Mittwoch, 13. Januar 2021

The Midnight Library, Matt Haig

Um Mitternacht in eine Bibliothek zu gehen, wäre für sich schon schön. Nora aber betritt eine wirklich schicksalhafte Bibliothek um Mitternacht des Tages, an dem sie beschlossen hatte zu sterben. Die in Hoffnungslosigkeit beginnende Geschichte entpuppt sich bald als optimistische Geschichte der Möglichkeiten.

Nora lebt allein mit ihrer Katze und befürchtet, bald ihren Job als Verkäuferin zu verlieren. Sie blickt mit Bedauern auf ihr Leben und wünscht sich oft, sie hätte manches anders gemacht. Erschien ihr Leben nicht allerlei Potenzial zu haben, als sie noch ein Kind war? Wann und wo ist sie bloß falsch abgebogen? Jetzt scheint alles keinen Sinn mehr zu haben. Sie will Schluss machen.

Da steht Nora plötzlich in dieser riesigen Bibliothek, in der eine Bibliothekarin sie erwartet, die derjenigen ihrer früheren Schulbibliothek verdamm ähnlich sieht. Endlose Regalreihen sind mit grünen Büchern gefüllt. Jedes dieser Bücher enthält eine Lebensgeschichte, die Noras gewesen sein könnte, wenn sie andere Entscheidungen getroffen hätte. Sie darf einige von ihnen ausprobieren, eine bereute Entscheidung rückgängig machen und erleben, was dann passiert wäre. Wie aufregend! Jetzt wird sicher alles gut! Vielleicht findet Nora endlich ihr richtiges Leben, in dem sie alles richtig gemacht hat?

„Every life contains many millions of decisions. Some big, some small. But every time one decision is taken over another, the outcomes differ. An irreversible variation occurs, which in turn leads to further variations. These books are portals to all the lives you could be living.“ (S. 31)

Warmherzig und realistisch wird Nora geschildert, eine ganz normale junge Frau. Ihr Schmerz ist echt, ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben konnte ich sehr gut nachvollziehen. Die Erzählung hat mich in den Bann geschlagen und mich mitfiebern lassen mit Noras Reise zu sich selbst. Dieser unterhaltsame Roman widmet sich mit viel Tiefgang der Frage, „was wäre, wenn…?“ Lohnt es sich, Lebensentscheidungen zu bereuen? Was macht ein Leben wertvoll? Verpassen wir tatsächlich jeden Tag etwas? Ich kam nicht umhin, mir diese Fragen beim Lesen selbst zu stellen. Gemeinsam mit Nora wanderte ich einer hellen Erkenntnis entgegen, die mich sehr mit dem Leben versöhnt. Das Buch enthält eine wunderbare Botschaft, die uns gerade in Coronazeiten absehen lässt von den vermeintlich verpassten Chancen und der vergeblichen Lebenszeit.

The Midnight Library ist ein außergewöhnliches Buch, das große Lebensfragen in einen unterhaltsamen Roman verpackt. Das Bild einer Bibliothek für die Fülle der Möglichkeiten lässt dem Leser das Herz aufgehen. Der Roman ist ein absolutes Highlight und wird in meiner Hall of Fame der Lieblingsbücher einen Ehrenplatz bekommen.

The Midnight Library, Matt Haig, Canongate Books, Edinburgh 2020, 288 Seiten

(Die Rechte am Coverbild liegen beim Verlag.)

Zusatz-Info:

Das Buch wird auf Deutsch als „Die Mitternachtsbibliothek“ bei Droemer am 01.02.2021 erscheinen (Übersetzung von Sabine Hübner) und 20,00 EUR kosten.

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