsam erscheinen sie angesichts des Leidens der Frauen, ganz zu schweigen von den Ruandischen Mördern.

Triggerwarnung! Die beeindruckendste Figur des Romans, Emilienne, erinnert sich im Verlauf der Geschichte an den brutalen Völkermord an den Tutsi. Dieser wird nicht ausschweifend, aber realistisch geschildert und ist teilweise schwer zu ertragen. Vergewaltigung und Mord werden thematisiert. Historischen Hintergrund liefert der Roman nicht. (Ein Vor- oder Nachwort dazu wäre hilfreich gewesen.) Diesen sollte man sich in groben Zügen daneben kurz anlesen. Es ist ein wichtiges Thema, das in Europa bislang viel zu wenig diskutiert wurde, obwohl der Völkermord u.a. in der früheren europäischen Kolonialpolitik seine Ursache hat. Deshalb habe ich mich bewusst diesen Schilderungen gestellt. Man kann die wenigen Seiten mit expliziten Schilderungen zur Not aber überblättern und den Roman trotzdem verstehen.

„Emily begann zu weinen.

Manchmal überkam es sie ganz langsam, sodass ihr noch genügend Zeit blieb, um sich eine Tasse süßen Tee zu machen, ein Bad einzulassen oder im Fernsehen nach Ablenkung zu suchen. Dann wieder überfiel es sie wie jetzt ganz plötzlich. Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf die heißen Tränen ein, die ihr über die Wangen strömten, doch das ließ sie nur umso heftiger fließen.“ (S. 17)

Vorherrschendes Thema des Romans ist nicht die politische Lage in Ruanda, sondern die Frage, wie frau mit schlimmen Erlebnissen und Erfahrungen weiterleben und sie integrieren kann. Dies kommt im englischen Originaltitel „After Before“ besser zum Ausdruck. Es geht um das Danach. Selbst nach einer so traumatischen Erfahrung wie dem Völkermord ist das Leben nicht zuende, erfordert aber einen großen seelischen Prozess, der sehr nachvollziehbar geschildert wird. Emiliennes extremes Leiden wird nicht mit den Erfahrungen der beiden anderen Frauen gleichgesetzt. Der Roman zeigt einfach drei verschiedene Frauen, die sich auf schmerzhafte Weise ihrem Leben und ihrer Identität stellen müssen, um heil zu werden.

Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt. Die Frauenfiguren sind mit all ihren Widersprüchen gut ausgearbeitet. Nicht immer konnte ich ihr Verhalten nachvollziehen, sie sind unperfekte Menschen. Auch gibt es zwei sehr überraschende Wendungen in der Handlung, die ich wenig realistisch fand, die der Geschichte aber neuen Schub verleihen. Das tut dem Roman als ganzem aber keinen Abbruch. Ich habe eine sehr lebhafte Diskussion über das Buch in einem Onlinelesekreis geführt, in dem die sehr vielfältigen Themen und Aspekte der Geschichte zutage traten, u.a. Religiosität, Tod und Mutterschaft. Wir haben uns sehr an den einzelnen Figuren gerieben. Die Stärke des Buches liegt im Anregen solcher Gedanken und Diskussionen. Wir hatten zu Beginn des Buches ganz wunderbare Ideen, wie die Geschichte weitergehen könnte, was aus einzelnen Andeutungen (z.B. über den Elefanten) noch werden könnte, die der Roman dann nicht geliefert hat. Das hat solchen Spaß gemacht, dass ich nur dazu raten kann, das Buch bereits mittendrin und nicht erst nach vollständiger Lektüre mit anderen zu besprechen.

Der silberne Elefant ist berührend, verstörend, anregend und reizt zum Widerspruch. Er bringt den viel zu wenig beachteten Völkermord in Ruanda in die Diskussion und zeigt uns drei Frauen im Kampf um ein authentisches Leben. Das Buch macht Mut zur Auseinandersetzung mit sich selbst.

Der silberne Elefant, Jemma Wayne, aus dem Englischen übersetzt von Ursula C. Sturm, Eisele Verlag, München 2021, 432 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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