Wir begegnen alten und jungen Menschen des Ortes, Ehepaaren und Familien, eben einem Querschnitt der Kleinstadtbevölkerung. Ihre Geschichten sind auf den ersten Blick wenig spektakulär. Da gibt es den Apotheker, der seit Jahrzehnten den Menschen ihre Pillen verkauft und sich seiner jungen Angestellten annimmt, die etwas naiv im Leben steht. Es gibt ein junges magersüchtiges Mädchen, das von der Liebe enttäuscht ist, ein Ehepaar, das sich verkriecht, nachdem der Sohn im Gefängnis gelandet ist oder die alleinstehende Frau in mittleren Jahren, die seit Ewigkeiten in der örtlichen Kneipe Klavier spielt ohne je ein eigenes Klavier besessen zu haben. Eine Hochzeit platzt, erwachsene Kinder ziehen weg, jemand wird alt und krank.
„Ich habe oft an dich gedacht, Kevin Coulson“, sagte sie. „Das kannst du mir glauben.“
Er schloss die Augen. Er hörte, wie sie ihr Gewicht verlagerte, wie die Steinchen auf der Gummimatte knirschten, als ihr Fuß darüberscharrte. Er wollte schon sagen: Ich will nicht, dass Sie an mich denken, als sie fortfuhr: „Ich habe deine Mutter immer gemocht.“ (…)
Er fragte sich, wie lange das wohl noch gehen sollte. Trotzdem, es bedeutete ihm etwas, dass sie seine Mutter gekannt hatte. In New York hatte sie keiner gekannt.
„Ich weiß nicht, ob du das wusstest, aber bei meinem Vater war es das Gleiche.“
„Was?“ Er runzelte die Stirn, fuhr sich mit dem Zeigefinger kurz zwischen den Lippen hindurch.
„Selbstmord.“ (Flut, S. 68/69)
In der Gesamtschau der Geschichten wird deutlich, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Das Leben ist für niemanden einfach. In der Kleinstadt kennt jeder jeden, zumindest von weitem, so dass die Geschichten mancher Personen miteinander verknüpft sind, obwohl jede der Episoden für sich allein und fast in beliebiger Reihenfolge gelesen werden könnte. Das Besondere an der Erzählweise ist, dass es keine Geschichte über die Titelgeberin Olive Kitteridge selbst gibt. Die pensionierte Mathematiklehrerein von Anfang Siebzig taucht in jeder Episode auf, so dass wir nach und nach immer mehr über ihr Leben erfahren, auch wenn sie nie im Mittelpunkt steht. Wir erleben sie im Kontrast zu oder in Interaktion mit anderen Personen, erkennen erst im Verlauf der Geschichte Muster in ihren Verhaltensweisen und können zum Ende hin einordnen, was für ein Mensch sie wohl ist.
Der Roman zeichnet den facettenreichen Charakter der pensionierten Lehrerin nach und ergibt gleichzeitig ein Panorama des engmaschigen Geflechts all der verschiedenen Menschen, die in der Kleinstadt leben. So entsteht bei der Leserin ein Gefühl für die Zeit, die Konventionen und die Stimmung des Ortes. Man erlebt die Kleinbürgerlichkeit, den Tratsch, aber auch den Zusammenhalt dieser Gemeinschaft.
Ein lesenswertes Buch mit raffinierter, mosaikartiger Erzählweise, dessen alltägliche Dramen sich eher leise abspielen und uns daran erinnern, was sich bei jedem unserer Nachbarn genau jetzt auch ereignen könnte. Ob wir hinschauen wollen, entscheiden wir selbst.
Mit Blick aufs Meer, Elizabeth Strout, aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Roth, btb Verlag, München 2014, 480 Seiten (Diese Geschenkausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich. Es gibt eine Taschenbuchausgabe von btb für 10,00 EUR.)
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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