Gleich nachdem ich „Der Report der Magd“ beendet hatte (vgl.
meine Rezension), musste ich die Fortsetzung „Die Zeuginnen“ lesen. Ich war
einfach zu gespannt darauf, was aus den Personen geworden ist. Genau das ist
auch der Grund, warum Margaret Atwood über 30 Jahre nach dem ersten Teil
überhaupt eine Fortsetzung geschrieben hat – die Leserinnen und Leser haben ihr
so viele Fragen zum weiteren Fortgang der Geschichte gestellt, dass sie sich
davon inspirieren ließ. So beschreibt sie es in der Danksagung am Schluss des
Buches (S. 569). Ich bin auch vom zweiten Teil begeistert! Damit stehe ich
nicht allein. Margaret Atwood hat 2019 für diesen Roman den Booker Prize
gewonnen.
Obwohl mehrere Jahrzehnte vergangen sind, bevor die Autorin
den zweiten Roman schrieb, schließen die beiden Teile in bemerkenswerter Weise an
einander an. Es gibt keinen Bruch im Stil, wenn auch die Darstellung der Geschichte
nun eine andere ist. Im „Report der Magd“ wird die ganze Geschichte von Desfred
erzählt. „Die Zeuginnen“ sind tatsächlich mehrere Frauen, die in Form einer
Zeugenaussage erzählen. Eine der Erzählerinnen ist Tante Lydia, die eine große
Rolle als „Gründerin“ im ersten Teil spielte. Gründerin wovon? Sie berichtet
uns, welche Rolle sie in der Entstehungszeit des Staates Gilead hatte. Inhaltlich
spielt die Geschichte etwa 15 Jahre nach dem Ende von „Der Report der Magd“.
Die anderen beiden Erzählerinnen sind zwei junge Frauen. Eine davon berichtet
in ihrer Aussage davon, wie es sich anfühlte in Gilead aufzuwachsen.
Während Desfred im ersten Teil beschreibt, wie es war in Gilead als Magd zu leben und die Auswirkungen des totalitären
Systems zu spüren, es aber nicht zu durchschauen, bekommen wir nun
Informationen über die wahren Machtstrukturen des Staates. Bereits aus dem
ersten Teil wissen wir, dass die Tanten einen großen Anteil an der (Um-)Erziehung
und Überwachung anderer Frauen hatten. Nutznießer des patriarchalen Systems schienen
jedoch weitgehend Männer zu sein. Die Rolle der Tanten wird nun weiter
ausgeleuchtet. Wer welche Strippen im Hintergrund gezogen hat und aus welcher
Motivation heraus, erzählt uns Tante Lydia. Auf die Rolle der Frauen wird
ein neues Licht geworfen.
„Wir glauben, dass ihr mit euren hohen Qualifikationen geeignet seid, mit uns gemeinsam das beklagenswerte Los der Frau zu verbessern, das durch die dekadente und korrupte Gesellschaftsform verursacht wurde, die wir gerade abschaffen.“ Er hielt inne. „Wollt ihr uns helfen?“ Diesmal entschied sich der ausgestreckte Finger für Helena.„Ja, Kommandant Judd“, sagte sie kaum hörbar.„Gut, Ihr seid intelligente Frauen. Aufgrund eurer vorhergehenden …“ Er wollte das Wort Berufe vermeiden. „Aufgrund eurer vorhergehenden Erfahrungen seid ihr vertraut mit dem Leben von Frauen. Ihr wisst, wie sie am ehesten denken, oder lasst es mich anders formulieren – wie sie am ehesten auf bestimmte Reize reagieren, sowohl positive als auch negative Reize. Insofern könnt ihr uns gute Dienste leisten – Dienste, die euch gewisse Vorteile sichern werden.“ (S. 244)
Hauptthema der „Zeuginnen“ ist der Widerstand gegen das
totalitäre Regime von Gilead, sowohl im Land selbst als auch vom Ausland aus. Wie
in jeder Diktatur organisieren sich Menschen im Geheimen, es gibt Spione und „Maulwürfe“,
Kuriere und Schlepper auf beiden Seiten der Grenze. Menschen versuchen aus der
Diktatur zu fliehen oder sie zu Fall zu bringen. Und wie überall gibt es auch Doppelagenten,
die diese Geschichte besonders spannend machen.
Erneut gelingt es Margaret Atwood die universelle Wirkweise von
Diktatur und Terror deutlich zu machen. Die Intellektuellen und Gebildeten der
vorherigen Gesellschaft sind die ersten, die entweder gehen oder eingebunden,
jedenfalls mundtot gemacht werden müssen, um ein totalitäres Regime zu
errichten. Folgende Grundregel des Romans benennt die Autorin: „Es dürfen nur Geschehnisse
vorkommen, die es in der Geschichte der Menschheit schon gegeben hat.“ (S. 570)
Diese Regel macht die erschreckende Realitätsnähe des Buches aus. Reizvoll sind
die ständigen Perspektivwechsel der erzählenden Personen. Der Leser ist emotional dicht dran an den Charakteren, sie sind lebensecht. Ihr Schicksal hat mich mitgenommen.
Ein gelungener
Nachfolger des Klassikers „Der Report der Magd“. Ein wichtiges, spannendes
Buch, das Spaß beim Lesen macht und nebenbei sehr lehrreich ist. Bin begeistert!
Die Zeuginnen, Margaret Atwood, aus dem Englischen von Monika
Baark, Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2019, 576 Seiten, 25,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen