Sonntag, 7. Februar 2021

Straße der Kindheit, Tove Ditlevsen

Dieser autobiografische Roman gehört zu den bekanntesten Werken der Dänin Tove Ditlevsen (1917-1976). Es ist besonders interessant, ihn der gerade neuübersetzten Kopenhagen-Trilogie der Autorin gegenüberzustellen (siehe meine Rezension zu „Kindheit“). „Straße der Kindheit“ erschien auf Dänisch erstmals 1943, wurde aber erst 1962 auf Deutsch veröffentlicht.

Ester lebt mit ihren Eltern und dem älteren Bruder Carl im Hinterhaus im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro. Der Roman beschreibt in drei Teilen die Kindheit, Jugend und das frühe Erwachsenenleben Esters. Dabei kommt der Straße, in der sie aufwächst, eine besondere Bedeutung zu. Sie wird wie ein lebendiges Wesen geschildert und steht für die Herkunft, das Milieu und die Prägung, die das Aufwachsen in dieser Straße mit sich bringen.

„Die Straße schläft nie. Ihr großes, unruhiges Herz schlägt wohl nicht so heftig wie am Tage, aber es ist, als wäre es nachts doppelt auf der Hut. Sie reckt die weichen Tatzen und paßt auf die Jugend auf. Ach, Straße! geliebtes Raubtier! wir haben deinen Geruch in unseren Sachen, wir verkriechen uns in deinen tausend Höhlen und schmiegen uns zärtlich in deine Pranken. Und doch schlägst und zerfetzt du uns vielleicht, weil du zu scheu bist, uns zu zeigen, wie sehr du uns liebst.“ (S. 27)

Die Handlung des ersten Teils gleicht inhaltlich stark dem ersten Teil der Kopenhagen-Trilogie „Kindheit“, ist jedoch ausführlicher und in einem deutlich anderen Sprachstil geschrieben. Während „Kindheit“ stark verdichtet ist und Schlaglichter auf einzelne Szenen wirft, wird hier klassisch romanhaft erzählt, als handele es sich bei Ester um eine fremde Person. In der Zusammenschau zeigt sich jedoch, wie stark autobiografisch geprägt vor allem dieser erste Teil ist. Geschildert werden die kärglichen Verhältnisse einer Arbeiterfamilie in den 1920er/30er Jahren. Ester schläft noch als Teenager auf einem Feldbett im Elternschlafzimmer, der ältere Bruder auf dem Diwan in der Wohnküche. Geheizt wird mit Koks, der von Ester aus dem Keller geholt werden muss. Im Vordergrund steht die Einsamkeit des Mädchens. Zwar leiden alle Familienmitglieder unter der Enge und darunter, nie allein sein zu können. Doch gibt es für Ester keine wirkliche innere Gemeinschaft und Verständnis, auch nicht mit Gleichaltrigen. Sie beschreibt eine unglückliche Kindheit, in der sie sich stets unverstanden fühlt und jeden Sinn vermisst.

Im zweiten Teil muss Ester nach ihrer Konfirmation mit vierzehn Jahren die Schule verlassen und beginnt als Hausmädchen in einer Pension zu arbeiten. Die schlechten Arbeitsbedingungen werden thematisiert. Abweichend von der Realität der Autorin ist es im Roman der ältere Bruder Carl, der heimlich Gedichte schreibt und schließlich ein veröffentlichter Autor wird. Er ist der Stolz seiner Eltern, obwohl diese sich nicht einmal die Mühe machen, seinen Roman zu lesen. Erste romantische Annäherungen geschehen, bei der die Naivität der nicht aufgeklärten Ester geradezu rührend ist.

Der dritte Teil des Romans widmet sich dem frühen Erwachsenenalter, in dem Ester schließlich zum Kontorfräulein aufsteigt. Es wird deutlich, dass Heirat der einzige Ausweg aus der Armut ist und die Aufstiegschancen für berufstätige, ledige Frauen sehr bescheiden sind. Dass eine Frau sogleich bei Heirat ihre Erwerbstätigkeit aufgibt, sofern dies wirtschaftlich irgend möglich ist, versteht sich von selbst. Ester hadert mit diesen Umständen. Sie verliebt sich in einen intellektuellen Mann und sehnt sich unendlich nach Zärtlichkeit und Liebe um ihrer selbst willen. Sie kann jedoch ihre Herkunft weder verleugnen noch innerlich ablegen, so dass es zur Katastrophe kommen muss.

Tove Ditlevsen behandelt in sehr eindringlicher Weise ein typisches Frauenleben ihrer Zeit. Schon Kinder müssen kräftig mitanpacken, für Zärtlichkeiten ist keine Zeit. Die Armut bestimmt den Alltag. Besonders anrührend sind aber die Worte und Bilder, die die Autorin für die innere Leere findet, mit der das sensible Mädchen Ester kämpft. Sie liebt und sie hasst die Straße ihrer Kindheit. Das Bekannte, das sie einerseits beschützt, macht sie aber andererseits bis zur Selbstzerstörung bedürftig. Das Elend ist vorhersehbar und dennoch unabwendbar. Während die Männer die ewig gleichen, zermürbenden Arbeitstage im Alkohol ersäufen, müssen die Frauen sich mit dem ihnen zugewiesenen noch geringeren Platz abfinden und diesen dadurch verklären, dass ein Mann sie zur Heirat gewählt hat. Liebe zu erwarten, wäre bereits vermessen. Das Buch ist ein Zeitzeugnis des Arbeitermilieus vor dem 2. Weltkrieg.

Ein eindringliches Buch über Herkunft, Klasse und Einsamkeit. Die unendliche Sehnsucht nach einem besseren Leben bedeutet aber noch nicht, dass jeder dieses auch aushalten kann.

Straße der Kindheit, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Bernhard Jolles, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1962, 280 Seiten (antiquarisch)

(Die Rechte an der Covergestaltung liegen beim Verlag.)

1 Kommentar:

  1. hey! ich versuche überall "Straße der Kindheit" von Tove Ditlevsen zu finden, aber es scheint auch in allen Antiquariaten vergriffen... Hast du eine Ahnung, wo ich es herbekommen könnte? Melde dich gerne unter alinafluck@gmx.de bei mir.

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